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ATP-Synthase - und sie dreht sich doch

Schon länger wurde vermutet, daß das Enzym, das den zellulären Energieträger Adenosintriphosphat (ATP) aufbaut, während dieses Vorgangs rotiert. Eine solche Drehung haben Biophysiker von der Universität Osnabrück jetzt zumindest bei der umgekehrten Reaktion nachgewiesen der ATP-Spaltung durch das Enzym. Die ATP-Synthase ist somit das kleinste und älteste Rad im Organismenreich.

Lebende Zellen befinden sich in einem hochgeordneten und somit thermodynamisch ungünstigen Zustand. Nur durch stetige Zufuhr von Energie können sie Struktur und Lebensfunktionen aufrechterhalten. Das Beschaffen von Nahrung bestimmt denn auch das tägliche Verhalten der meisten Organismen.

Aus den aufgenommenen Nährstoffen wird durch Verdauung und Stoffwechsel schließlich eine Art universelle Energiewährung der Zellen gewonnen: das Adenosintriphosphat (ATP). Von den einfachsten Bakterien über Pilze und grüne Pflanzen bis hin zu den Tieren und uns Menschen benutzen fast alle Lebewesen das Enzym ATP-Synthase, um diesen Stoff aus den Vorstufen Adenosindiphosphat (ADP) und Phosphat zusammenzusetzen.

Woher die Energie dafür stammt, hat Peter Mitchell vom Glynn-Forschungsinstitut in Bodmin (England) mit seiner chemiosmotischen Theorie erklärt. Bei Pflanzen findet während der Lichtreaktionen der Photosynthese ein Elektronentransport von der Innen- zur Außenseite membranumschlossener Hohlräume, der sogenannten Thylakoide, und eine Übertragung von positiv geladenen Wasserstoff-Ionen (Protonen) in entgegengesetzter Richtung statt. Beides bewirkt, daß sich die Protonenkonzentration im Inneren der Bläschen gegenüber außen erhöht. Mit diesem Konzentrationsgefälle entsteht zugleich eine elektrische Spannung über die Membran hinweg. Die Summe dieser Effekte – die protonenmotorische Kraft – drängt die Wasserstoff-Ionen wieder aus den Thylakoiden heraus.

Doch der Weg nach draußen ist ihnen versperrt: Das einzige Schlupfloch bietet die ATP-Synthase. Deren eine Hälfte, F0, durchspannt die Membran wie eine Art komplexer Tunnel, durch den die Protonen schlüpfen können. Dabei übertragen sie die freiwerdende Energie auf kleine Untereinheiten des Enzyms, die sie in mechanische Bewegung umsetzen und an die zweite große Hälfte der ATP-Synthase, den F1-Teil, weiterleiten (Bild 1).

Dieser enthält drei katalytisch aktive Zentren, die von oben betrachtet um 120 Grad versetzt angeordnet sind. Eines davon ist leer, im zweiten befinden sich die Substrate ADP und Phosphat, und im dritten sitzt fest gebundenes ATP. Nach einer Hypothese von Paul D. Boyer von der Universität von Kalifornien in Los Angeles ruft der Protonenfluß Gestaltänderungen im F1-Teil hervor, die ihrerseits die Bindungseigenschaften der Zentren modifizieren: Das vorher fest gebundene ATP löst sich ab, das leere Zentrum nimmt neues Substrat auf, und das zweite Zentrum bindet die beiden angelagerten Einzelmoleküle ADP und Phosphat fester und bringt sie dadurch so dicht zusammen, daß sie sich spontan zu ATP vereinigen (Bild 2).

Aber welche Art von innerer Bewegung läuft in der ATP-Synthase ab, damit der Fluß von Protonen Veränderungen an den katalytischen Zentren bewirken kann? Von Anfang an lag es nahe, an eine Rotation zu denken. Dafür sprachen vor allem Untersuchungen zur Struktur des Enzyms – etwa die hochaufgelösten Bilder, die mit Röntgenstrahlung an Kristallen des F1-Teils der ATP-Synthase aus Mitochondrien gewonnen wurden ("Nature", Band 370, Seiten 621 bis 628, 25. August 1994). Demnach handelt es sich um einen Zylinder aus sechs großen Untereinheiten mit einer Achse in der Mitte. Sie besteht aus zwei umeinandergewundenen Helices, die eine leichte Krümmung aufweisen. Dadurch hat sie am unteren Ende Kontakt zu den großen Untereinheiten mit den verschiedenen aktiven Zentren (Bild 1). Wenn also die Protonen auf ihrem Weg durch den F0-Teil die Achse zum Rotieren brächten, könnte diese mit ihrer Krümmung die Bindungstaschen im Wechsel aufdrücken und wieder zuschnappen lassen, was die oben geschilderten Vorgänge auslösen würde.

Doch wie läßt sich zeigen, daß Teile eines Moleküls rotieren, das nur zehn millionstel Millimeter groß ist? Statt Membranen mit dem gesamten photosynthetischen Apparat zu benutzen, arbeiteten die Biophysiker Dirk Sabbert, Siegfried Engelbrecht und Wolfgang Junge von der Universität Osnabrück nur mit dem wasserlöslichen Teil der ATP-Synthase ("Nature", Band 381, Seite 623 bis 625, 13. Juni 1996). Er vermag für sich allein zwar kein ATP zu synthetisieren, kann es aber umgekehrt spalten; und es besteht Grund zu der Annahme, daß Synthese und Spaltung nach dem gleichen Mechanismus ablaufen.

Für eine direkte Beobachtung war der F1-Teil allerdings zu klein. Deshalb wurde an ein Ende der frei beweglichen zentralen Achse ein Farbstoff als Sonde gebunden und der äußere Zylinder mit den sechs Untereinheiten an relativ großen Kügelchen fixiert, um thermische Rotationsbewegungen zu verlangsamen. Ein Blitz aus polarisiertem Laserlicht zerstörte alle die Farbmoleküle, die in seiner Polarisationsrichtung orientiert waren. Dadurch blich die anfangs rote Enzymlösung teilweise aus, was sich mit einem schwächeren Meßstrahl beobachten ließ, dessen Lichtwellen in der gleichen Ebene wie der Laserblitz schwangen.

Wenn die Achsen rotierten und dabei unzerstörten Farbstoff in die Beobachtungsrichtung drehten, erschien die Lösung wieder in kräftigerem Rot. Diese Farbänderungen wurden elektronisch verstärkt und mit hoher Zeitauflösung aufgezeichnet. Die Auswertung ergab, daß sich die Achse immer dann drehte, wenn ATP vorhanden war und vom Enzym gespalten wurde. Befand sich in der Lösung dagegen eine Substanz, die dem ATP zwar ähnelte und sich an die katalytischen Zentren binden, aber nicht von ihnen gespalten werden konnte, dann verharrte die Achse unbeweglich in ihrer Position.

Damit war nicht nur die langjährige Streitfrage geklärt, ob die Energie der Protonen innerhalb der ATP-Synthase durch eine Drehung weitergegeben wird, sondern auch der erste Nachweis dafür erbracht, daß Teile von Enzymen überhaupt großwinklige Rotationen gegeneinander ausführen. Alle bisher bekannten Drehungen – wie die Klappbewegung der Hexokinase, die eine Phosphatgruppe an Zuckermoleküle anhängt – blieben im Bereich kleiner Winkel.

Die ATP-Synthase ist fast im gesamten Organismenreich zu finden und von den einfachsten Bakterien bis zu den kompliziertesten Vielzellern gleichartig aufgebaut. Demnach dürfte die Natur schon sehr früh das Rad erfunden und als kleinen Motor für die Energieversorgung in die primitiven Zellen eingebaut haben. Damit ist die ATP-Synthase nicht nur das kleinste, sondern auch das älteste Rad der Welt: ein Motor, von dem das Leben auf der Erde abhängt und der schon seit Urzeiten läuft und läuft und läuft ...


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1996, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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