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Atomraketen: Finger vom roten Knopf

Noch immer sind in Ost und West mehrere tausend mit Kernsprengköpfen bestückte Raketen auf Militäranlagen und Ballungszentren des ehemaligen Gegners gerichtet. Sie könnten in Minutenschnelle abgefeuert werden. Eine Abkehr von dieser permanenten Alarmbereitschaft würde das Risiko eines versehentlich ausgelösten Atomkrieges erheblich verringern.

Am 25. Januar 1995 tauchte auf den Bildschirmen einiger Radarstationen in Nordrußland unvermittelt ein Leuchtfleck auf, der die Diensthabenden in Aufregung versetzte: Unverkennbar stieg eine Rakete, irgendwo vor der Küste Norwegens gestartet, mit großer Geschwindigkeit in den nächtlichen Himmel empor (Bild 1).
Die Operateure wußten: Sollte es sich um einen ballistischen Flugkörper eines in diesen Gewässern operierenden U-Bootes der USA handeln, könnten in weniger als 15 Minuten acht nukleare Sprengköpfe über Moskau detonieren. Vorschriftsmäßig informierten sie umgehend ihre Vorgesetzten. Rasch gelangte die Nachricht über die Spitze des Militärapparates zu Boris Jelzin, der über eine elektronische Einrichtung einen nuklearen Gegenschlag anordnen kann. Eilig beriet sich der Präsident telephonisch mit seinen wichtigsten Beratern. Es war das erste Mal in der Geschichte der Supermächte-Konfrontation, daß der sogenannte Atomkoffer für den Notfalleinsatz aktiviert wurde.
Für einige spannungsgeladene Minuten blieben die russischen Entscheidungsträger über die Flugbahn der mysteriösen Rakete im ungewissen. Die Beunruhigung nahm noch zu, als sich Antriebsstufen abtrennten und dies den Eindruck erweckte, es könnte sich um einen Angriff mit mehreren Trägersystemen handeln. Erst nach etwa acht Minuten – nur kurz vor Ablauf der festgelegten Frist, nach der ein Gegenschlag auf einen bevorstehenden Atomangriff hin angeordnet werden soll – entschieden höhere Offiziere, daß der Flugkörper für Rußland keine Gefahr darstellte, weil er weit auf das Meer hinaus flog.
Wie bald herausgefunden wurde, war es ein ziviles, nämlich wissenschaftliches Objekt: eine amerikanische Höhenforschungsrakete, mit der das Nordlicht-Phänomen untersucht werden sollte. Bereits Wochen zuvor hatten die Norweger die russischen Behörden pflichtgemäß über den geplanten Abschuß von der zu den Vesterålen gehörenden Insel Andøy in Kenntnis gesetzt, doch waren diese Informationen nicht bis zu den zuständigen Stellen durchgedrungen.
Auch auf seiten der USA sind in der Vergangenheit die strategischen Streitkräfte durch Fehlalarme aktiviert worden. Diese erschreckenden Vorfälle demonstrieren deutlich die Gefahren, die mit den in permanenter Startbereitschaft gehaltenen nuklearen Arsenalen verbunden sind: Es ist nicht auszuschließen, daß eines Tages jemand irrtümlich mit Kernsprengsätzen bestückte Raketen abschießt – sei es aufgrund eines technischen Fehlers oder weil ein Verantwortlicher ein harmloses Signal als Überraschungsangriff mißdeutet.
Seit langem schon haben die Militärs der USA und Rußlands zwar Vorkehrungen getroffen, die ein solches Desaster verhindern sollen. Die Planer des russischen Befehlssystems etwa haben sich außerordentlich bemüht, eine zentrale Kontrolle über den Einsatz von Kernwaffen zu gewährleisten (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1991, Seite 40). Die angewendete Technik ist jedoch nicht völlig gegen Fehler gefeit.
Zudem befinden sich Rußlands nukleare Frühwarn- und Kommandosysteme praktisch in Auflösung. Im Februar 1997 beispielsweise streikte für einen Tag das Institut, das für die Konstruktion der hochentwickelten Kontrollsysteme der Raketnije Woiska Strategitscheskowo – der Strategischen Raketentruppen, denen die landgestützten ballistischen Interkontinental- und Mittelstreckenraketen unterstehen – verantwortlich ist: Gehaltszahlungen standen aus, und Mittel zum Verbessern der Ausstattung fehlen. Drei Tage später versicherte Verteidigungsminister Igor Rodionow, daß "bei einer weiteren Kürzung der Finanzmittel Rußland bald eine kritische Schwelle erreichen könnte, jenseits derer seine Raketen und Nuklearsysteme unkontrollierbar werden".
Auch wenn Rodionow mit seiner Warnung vielleicht im wesentlichen politische Unterstützung für höhere Verteidigungsausgaben einfordern wollte, bestätigen jüngste Berichte des US-Geheimdienstes CIA (Central Intelligence Agency), daß die Strategischen Raketentruppen Rußlands tatsächlich harte Zeiten durchmachen. Lokale Energieversorger haben wiederholt verschiedenen Kernwaffenanlagen den Strom abgestellt, nachdem die Militärbehörden die Rechnungen nicht bezahlt hatten. Bedenklicher noch ist, daß die Kontrollausrüstungen für Kernwaffen häufig versagen und Computer oder andere wichtige elektronische Geräte gelegentlich ohne ersichtlichen Grund in einen Gefechtsmodus umschalten. Im Herbst 1996 wurde sogar der Betrieb einiger Kernwaffenanlagen siebenmal ernsthaft gestört, als Diebe versuchten, Telekommunikationskabel zu durchtrennen und Stücke davon zu entwenden, um das darin enthaltene Kupfer auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.
Ein Großteil der von der früheren Sowjetunion errichteten Frühwarnanlagen zur Entdeckung eines Angriffs mit Raketen ist nicht mehr einsatzbereit, so daß Informationen aus solchen Quellen immer weniger zuverlässig sind. Selbst die Atomkoffer, die stets in Reichweite des Präsidenten, des Verteidigungsministers und des Generalstabschefs sein müssen, sind Berichten zufolge arg reparaturbedürftig. Kurzum – die Systeme, die zur Kontrolle der russischen Kernwaffen eingeführt wurden, brechen nun zusammen.
Die Leiter des russischen Kernwaffenkomplexes ringen ferner mit zahlreichen menschlichen und organisatorischen Problemen. Die Bedienungsmannschaften werden schlechter ausgebildet als früher und sind deshalb weniger erfahren und geübt in der sicheren Handhabung der Kernwaffen. Die noch oft mangelhafte Versorgung mit Wohnungen und Lebensmitteln sowie die leeren Versprechungen der Regierung verdrießen und demoralisieren die Angehörigen der als Elite angesehenen Strategischen Raketentruppen, die Soldaten der strategischen U-Boot-Flotte und die Wachtruppen der Lager für nukleare Sprengköpfe. Dies erhöht das Risiko, daß frustrierte Offiziere niederen Rangs im Schlendrian die Sicherheitsbestimmungen mißachten oder, schlimmer noch, unbefugt mit Kernwaffen hantieren – was eine marode werdende zentrale Kontrolle kaum verhindern könnte. Zwar benötigen die meisten für Raketenstarts zuständigen Einheiten im Ernstfall spezielle Geheimcodes, die der Generalstab verwaltet; ein kürzlich erschienener CIA-Bericht warnt jedoch, daß einige U-Boot-Mannschaften auch ohne diese Schlüsselinformation imstande sein könnten, die an Bord befindlichen ballistischen Flugkörper abzufeuern.
Selbst der Spitze der Befehlskette könnte die Kontrolle über die strategischen Arsenale entgleiten. Die Beziehungen zwischen den russischen Politikern und Militärs sind gespannt. So wäre nicht auszuschließen, daß sich hohe Offiziere während einer internen Krise die Abschußcodes für Raketen aneignen. Während des Putsches gegen den damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow am 19. August 1991 verlagerten sich immerhin die Verantwortlichkeiten auf höchster Ebene binnen kurzem, und die übliche Befehlskette wurde unterbrochen. Drei Tage lang lag die Verantwortung für den Einsatz der Atomraketen in den Händen von Verteidigungsminister Dimitri T. Jasow und Generalstabschef Michail Moissejew. Infolge der gegenwärtigen zerrütteten Verhältnisse Rußlands könnte ähnliches erneut geschehen.

Das Abschreckungs-Dilemma

Wenngleich sich die internationalen Beziehungen seit Ende des Kalten Krieges drastisch verändert haben, halten sowohl Rußland als auch die USA die meisten ihrer nuklearen Fernwaffen weiterhin unmittelbar einsatzbereit. Innerhalb weniger Minuten nach Eingang eines Abschußbefehls könnte ein Großteil der landgestützten Raketen (die amerikanischen sind mit rund 2000, die russischen mit rund 3500 Sprengköpfen ausgestattet) den 25-minütigen Flug über den Nordpol zu ihren vorprogrammierten Zielen beginnen. Weniger als 15 Minuten nach Erhalt eines Angriffbefehls könnten außerdem sechs Trident-U-Boote der USA weitere 1000, die russischen U-Boote 300 bis 400 Sprengköpfe starten. Insgesamt vermögen die beiden Nuklearmächte mehr als 5000 Kernwaffen innerhalb einer halben Stunde abzufeuern.
Warum verharren zwei Staaten im Frieden in einer solch aggressiven Haltung, die das Risiko eines irrtümlichen oder nicht autorisierten Kernwaffeneinsatzes in sich birgt? Die Militärstrategen auf beiden Seiten sind immer noch auf das unwahrscheinliche Szenario fixiert, der ehemalige Gegner könnte absichtlich einen nuklearen Überraschungsangriff auf die eigenen strategischen Waffen und ihre Kommandozentralen führen. Um die jeweils andere Seite von einem solchen Erstschlag abzuhalten, so besagt die jahrzehntelang gültige Abschreckungsdoktrin, müsse man jederzeit mit einem rechtzeitigen mächtigen Gegenschlag antworten können: Bevor die Sprengsätze des Aggressors detonieren, sollen die eigenen unterwegs sein, um auch alle wichtigen militärischen Einrichtungen auf dessen Territorium – einschließlich der Nuklearanlagen – zu zerstören. Damit stellt sich den Militärstrategen eine Aufgabe, die im Prinzip identisch ist mit dem Gewährleisten der Erstschlagfähigkeit: Sie müssen Arsenal und Logistik so gestalten, daß sie Tausende weit auseinanderliegende Ziele binnen kurzem vernichtend treffen können.
Deshalb verlassen sich sowohl die Vereinigten Staaten als auch Rußland auf die sogenannte Launch-on-warning-Strategie: Der sprichwörtlich gewordene rote Knopf soll gedrückt werden, sobald ein gegnerischer Kernwaffenschlag ersichtlich beginnt oder anzunehmen ist, daß er unmittelbar bevorsteht. Weil die Flugzeit feindlicher Raketen vielleicht nur 15 Minuten beträgt, wenn sie von einem U-Boot nahe der eigenen Küste gestartet werden, muß in noch kürzerer Frist nach Eingang einer Warnung die Lage zutreffend beurteilt und die richtige Entscheidung getroffen sein.
Wohl ließe sich nicht vermeiden, daß die eigenen Raketensilos und Kommandoanlagen sowie die politische und militärische Führung durch einen überraschenden Erstschlag weitgehend vernichtet würden; doch die U-Boot-gestützten Raketen auf hoher See wären im wesentlichen dagegen gefeit – und eben ein solch horrendes Vergeltungspotential soll gerade das Gleichgewicht des Schreckens aufrechterhalten, um die ultimative Aggression der einen oder anderen Seite zu verhüten. Aber obwohl die USA über mehrere tausend Sprengköpfe auf ihren Atom-U-Booten und damit über eine ausreichende Zweitschlagfähigkeit verfügen, halten auch sie sich stets bereit, ihr gesamtes übriges Arsenal in Minutenschnelle einsetzen zu können.
Die russischen Entscheidungsträger sehen es offenbar als noch dringender notwendig an, ihre Raketen bereits bei einer Erstschlag-Warnung abzufeuern. Die Kommandozentralen und Raketensilos in Rußland sind gegenüber einem massiven Angriff ebenso verwundbar wie jene der USA; doch weil die Anzahl der seegestützten Atomraketen geringer ist, muß der Generalstab fürchten, daß nur einige Dutzend einen Erstschlag überstünden und noch für einen Gegenschlag verfügbar wären.
Außerdem ist die Zweitschlagfähigkeit Rußlands weiter durch den Umstand gemindert, daß gegenwärtig viele der U-Boote in Häfen festliegen und die mobilen landgestützten Raketen sich in Hangars befinden, anstatt für den Gegner unauffindbar auf See beziehungsweise im Gelände unterwegs zu sein. Der Mangel an Ressourcen und qualifiziertem Personal hat die russische Marine gezwungen, ihre Operationen erheblich einzuschränken; zur Zeit befinden sich nur zwei von insgesamt 26 mit Atomraketen bestückten russischen U-Booten in permanenter Kampfbereitschaft auf Patrouillenfahrt. Ähnliche Schwierigkeiten verhindern, daß mehr als ein oder zwei der auf Spezialfahrzeugen montierten Startanlagen für Interkontinentalraketen tatsächlich an unbekannten Orten einsatzbereit gehalten werden können. Die vielachsigen Selbstfahrlafetten der übrigen etwa 40 Regimenter, denen jeweils neun mit einem einzelnen Atomsprengkopf ausgestattete Raketen zugeordnet sind, parken schlichtweg in Garagen. Diese Flugkörper sind sogar noch anfälliger gegen einen Erstschlag als die in unterirdischen Silos stationierten. Rußland verfügt zudem über 36 Interkontinentalraketen mit je zehn nuklearen Sprengköpfen, die auf Eisenbahnwaggons montiert sind und eigentlich auf dem riesigen Schienennetz des Landes versteckt werden sollen; doch bereits 1991 entschied der damalige Präsident Gorbatschow, diese Waggons in festen Stützpunkten zu belassen.
Diese Schwachpunkte veranlaßten Rußland, zusätzlich zu den silogestützten Interkontinentalraketen einige U-Boote in Häfen und mobile Raketen in ihren Garagen einsatzbereit zu halten. Die Zeitspanne, innerhalb derer eine Entscheidung über ihren Abschuß gefällt werden muß, beträgt weniger als 15 Minuten: Amerikanische sowie britische und französische U-Boote mit strategischen Waffen an Bord kreuzen nur etwa 3200 Kilometer von Moskau entfernt im Nordatlantik. Die russischen Entscheidungsträger und die Bedienungsmannschaften der Startanlagen sind auf diesen Zeitrahmen getrimmt und üben das Vorgehen regelmäßig. Auch den Nuklearstreitkräften der USA stehen keine längeren Reaktionszeiten zu.
Offensichtlich können in der Eile, mit der nach Eingang einer Warnung über die Reaktion zu entscheiden und diese umzusetzen ist, leicht Fehler unterlaufen – mit möglicherweise katastrophalen Folgen. Die Gefahr einer Fehleinschätzung wird noch verschärft, weil ein Teil der russischen Frühwarnsysteme ausgefallen ist und die verantwortlichen Offiziere deshalb schlechter beurteilen können, ob es sich bei einem verdächtigen Ereignis um ein natürliches Phänomen, einen zivilen Raketenstart oder tatsächlich um einen Angriff handelt: Nur ein Drittel der modernen Frühwarn-Radaranlagen Rußlands ist überhaupt in Betrieb, und von insgesamt neun vorgesehenen Frühwarnsatelliten fehlen mindestens zwei.
Dieses Manko wird zwar zum Teil durch den Abbau der internationalen Spannungen nach Ende des Kalten Krieges ausgeglichen; die politischen Entscheidungsträger beider Seiten haben nun weniger Anlaß, ein verdächtiges Signal für einen Raketenangriff zu halten. Dennoch birgt die enge Kopplung der zum raschen Gegenschlag bereitgehaltenen Arsenale die Gefahr in sich, daß eines Tages ein Abschuß irrtümlich ausgelöst und eine Kette wechselseitig eskalierender Vergeltungsschläge in Gang gesetzt wird. Ein solcher Unfall apokalyptischen Ausmaßes ist selbst unter normalen Bedingungen nicht auszuschließen; und falls das Kontrollsystem der russischen Atomwaffen durch eine interne oder internationale Krise erschüttert werden sollte, könnte die Gefahr plötzlich weitaus akuter werden.
Während des Kalten Krieges wurden diese Risiken der alles bestimmenden Forderung nach Abschreckung eines Feindes untergeordnet, von dem man annahm, er sei zum nuklearen Erstschlag bereit. Spätestens unter den heutigen Bedingungen ist dies nicht mehr zu rechtfertigen. In einer Zeit, in der beide Großmächte normale Wirtschaftsbeziehungen und kooperative Sicherheitsabkommen anstreben, darf die nationale Sicherheitsstrategie nicht mehr darauf beruhen, Kernwaffen auf eine bloße Angriffswarnung hin einsetzen zu wollen und zu können. Doch ist diese Doktrin bei den Entscheidungsträgern so tief verwurzelt, daß nur unablässiger Druck der Öffentlichkeit auf die jeweilige politische Führung – insbesondere die Präsidenten – eine vernünftige, weniger riskante Politik einleiten kann.

Abkehrvom alten Denkschema

Die durch die beiden bilateralen Rüstungskontrollverträge START I und II (Strategic Arms Reduction Treaties) erreichte Verringerung der amerikanischen und der ehemals sowjetischen Kernwaffenarsenale sollte die Bedrohung durch einen irrtümlichen nuklearen Schlagabtausch reduzieren; doch werden sich diese Verbesserungen nur nach und nach bemerkbar machen. Im Rahmen eines künftigen START-III-Abkommens, für das sich im Frühjahr 1997 die Präsidenten Boris Jelzin und Bill Clinton in Helsinki einsetzten, sollen die nuklearstrategischen Arsenale der USA und Rußlands bis zum Jahre 2007 auf jeweils etwa 2000 Sprengköpfe schrumpfen. Nur könnte, wenn die noch heute übliche Abschreckungspraxis nicht verändert wird, auch in zehn Jahren noch mindestens die Hälfte der heute vorhandenen Kernwaffen jederzeit zum Abschuß innerhalb weniger Minuten bereit sein (Bild 2).
Das Risiko eines irrtümlichen Raketenstarts ließe sich weitaus rascher reduzieren, wenn die permanente Einsatzbereitschaft der Raketen aufgehoben und damit die erforderliche Zeit für das Vorbereiten eines Abschusses erhöht würde. Die USA und Rußland sollten diesen Weg hin zu einer sichereren Welt unabhängig voneinander beschreiten, auch wenn rasche und parallel durchgeführte Maßnahmen zu bevorzugen wären. Zwei bekannte Verfechter dieses Ansatzes auf amerikanischer Seite sind der frühere US-Senator Sam Nunn aus Georgia und der inzwischen im Ruhestand lebende General George L. Butler, der von 1991 bis 1994 Oberbefehlshaber des Strategischen Kommandos der USA war; auch unter den Nichtregierungsorganisationen, die sich mit Fragen nuklearer Sicherheit befassen, und bei einigen Abgeordneten des US-Kongresses gewinnt dieser Vorschlag Unterstützung. Auf russischer Seite denkt das Verteidigungsministerium ebenfalls ernsthaft über eine solche Alternative nach.
Ein deutliches Zeichen für die Rücknahme der Alarmbereitschaft nuklearer Waffen setzte der damalige US-Präsident George Bush Ende September 1991, als die Sowjetunion in der Folge des August-Putsches auseinanderzubrechen begann. Auf Anraten von General Butler befahl er den sofortigen Einsatzstopp für die strategischen Bomber der USA, die seit Jahrzehnten bereit standen, innerhalb von wenigen Minuten zu starten. Kurz darauf begannen Angehörige der Luftwaffe damit, die nukleare Bewaffnung dieser Langstreckenbomber auszuladen und in Depots zu verwahren. Zudem hob Präsident Bush die Alarmbereitschaft der im Rahmen von START I zu vernichtenden strategischen Trägersysteme auf – 450 in Silos stationierte Minuteman II sowie die auf zehn Poseidon-U-Booten stationierten Raketen. Man brauchte nur wenige Tage, um diese wichtigen Maßnahmen durchzuführen.
Eine Woche später reagierte Präsident Gorbatschow, indem er die Deaktivierung von mehr als 500 landgestützten Raketen und von sechs strategischen U-Booten anordnete. Zugleich versprach er, die sowjetischen strategischen Bomber in reduziertem Alarmzustand zu halten und die per Eisenbahn mobilen Raketen in feste Standorte zu bringen. In den folgenden Monaten zogen beide Länder des weiteren viele tausend taktische Kernwaffen geringer Reichweite zurück, die ihre Armee- und Marine-Verbände überwiegend in Europa stationiert hatten, und lagerten sie in zentralen Depots ein.
Im Jahre 1994 gingen die Präsidenten Clinton und Jelzin einen gemeinsamen Schritt weiter: Sie vereinbarten, ihre strategischen Raketen nicht länger auf Ziele im jeweils anderen Land gerichtet zu halten. Diese begrüßenswerte Geste hatte allerdings nur geringe praktische Bedeutung – die Befehlshaber der Raketeneinheiten können nämlich die Zielkoordinaten innerhalb von Sekunden neu in den Leitcomputer eingeben. Die Vereinbarung verringert noch nicht einmal die Furcht vor einem irrtümlichen Abschuß in Rußland, da eine unprogrammierte Rakete dieses Landes sofort auf ihr für den Kriegsfall vorgesehenes primäres Ziel umschalten würde – das könnte ein Minuteman-Silo in Montana sein oder eine Befehlszentrale in Washington, London, Paris oder Beijing. Überdies ließe sich eine russische Rakete ebensowenig wie eine amerikanische durch einen Funkbefehl zerstören, wenn sie erst einmal gestartet wäre.
Die US-Regierung, die über die robustesten Streitkräfte und das leistungsfähigste Befehlssystem verfügt, sollte darum den ersten Schritt in einer Reihe freiwilliger Maßnahmen tun (Kasten Seite 83): Sie könnte diejenigen Sprengköpfe zurückziehen, welche die russischen Atomstreitkräfte am meisten bedrohen (insbesondere jene, deren Explosionsenergie ausreicht, die unterirdischen Raketensilos und Befehlsbunker zu zerstören). Dazu gehören vor allem die insgesamt 500 Sprengköpfe, mit denen die 50 in Silos bereitstehenden MX-Raketen bestückt sind, und die 400 W88-Sprengköpfe auf Raketen der Trident-U-Boote. Wir schlagen zudem vor, alle rund 500 landgestützten Minuteman-III-Raketen, die jeweils mit drei Sprengköpfen ausgestattet sind, zu deaktivieren sowie die Anzahl der in Friedenszeiten operierenden U-Boote zu halbieren und die Zahl der auf jeder U-Boot-gestützten Rakete befindlichen Sprengköpfe von acht auf vier zu reduzieren. Des weiteren sollten die Operationen der mit ballistischen Flugkörpern bestückten U-Boote so verändert werden, daß die Mannschaften etwa einen Tag brauchen, um die Waffen für den Abschuß vorzubereiten.
In diesem Szenario würden den USA noch immer fast 600 unverwundbare Sprengköpfe auf See verbleiben, von denen jeder den Zentralbereich einer Großstadt zerstören könnte. Das Abschreckungspotential bliebe somit erhalten; doch hätten die Vereinigten Staaten glaubwürdig demonstriert, daß sie keinen Erstschlag gegen Rußland führen wollen. Wir glauben, daß ein solcher grundlegender Wandel der Nuklearpolitik Rußland veranlassen könnte, vergleichbare Maßnahmen durchzuführen und den Alarmzustand für die meisten seiner Raketen aufzuheben. Zugleich wäre damit ein Klima geschaffen, das die Umsetzung von Abrüstungsvereinbarungen erleichterte, wie sie in START II und START III bereits verhandelt wurden. Nach unserer Einschätzung ließe sich der gesamte Prozeß in einem oder zwei Jahren abschließen.
Für bestimmte Waffentypen ließe sich bereits gegenwärtig überprüfen, ob sie aus dem permanenten Einsatzzustand herausgenommen worden sind. Zum Beispiel könnte man die Anzahl der in Häfen befindlichen Raketen-U-Boote durch Satelliten feststellen. In den meisten anderen Fällen kämen Zufallsinspektionen vor Ort in Frage, wie sie im START-I-Abkommen vereinbart wurden. Um langfristig häufiger kontrollieren zu können, ließen sich weitere technische Verfahren entwickeln. So wäre etwa mit elektronischen Siegeln zu gewährleisten, daß eine aus einer Rakete ausgebaute Komponente nicht wieder eingesetzt wurde; die Unversehrtheit dieser Siegel ließe sich mittels verschlüsselter Signale über Satellitenfunk von der abfragenden Stelle überprüfen.

Eine Welt ohne nuklearen Alarmzustand

Diese vorgeschlagenen Maßnahmen würden den USA und Rußland im wesentlichen die Fähigkeit zu einem Erstschlag nehmen. Damit entfiele auch das Motiv für die Launch-on-warning-Strategie, denn die nuklearstrategischen Arsenale wären nicht mehr in ihrer Gesamtheit bedroht. Nach einer Angriffswarnung verstriche bis zum Aktivieren der eigenen Kernwaffen so viel Zeit, daß ein Fehlalarm sicher als solcher erkannt werden könnte. Das Risiko eines irrtümlichen oder nichtautorisierten Abschusses wäre mithin erheblich verringert.
Wir sind uns durchaus bewußt, daß die Militärstrategen der USA und Rußlands eventuell darauf bestünden, zumindest einen kleinen Teil ihres heutigen Arsenals – vielleicht einige hundert Sprengköpfe – so lange permanent einsatzbereit zu halten, bis auch die anderen Kernwaffenstaaten Großbritannien, Frankreich und China sich zu ähnlichen Maßnahmen entschlössen, die Einsatzbereitschaft ihrer Arsenale herabzusetzen. Doch wenn die USA und Rußland wirklich den größtmöglichen Sicherheitsstandard erreichen wollen, sollten sie so bald wie möglich den Alarmzustand all ihrer Kernwaffen aufheben und weitergehende Schritte unternehmen, um die erforderlichen Zeitspannen für eine Reaktivierung dieser Systeme zu verlängern.
Das eigentliche Ziel aber sollte sein, die Kernsprengköpfe von ihren Trägerraketen zu trennen, einzulagern und letztlich die meisten von ihnen zu vernichten. Der Zustand dieser Waffensysteme müßte allerdings von den anderen Kernwaffenstaaten durch Verifikationsmaßnahmen überprüft werden können, um auszuschließen, daß heimlich Nuklearraketen startbereit gemacht werden.
Unsere Vorschläge werden zweifellos auf massiven Widerstand jener treffen, deren größte Sorge noch immer ein verdeckt vorbereiteter Überraschungsangriff ist. Diese Bedenken, so wenig begründbar sie mittlerweile auch sind, sollten sicherlich berücksichtigt werden. Doch viel dringlicher ist es, schnellstmöglich Prozeduren zu entwickeln und zu vereinbaren, welche die anhaltend akute Gefahr des versehentlichen oder nichtautorisierten Abschusses nuklearer Raketen aus der Welt schaffen.

Literaturhinweise

– The Logic of Accidental Nuclear War. Von Bruce G. Blair. Brookings Institution, 1993.
– Global Zero Alert for Nuclear Forces. Von Bruce G. Blair. Brookings Institution, 1995.
– Caging the Nuclear Genie: An American Challenge for Global Security. Von Stansfield Turner. Westview Press, Boulder (Colorado), 1997.
– The Future of U.S. Nuclear Weapons Policy. National Academy of Sciences. National Academy Press, 1997.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1998, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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