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Auf den Schultern von Gutenberg. Medienökologische Perspektiven der Fernsehgesellschaft

Quintessenz, Berlin/München 1994.
280 Seiten, DM 48,-.

Dieser Sammelband besteht überwiegend aus Vorträgen auf dem zweiten Medienökologie-Kongreß der "Stiftung Lesen" im Herbst 1992 in Mainz. Er knüpft deutlich an "Die verstellte Welt. Beiträge zur Medienökologie" (Frankfurt 1988) an, die Dokumantation der ersten Tagung zum selben Thema.

Auf beiden Kongressen kamen Vertreter sehr unterschiedlicher Disziplinen zusammen; der Zusammenhang zum Thema ist bei einigen Beiträgen nur recht lose. Während der erste Band einige wissenschaftliche Durchbrüche enthielt, läßt sich das von dem vorliegenden in dem Maße nicht sagen. Immerhin enthalten zwei Beiträge neue Ergebnisse zur Medienwirkung.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Nancy Signorielli von der Universität von Delaware in Newark untersuchte "Medieneinflüsse auf das Gesundheits- und Ernährungsverhalten von Kindern". In der Fernsehwerbung wird überwiegend für stark zuckerhaltige Nahrungsmittel geworben. Dagegen sind die Personen, die sie in den Spots konsumieren, ebenso wie die Stars in Serien, Filmen oder Sportsendungen alle gesund und schlank. Von stereotypen Ausnahmen wie dem fetten Schurken abgesehen, zeigt der Bildschirm keine übergewichtigen Menschen. Das zusammen ergibt die Botschaft: Sei sportlich und schlank und iß, was und soviel du willst. Von dieser offensichtlich irreführenden Aussage fühlen sich – von Heranwachsenden abgesehen – vor allem Frauen angesprochen; Männer setzen sich über das Schlankheitsideal eher hinweg.

Nancy Signorielli kommt – gestützt auf zahlreiche Untersuchungen anderer Autoren – zu dem Schluß, daß dadurch Eßstörungen bis hin zur Bulimie begünstigt würden. Befragungen der Werbewirkungsforscher bestätigen das: Kinder glauben überwiegend, sie müßten, um gesund zu bleiben, die Medikamente nehmen, die sie in der Werbung gesehen hatten, Vitamine schlucken und Cola trinken; und sieben von zehn befragten Kindern meinten gar, Fast Food sei gesünder als das Essen, das sie zu Hause bekommen.

Angesichts solcher Ergebnisse erwarte ich als Leser deutliche Worte an die Adresse derjenigen, die für Werbung und Programminhalte verantwortlich sind. Die bleiben jedoch aus – wie fast immer in solchen Fällen. Statt dessen steht am Schluß eine merkwürdig gewundene Erklärung: "Diese Ergebnisse können die These nicht stützen, daß das Fernsehen oder die Medien allgemein zu ungesunden Angewohnheiten und zu einer mangelnden Kenntnisnahme von Gesundheitsinformationen führen – obwohl sie mit einem solchen Befund im Einklang stehen. Sie weisen jedoch darauf hin, daß diejenigen, die das Fernsehen und die Massenmedien als Hauptquelle für Informationen nutzen, nicht zum gesundheitsbewußten Teil der Bevölkerung gehören." Da drängt sich der Eindruck auf, die Verfasserin wolle den Eindruck zerstreuen, sie hätte das Fernsehen kritisiert. Auf wen oder was wird da Rücksicht genommen?

Im zweiten Beitrag, der hier herausgegriffen sei, wird hinterfragt, warum das Fernsehen in allen Ländern als das mit Abstand glaubwürdigste Medium gilt. Die Autoren Axel Mattenklott und Hans-Bernd Brosius von der Universität Mainz sowie Wolfgang Donsbach von der Universität Dresden gehen von zwei Thesen aus: Zum einen seien Menschen generell sehr an Erklärungen für Ereignisse, die ihr Leben bestimmen oder von denen sie auch nur erfahren haben, interessiert, weil sie glauben, damit Ereignisse besser vorhersehen und vielleicht sogar steuern zu können. Zum anderen verfüge das Fernsehen über Mittel, sowohl menschliche Rezeptionsgewohnheiten wie das Fokussieren – das genaue In-den-Blick-Fassen – zu simulieren als auch dargestellte Ereignisse zu interpretieren, und zwar wirksamer und zugleich unauffälliger als durch einen gedruckten Kommentar.

Die Autoren haben ihre Thesen mit einer geschickten Untersuchung überprüft: Bei einer gestellten Diskussion zwischen zwei Fachleuten über die Vor- und Nachteile der Pflegeversicherung wurde einmal der eine Experte, in der anderen Version sein Kontrahent mehrmals in Großaufnahme gezeigt. Die Zuschauer, ansonsten durchaus kritische Studenten, schrieben regelmäßig dem prominenter Präsentierten die größere Souveränität zu. Dagegen erzielten Nahaufnahmen nervöser Fingerbewegungen die gegenteilige Wirkung.

Fernsehzuschauer suchen also unter anderem tatsächlich Erklärungen für Ereignisse. Aber sie möchten sie am liebsten selbst finden – ein Umstand, auf den die Autoren meines Erachtens nicht genügend hinweisen. Bei den Printmedien sind Nachricht und Kommentar – eine Deutung aus der Sicht eines bestimmten Mensehen – deutlich getrennt. Beim Fernsehen besteht der Kommentar aus arrangierten und von der Regie ausgewählten Blicken durch die Kamera, die der Zuschauer wahrnimmt wie alle anderen Bilder auch.

Dadurch erweckt das Fernsehen beim Zuschauer den Eindruck, er könne durch das Verfolgen der Berichterstattung über ein Ereignis zugleich eine Erklärung dafür finden, ja sogar vom Fernsehen gegebene verbale Kommentare überprüfen. Wenn ein im Fernsehen auftretender Kommentator einen von zwei Experten als den souveräneren bezeichnet und dieser zuvor mehrmals in Großaufnahme auf dem Bildschirm erschienen ist, dann glaubt der Zuschauer aus eigener Anschauung bestätigen zu können, daß der Kommentator recht hat. Folglich hält er das Fernsehen für glaubwürdig und traut sich zu, Abweichungen von der Wahrheit zu bemerken.

Die Kommunikationspsychologin Hertha Sturm von der Universität Koblenz-Landau lieferte einen ergänzenden Befund: Die formalen Angebotsweisen des Fernsehens, zum Beispiel die Schnelligkeit des Bildwechsels, machen es schwer, solche Täuschungen zu durchschauen.

Die Beiträge des Bandes geben einen guten Überblick über die verschiedenen Forschungsrichtungen innerhalb der Medienwissenschaft. Die ausführlichen Literaturangaben erhöhen den Wert des Buches. Der Titel könnte allerdings falsche Erwartungen wecken: Wer "medienökologische Perspektiven der Fernsehgesellschaft" aufzeigen will, der muß heute auch einen Blick auf Multimedia, Internet und virtuelle Realität werfen. In diesem Buch geht es aber allein um das Fernsehen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1996, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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