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Armut und Verteilungsgerechtigkeit

Der diesjährige Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft geht an Amartya Sen für seine grundlegenden Beiträge zur Wohlfahrtsökonomik.


Die königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften nennt in ihrer Begründung insbesondere Sens Arbeiten zur Theorie kollektiver Entscheidungen (theory of social choice), seine Beiträge zur Messung von Ungleichheit und Armut sowie seine empirischen Studien zur Ursache von Hungersnöten. Aus dieser kurzen Aufzählung sind bereits zwei der drei Eckpfeiler erkennbar, auf denen das umfangreiche wissenschaftliche Werk des indischen Gelehrten ruht, der seit Januar 1998 Master des berühmten Trinity College im englischen Cambridge ist, an dem einst auch Isaac Newton forschte.

Sens dritter Pfeiler ist die politische Philosophie, für die ihm die Harvard- Universität in Cambridge (Massachusetts) 1989 eine Professur verliehen hatte – neben seinem Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften. Mit dieser für einen Ökonomen recht ungewöhnlichen wissenschaftlichen Breite steht Sen in der Tradition eines Adam Smith (1723 bis 1790) oder John Stuart Mill (1806 bis 1873), die beide wichtige Beiträge sowohl zur Philosophie als auch zur Wirtschaftstheorie geleistet haben. Man erinnere sich nur, daß Smith vor seinem Hauptwerk, einer "Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Wohlstands der Nationen" (1776), seine "Theorie der moralischen Gefühle" (1759) veröffentlicht hat; darin ist übrigens zum ersten Male von dem Wir-ken der "unsichtbaren Hand" die Rede, mit welcher der freie Wettbewerb ego-istische Motive in soziale Taten trans-formiere.

Die Theorie der kollektiven Entscheidungen ist schon einmal mit Nobelpreisen gewürdigt worden: 1972 bekam der amerikanische Volkswirtschaftler Kenneth Arrow die hohe Auszeichnung unter anderem für sein Theorem der Unmöglichkeit der Existenz einer sozialen Wohlfahrtsfunktion – zusammen mit dem Briten John Hicks, der ebenfalls wesentliche Beiträge zur Wohlfahrtsökonomik verfaßt hat. Arrows Theorem zufolge ist es nicht möglich, die individuellen Präferenzen der Bürger eines Landes – wobei mindestens zwei Bürger involviert sind und wenigstens drei politische Alternativen zur Wahl oder Abstimmung anstehen – in eine logisch widerspruchsfreie kollektive Präferenz zu überführen, wenn dieser Übertragungsprozeß bestimmten vernünftigen Anforderungen genügen soll.

Dieses negative Ergebnis war für Sen vielleicht der Hauptanlaß, nach positiven Resultaten zu suchen, die 1970 in seiner Monographie "Collective Choice and Social Welfare" eine umfassende und viele junge Forscher inspirierende Darstellung gefunden haben. Mindestens drei grundlegende Fragen werden darin ausführlich abgehandelt. Zum einen hatten der kürzlich verstorbene englische Nationalökonom Duncan Black und Arrow unabhängig voneinander nachgewiesen, daß die einfache Mehrheitsregel als Abstimmungsprozeß dann nicht zu zyklischen oder widersprüchlichen kollektiven Präferenzen führt, wenn die Eigenschaft der "Eingipfligkeit" (single-peakedness) von individuellen Präferenzen gegeben ist. Außer dieser Bedingung lassen sich aber noch weitere Präferenzstrukturen angeben, die ebenfalls unter der Mehrheitsregel zu einer widerspruchsfreien sozialen oder gesellschaftlichen Präferenz führen. Sen hat sie auf transparente Art in seiner Anforderung der Wertrestriktion zusammengefaßt (siehe Kasten auf dieser Seite).

Diese Regel läßt – wie ihr Name besagt – Mehrheiten entscheiden und Minderheiten verlieren. Nun gibt es aber bestimmte individuelle Bereiche, die nicht von der Mehrheitsmeinung festgelegt werden sollten. John Stuart Mill hat dies in seinem Werk "On Liberty" (1848) folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: "... there is a circle around every individual human being which no government ... ought to be permitted to overstep". Sen hat dies in einer Liberalismus-Bedingung so formuliert, daß jede Person im sozialen Entscheidungsprozeß über wenigstens ein Paar von Alternativen allein bestimmend zu sein habe. Verknüpft man diese Forderung mit der Bedingung der Pareto-Effizienz (wenn alle Personen eine Alternative x der Möglichkeit y vorziehen, dann soll auch kollektiv x dem y vorgezogen werden) und läßt gleichzeitig alle denkbaren individuellen Präferenzen zu, auch solche, die das von einem selbst definierte "Wohl" einer anderen Person stärker gewichten als das eigene Wohlergehen, kommt man abermals zu einem Unmöglichkeitssatz: Sens berühmt gewordene "Unmöglichkeit eines Paretianischen Liberalen". Allein dieses Ergebnis hat im Laufe der Jahre eine Flut von Publikationen hervorgerufen.

Die Kollision von Freiheit und Effizienz, verknüpft mit "externen Effekten", wie die Ökonomen sagen, hat viele Forscher, übrigens auch Sen selbst, nicht ruhen lassen, Auswege aus dem beschriebenen Dilemma aufzuzeigen. Ein denkbarer Weg ist die Erziehung zu Toleranz – mit dem Ergebnis, daß die Präferenzstrukturen sich ändern. Auch wäre es möglich, an die Ausübung von individuellen Rechten bestimmte Bedingungen zu knüpfen.

Neben dieser zweiten Frage, der Erfassung individueller Freiheitsrechte im kollektiven Abstimmungsprozeß, ist in der Monographie von 1970 ein drittes Thema sehr ausführlich behandelt worden: die Verteilungsgerechtigkeit. Hierzu ist jedoch etwas erforderlich, was man häufig die Verbreiterung der Informationsbasis genannt hat. Eine Grundvoraussetzung dafür, daß das Wohlergehen einer Gesellschaft bei der Verwirklichung alternativer (Wirtschafts-)Politiken beurteilt werden kann, sind Wohlfahrtsvergleiche zwischen den einzelnen Personen. Dies macht die utilitaristisch geprägte Wirtschaftslehre schon seit über zweihundert Jahren mit interpersonell vergleichbaren Nutzengrößen (eine moderne Variante stammt von einem der Nobelpreisträger des Jahres 1994, John Harsanyi), nur ist dieser Ansatz, so Sen, einseitig auf die Betrachtung der Nutzensumme ausgerichtet und ignoriert damit die Verteilung der Nutzenquanten unter den betroffenen Personen. Es sei wichtig festzustellen, wie etwa Person i im Vergleich zu Person j und (oder) Person k unter alternativen Politiken dasteht; es sei eben ein Vergleich der individuellen Nutzenniveaus zu bewerkstelligen.



Die Ärmsten der Armen



Erst dann kann man auch die jeweils ärmste Gruppe der Bevölkerung bestimmen; sie steht ebenfalls auch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Philosophen John Rawls und seiner "Theorie der Gerechtigkeit" von 1971. Sen hat zur Reduktion von Ungleichheit der individuellen Wohlfahrtsniveaus ein Gerechtigkeitsaxiom vorgeschlagen, welches bei der Verteilung eines bestimmten Einkommensbetrags auf n Personen der Person i dann einen höheren Anteil als der Person j zuweist, wenn Individuum i im Vergleich zu Person j bei jedem individuellen Einkommensniveau ein geringeres Wohlfahrtsniveau verwirklicht. Ein ähnlich strukturiertes Axiom hat sich als grundlegend für das Rawlssche Differenzprinzip erwiesen, welches postuliert, daß durch unterschiedliche Politiken bewirkte soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann zulässig sind, wenn sie der am schlechtesten gestellten Bevölkerungsgruppe zum für sie größten Vorteil gereichen. Sens Analyse unterschiedlicher Formen der Nutzen- und Wohlfahrtsvergleichbarkeit in seiner Monographie von 1970 hat die Forschung auf dem Gebiet der Ungleichheits- und Armutsmessung ungemein beflügelt.

Sen selbst lieferte 1974 eine auf kollektiven Entscheidungen beruhende Charakterisierung des sogenannten Gini-Koeffizienten, der häufig zur Messung ökonomischer Ungleichheit verwendet wird. Bekannter geworden ist jedoch der von Sen vorgeschlagene Armutsindex, in den der Gini-Koeffizient ebenfalls einfließt.

Zur Bestimmung von Armut sind in internationalen Untersuchungen meist recht grobe Maßzahlen verwandt worden. Üblich war die Angabe einer Pro-Kopf-Zahl: der Anteil Personen mit einem Einkommen unterhalb einer definierten Armutsgrenze in der Bevölkerung. Verwendet wurde auch eine Maßzahl, welche die sogenannte Armutslücke widerspiegelt, nämlich den aggregierten Fehlbetrag an Einkommen aller Armen, bezogen auf die Armutsgrenze. Während der erste Index keine Aussage über das Ausmaß der Armut macht, ist die zweite unempfindlich gegenüber der Zahl der Armen. Beides sollte jedoch eine Rolle spielen.

Darüber hinaus sollte, so argumentiert Sen in einer Arbeit aus dem Jahre 1976, die genaue Einkommensverteilung innerhalb der Gruppe der Armen Berücksichtigung finden. Denn Umverteilungen darin können unter Umständen die Armutssituation verschärfen. In seinem neuartigen Armutsindex verbindet Sen folgerichtig den Gini-Koeffizienten der Einkommensverteilung unter den Armen mit den beiden herkömmlichen Maßzahlen und ermöglicht damit wesentlich differenziertere Aussagen. Sein Index ist in zahlreiche der neueren empirischen Armutsstudien, vor allem zur Lage in der Dritten Welt, eingeflossen.

Die vorangegangenen Bemerkungen machen auf unterschiedliche Weise Sens Bemühen deutlich, Betrachtungen über Wohlfahrt und Wohlergehen einer Gesellschaft von einer breiteren Grundlage aus anzustellen, als dies bei Angabe von Sozialproduktzahlen oder dem Umfang der mengenmäßigen Güterversorgung möglich wäre. In seinem Buch "Commodities and Capabilities" aus dem Jahre 1985 weist er darauf hin, daß ein großer Unterschied zwischen rein materieller Versorgung und dem Wohlbefinden oder Wohlergehen (well-being) besteht. Letzterer Begriff sollte in enger Beziehung zu der Frage stehen, welche Art von Leben eine bestimmte Person führt und was diese durch ihre Entscheidungen erreichen kann. Auch das häufig verwendete Konzept von Nutzen im Sinne von Glück oder Wunscherfüllung sei viel zu eng gestrickt. Mit Blick insbesondere auf Menschen in den Entwicklungsländern stellt der indische Gelehrte fest, daß kleinste Verbesserungen dort schon als großes Glück angesehen werden können, wenn man sich damit abgefunden hat, aufs Schlimmste gefaßt sein zu müssen.

Sen definiert einen Vektor von Funktionsweisen (vector of functionings), der die tatsächlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten eines Menschen bestimmt. Natürlich behält das eigene Einkommen seine Bedeutung, weil es Möglichkeiten im weitesten Sinne eröffnet. Aber Möglichkeiten hängen auch von einer Reihe anderer Faktoren ab. Speziell für die Dritte Welt spielen Indikatoren wie Kindersterblichkeit, Lebenserwartung, das Analphabetentum unter den Erwachsenen und der Zugang zu höherer Ausbildung eine bedeutende Rolle (siehe "Lebensstandard und Lebenserwartung" von Amartya Sen, Spektrum der Wissenschaft, November 1993, Seite 38).

Der heute von den Vereinten Nationen verwendete "Index der menschlichen Entwicklung" ist maßgeblich von Sens Überlegungen geprägt. Seine empirische Untersuchungen auf der Grundlage obiger Faktoren haben noch etwas anderes zutage treten lassen: Unterernährung und schlechter Gesundheitszustand sind unter den Mädchen und Frauen Indiens wesentlich häufiger anzutreffen als unter den männlichen Bewohnern des Landes. Der Maßstab Wohlergehen muß also zwischen den Geschlechtern differenziert werden. Zweifellos weisen die meisten der oben genannten Indikatoren in den entwickelten Gebieten der Erde wesentlich günstigere Werte auf, aber es dürfte nicht schwer fallen, für industrialisierte Länder andere Faktoren zu finden, die sich als Bestandteile eines Vektors der Funktionsweisen anbieten, folglich die Menge der Möglichkeiten und Fähigkeiten der einzelnen Personen reflektieren und damit aussagekräftige Angaben über das Wohlbefinden dieser Gesellschaften erlauben.

Weit über die Grenzen des engeren Fachgebietes bekannt geworden ist Sen mit seiner Untersuchung über Armut und Hungersnöte ("Poverty and Famines") aus dem Jahr 1981. Darin versucht er, den Hintergrund und die Ursachen von Hungersnöten aufzuhellen; sein Augenmerk gilt insbesondere einigen dieser Katastrophen in Asien und Afrika aus jüngerer und jüngster Zeit. Hungersnot ist keineswegs identisch mit Nahrungsmittelverknappung. Beispielsweise kamen bei der großen Hungersnot des Jahres 1974 in Bangladesh andere Entwicklungen hinzu, welche die Möglichkeiten der notleidenden Bevölkerung erheblich beschnitten: Aufgrund einer vorangegangenen Überschwemmung stieg der Preis für das Hauptnahrungsmittel Reis stark an, gleichzeitig gingen die Beschäftigungsmöglichkeiten der Landarbeiter wegen einer ausgefallenen Ernte erheblich zurück. Diese Reallohneinbußen führten dazu, daß gerade die Landbevölkerung vom Hungertod heimgesucht wurde.

Abschließend soll noch einmal betont werden, daß Sen zahlreiche fundamentale Beiträge zur Wohlfahrtsöko-nomik geleistet hat. Seine Arbeiten, seien sie nun eher axiomatischer Natur oder eher anwendungsorientiert, reichen von der Frage der Beteiligung der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft an demokratischen Abstimmungsprozessen über die Wahrung individueller Rechte, Probleme ökonomischer Ungleichheit und Fragen der Verteilungsgerechtig-keit bis hin zu empirischen Analysen über Armut und Benachteiligung. Allen Arbeiten Sens ist somit ein großes Interesse am Wohlergehen der Menschen gemein.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1998, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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