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Neurophysiologie: ATP als Schmerzsignal

Überraschende neue Erkenntnis: Die Energie-Münze der Zelle dient nebenbei als Botenstoff, der Schmerzen bei Verletzungen sowie hohen Blasendruck signalisiert.


Eines der wichtigsten kleinen Moleküle der Zellbiologie ist gemeinhin als ATP bekannt, die Kurzform für Adenosintriphosphat. Wie seine Verwandten GTP, CTP und TTP (Guanosin-, Cytidin- und Thymidintriphosphat) dient es als Rohmaterial für die Synthese der Erbsubstanz DNA. Schon 1941 fanden Herman Kalckar und Fritz Lipman allerdings heraus, dass es eine weitere, ebenso fundamentale Funktion hat: als Haupt-Energieträger der Zelle. ATP ist für die Zelle ebenso wichtig wie Elektrizität für unsere Haushalte.

Mitte der siebziger Jahre schließlich gab es Hinweise auf eine dritte Funktion von ATP – diesmal außerhalb der Zelle. Tirza Bleehen und Kollegen machten 1975 am Middlesex-Hospital in London eine überraschende Entdeckung: Wenn sie Versuchspersonen ATP-reiche Zellextrakte auf die Haut auftrugen, schmerzte die betreffende Stelle, als sei sie verletzt. Daraus schlossen die britischen Forscher, dass ATP anscheinend als Signalstoff an der Wahrnehmung von Schmerzen beteiligt ist.

Damit ein von außen kommendes Molekül eine Zelle beeinflussen kann, muss es von einem spezifischen Membranprotein erkannt werden. Erst 1995 ließ sich ein solcher Rezeptor für ATP aufspüren, vervielfältigen und näher untersuchen. Es war der dritte aus einer Familie von so genannten Purin-Nucleotid-Rezeptoren, die man P2X getauft hatte; folglich erhielt er den Namen P2X3.

Wie sich zeigte, tritt diese für ATP empfängliche Antenne ausschließlich in den Fortsätzen der für die Schmerzempfindung zuständigen Nervenzellen auf. An deren Enden bildet das Protein einen Membrankanal für positiv geladene Ionen, der vermutlich nur dann aufgeht, wenn er ein ATP-Molekül gebunden hat. Öffnen sich mehrere solcher Kanäle, so verschiebt sich die Verteilung der elektrischen Ladungen beiderseits der Membran. Dadurch entsteht ein elektrisches Signal, das die Nervenzelle an das Gehirn weiterleitet. Genau genommen, bildet P2X3 nur einen Teil dieses Kanals: Es tritt in der Membran üblicherweise im Verbund mit anderen Molekülen derselben Art oder mit seinen Verwandten aus der P2X-Familie auf.

Wenn die Blase drückt


Die Arbeitsgruppen von John Wood am Londoner University College und von Debra Cockayne bei der Firma Roche Biosciences in Palo Alto (Kalifornien) haben nun unabhängig voneinander Mäuse untersucht, denen dieser Rezeptor fehlt. Tatsächlich erwiesen sich diese Tiere als weniger empfindlich gegen-über Schmerzen – allerdings nur solchen, die von Gewebeverletzungen herrühren. Dies lässt sich objektiv messen, wenn man beobachtet, wie oft sich das Versuchstier die betroffene Pfote leckt. Auf schmerzhafte Erfahrungen ohne Gewebeverletzungen reagieren Mäuse mit und ohne P2X3 gleich stark.

Doch damit nicht genug: Wie die amerikanischen Forscher bemerkten, urinieren die mutierten Mäuse auch seltener als ihre normalen Artgenossen. Im Einklang mit anderen, bisher wenig beachteten Untersuchungen an isolierten Geweben deutet dies darauf hin, dass ATP auch als Blasendruck-Signal fungiert. Wie das? Offenbar setzt das Epithel, das die Blase einhüllt, ATP frei, wenn es sich ausdehnt. Benachbarte Nervenfortsätze, die mit dem Rezeptor ausgestattet sind, nehmen diese ATP-Ausschüttung wahr und melden sie dem Gehirn als Blasendruck weiter.

Die neuen Erkenntnisse lassen sich vielleicht auch praktisch nutzen. So könnten Hemmstoffe für den ATP-Rezeptor als Schmerzmittel dienen – etwa bei Unterleibsoperationen. Probleme dürfte dabei allerdings bereiten, dass so viele wichtige Körperfunktionen von der Funktion des ATP als Energieträger abhängen. Einen Hemmstoff zu entwickeln, der nur den Schmerz vermittelnden Rezeptor ausschaltet, alle anderen ATP-bindenden Proteine aber unbehelligt lässt, dürfte schwierig sein. Zudem deuten die Ergebnisse des britischen Teams an, dass beim Ausschalten des ATP-Rezeptors verstärkt Entzündungsreaktionen auftreten. All dies lässt befürchten, dass ein solches Schmerzmittel schwere Nebenwirkungen hätte.

Eine weitere überraschende Erkenntnis der britischen Forscher war, dass Mäuse ohne den ATP-Rezeptor offenbar unfähig sind, eine leichte, angenehme Erwärmung zu empfinden; jedenfalls zeigen sie keinerlei neuronale Reaktion darauf. Demnach könnte ATP auch am normalen Temperaturempfinden der Haut beteiligt sein. Eines hat sich damit zumindest gezeigt: Selbst ein kleines Molekül, das schon seit einem halben Jahrhundert in den Lehrbüchern steht, ist durchaus noch für Überraschungen gut. Fragt sich, welche es noch zu bieten hat.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2001, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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