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'Anwendungsorientierte Grundlagenforschung' - wird der Bastard Hätschelkind?

In Deutschland ist ein fataler Streit darüber ausgebrochen, ob Staat und Industrie erst eine Zukunft bestimmen und dann die dafür benötigte Forschung fördern oder ob sie nicht umgekehrt Wissenschaft um ihrer selbst willen unterstützen und dann fragen sollten, was mit den Ergebnissen zu machen sei.

Die Bundesregierung hält nicht nur den Geldbeutel gegenüber der Forschung zu. In der Hoffnung, die Industrie werde sich finanziell stärker engagieren, öffnet sie ihr auch den Weg in die öffentlich geförderte Wissenschaft. Die Unternehmen würden allerdings am liebsten ohne zu zahlen die für sie interessanten Forschungsergebnisse einfach abholen. So ist ein Gutachten zu interpretieren, das eine Kommission unter dem Vorsitz von Hartmut Weule von der Daimler Benz AG im Frühjahr dem Bundesforschungsminister zur besseren Zusammenarbeit zwischen Großforschungseinrichtungen (GFE) und Industrie vorgelegt hat; es zeigt, daß es vor allem darum geht, die Werkbank der Unternehmen in die öffentlichen Einrichtungen zu verlängern.

Das Papier bietet keine neuen thematischen Ansatzpunkte, sondern erklärt einfach, "aus der Sicht der Industrie" wäre es wünschenswert, den Anteil anwendungsorientierter, projektbezogener Forschung im KFA-Forschungszentrum Jülich und im Kernforschungszentrum Karlsruhe (KfK) von heute 30 in drei bis fünf Jahren auf bis zu 75 Prozent zu erhöhen. Selbst der konservativen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" war dies ein Zeichen dafür, "wie dreist die Forschungsmanager vorgehen".

Das Weule-Gutachten hat die deutsche Wissenschaftswelt aufgeschreckt. Es ordnet sich ein in einen allgemeinen internationalen Trend, Forschung "strategisch" zu orientieren – so der gern gebrauchte Begriff, der kluge Voraussicht signalisieren soll. In den USA wird über "science in the national interest" diskutiert; die Arbeit der National Institutes of Health und der National Science Foundation werden in die Regierungsstrategien eingebaut. In Großbritannien fordert das Office of Science and Technology in einem Weißbuch mehr Kontrolle der Industrie in der Forschung. In Frankreich haben Staatspräsident François Mitterrand und in Deutschland der frühere Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber zwar Wälle gegen solche Tendenzen aufgebaut – doch damit scheint es jetzt in den Regierungen beider Länder vorbei zu sein. Angeblich zwingt die wirtschaftliche Rezession dazu, Forschung auf Wirtschaftlichkeit und kurzfristig definierte Ziele umzupolen. Der Grundlagenforschung drohe, "von ihrer Lebensquelle abgeschnitten zu werden", warnte Wolfgang Frühwald, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Vor allem fürchtet er das aufkommende "Rätesystem" (Spektrum der Wissenschaft, März 1994, Seite 108), das Ingeniosität ersticken könnte.

Forschungsminister Paul Krüger will einerseits dem Technologierat beim Bundeskanzler nur eine einfache Moderatorenfunktion zubilligen; und in der Forschungsdebatte des Bundestages am 15. Juni zeigte er sich deutlich zurückhaltend gegenüber dem Weule-Gutachten: Die Grundlagenforschung, in der Deutschland an der Spitze stehe, "dient vielen Zielen, nicht allein ökonomischen". Andererseits konstatierte der Minister, sie müsse stärker mit den Innovationsaktivitäten der Wirtschaft verknüpft werden – Teams aus Wissenschaft und Industrie sollten in Verbundprojekten kooperieren. Die Weule-Kommission habe "gute und interessante Vorschläge" zu dieser Zusammenarbeit gemacht, die Politik, GFE und Industrie "sorgfältig gemeinsam" diskutieren müßten.

Wohl bekundet Krüger Konsensfähiges. KFA und KfK, die aus den früheren Bedürfnissen der Kernenergie-Forschung hervorgegangen sind, wie auch die anderen Großforschungseinrichtungen haben seinen Worten nach außer in der wirtschaftlich relevanten Forschung "vor allem wichtige Aufgaben in der Vorsorgeforschung und in der Grundlagenforschung", die auch künftig "in einem ausgewogenen Verhältnis" zur Anwendungsorientierung wahrgenommen werden sollten. Die prinzipielle Einigkeit in diesen Fragen zwischen Union und Sozialdemokraten verdeckt jedoch, daß Wirtschaftsorientierung die Freiheit der Forschung – die in Deutschland größer ist als in den meisten anderen Industrieländern – in Gefahr bringt.

Das massivste Beispiel dafür ist das Weule-Gutachten. Sein Kern ist die Empfehlung, in Großunternehmen bewährte Planungs- und Kontrollmechanismen auf die GFE zu übertragen. Deren Effizienz könnte dadurch verbessert werden, "daß in einem Forschungsplanungsprozeß die Anforderungen der Industrie und die Ressourcen der GFE sorgfältig abgeglichen" sowie "die Themenfelder der Forschung dann gemeinsam im Konsens festgelegt werden" (Bild). Dazu müßten auf politischer Ebene die Forschungsmittel auf grundlagen-, vorsorge- und anwendungsorientierte Projektforschung festgelegt werden. Ein Ausschuß, dem auch Industrievertreter angehören, sollte die forschungspolitischen Empfehlungen in konkrete Programme umsetzen. Schließlich wird ein "straffes Projektmanagement" mit Industrie- und GFE-Vertretern gefordert.

Die beiden hauptsächlich betroffenen Institutionen KFA und KfK, die durchaus an guter Kooperation mit der Industrie interessiert sind und sie auch schon praktizieren, waren entgegen der ursprünglichen Absicht nicht in die Abfassung des Gutachtens einbezogen worden. Sie beurteilen es entsprechend kritisch und ablehnend – und werden dabei nicht nur von der DFG, sondern auch von der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) unterstützt. Deren Präsident Hans F. Zacher widmete den gewichtigsten Teil seiner Ansprache auf der MPG-Hauptversammlung am 10. Juni der "dramatischen Wendung" in der Forschungspolitik, wobei er sich allerdings nicht ausdrücklich auf das Weule-Gutachten bezog. Er sieht Forschung als differenziertes Gesamtsystem, dessen Erfolg davon abhänge, "daß seine Elemente in sich sachgerecht gestaltet sind und genutzt werden und daß sie sich im Sinne komplementärer Effekte wirkungsvoll ergänzen". Grundlagenforschung sei hier allgegenwärtig, auch in der auf Anwendung hin orientierten Forschung, sie müsse jedoch auch in spezifischen Institutionen weitergehende Entfaltungschancen haben. Weltweit sei die MPG "der intensivste Versuch, Grundlagenforschung in diesem Sinne zu organisieren". Sie bringe Erträge auf drei Ebenen: "Erstens stärkt sie ein erkenntnisoffenes Klima der Gesellschaft. Zweitens schafft sie Voraussetzungswissen, das in unabsehbar vielen Zusammenhängen relevant sein kann. Drittens dringt sie immer wieder... vor zu unmittelbar anwendbaren Ergebnissen."

Die MPG hat genügend Beispiele dafür, daß auch solche autonome Grundlagenforschung größten Nutzen bringen kann – ein schlagendes bietet das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr: Jahrzehntelang hat es seinen Etat von 30 Millionen Mark aus den Patenten seines ersten Direktors Karl Ziegler bestreiten können. Zacher befürchtet einen "forschungspolitischen Kurzschluß" mit katastrophalen Konsequenzen, wenn die Industrienation Deutschland nur noch auf angewandte Forschung setzte und die Forschung unmittelbar für die Industrie in Dienst genommen würde.

Ähnlich eindrücklich warnte die Deutsche Physikalische Gesellschaft davor, willkürlich zwischen erkenntnisorientierter und anwendungsbezogener Grundlagenforschung sowie technischer Entwicklung zu differenzieren. Sie legte am 26. Mai eine Denkschrift zu Bedeutung und Perspektiven physikalischer Forschung unter dem Titel "Die Zukunft braucht Physik" vor. In der ersten von zwölf Thesen heißt es: "Eine einseitige Prioritätensetzung zugunsten von Technologietransfer und marktorientierter Entwicklung" habe auf die Dauer "irreparable Schäden" zur Folge.

Die Forschungspolitik in Deutschland scheint auf bedenklichem Wege zu sein, ein planwirtschaftliches System anzustreben, in dem der Staat seine wichtigste Funktion aufgibt, nämlich den Freiraum für Nichtgeplantes und nicht Planbares – also die Grundlagenforschung und hier insbesondere die als "nutzlos" angesehenen Geisteswissenschaften – zu schützen. Es blieb dem FDP-Abgeordneten Jürgen Timm vorbehalten, in der Forschungsdebatte des Bundestages darauf hinzuweisen, daß geisteswissenschaftliche Forschung gleich bedeutend wie technisch angewandte sei. Und den Begriff "anwendungsorientierte Grundlagenforschung" nannte er immerhin ein "unseliges Wort".


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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