Direkt zum Inhalt

Editorial: Aus Dreck wird Gold

Redaktionsleiter Dr. Hartwig Hanser

Die beiden stärksten Triebfedern der Wissenschaft sind zum einen der Drang, unsere Welt zu verstehen, sowie zum anderen der Wunsch nach neuen ­Problemlösungen und Anwendungen. Manchmal geht die Forschung aber auch weniger zielstrebige Wege und wird sozusagen beim Stochern in der Mülltonne zufällig fündig. Gleich drei Beiträge in dieser Ausgabe illustrieren die Einfallskraft von Forschern, die es geschafft haben, zunächst wertlos Erscheinendem oder gar Schädlichem einen Nutzen abzuringen – wenn auch manchmal nur auf Umwegen und nach erheblichen Rückschlägen.

Das erste Beispiel stammt aus der Biomedizin. Der Erreger der gefürchteten Tollwut hat eine charakteristische Fähigkeit, die ihn so tückisch macht: Das Virus arbeitet sich von der Infektionsstelle aus über miteinander verbundene Nervenzellen Schritt für Schritt bis ins Gehirn vor. Genau diese Eigenschaft haben Neuroforscher jetzt genutzt, um aus veränderten und entschärften Tollwutviren ein Werkzeug zu schaffen, mit dem sie genau untersuchen können, wie einzelne Nervenzellen untereinander verknüpft sind (S. 36). Der Tollwuterreger hilft ihnen also, die Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen.

Auch das vor gut eineinhalb Jahrzehnten entdeckte und bald als Wunderstoff gehypte Graphen ist zunächst einmal nichts Besonderes; kleine Stücke davon finden sich sogar in ordinärem Ruß. Für die Industrie interessant werden die einschichtigen Lagen aus Kohlenstoffatomen erst ab einer gewissen Größe. Doch trotz immenser Forschungsanstrengungen und finanzieller Investitionen im Rahmen eines EU-Flaggschiff-Projekts hat sich bisher noch keine der revolu­tionären Anwendungen für den 2-D-Kohlenstoff gefunden, die man sich anfangs davon versprach. Hier ist inzwischen der wesentliche Erkenntniszuwachs auf einer viel grundlegenderen Ebene zu finden, wie unser Artikel ab S. 50 beschreibt: Heute untersuchen Wissenschaftler eine ganze Reihe weiterer zwei­dimensionaler Materialien und haben nicht nur viel über diese neue Stoffklasse gelernt, sondern auch einige Substanzen gefunden, die nun als neue, viel versprechende Hoffnungsträger in der angewandten Materialwissenschaft gehandelt werden.

Und sogar im nichtstofflichen Bereich lässt sich aus scheinbar Wertlosem etwas gewinnen. Die Rede ist von visuellen Informationen, die von außerhalb unseres Gesichtsfelds herrühren, aber dennoch – nach Behandlung mit speziellen Algorithmen – überraschend reichhaltige Bilder der Umgebung liefern (S. 58). Ich bin gespannt, welche weiteren Schätze die Forscher künftig in zunächst wenig versprechendem Ausgangsmaterial entdecken werden!

Herzlich, Ihr

Hartwig Hanser

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.