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Ausstellung in Stuttgart: Großsäugetiere des Miozäns

Anhand von 10 bis 20 Millionen Jahre alten Einzelfunden und Skeletten sowie von lebensgroßen Rekonstruktionen gibt die vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart gemeinsam mit dem Naturhistorischen Museum in Toulouse konzipierte Ausstellung Einblicke in Lebensweise und Veränderungen der Tierwelt zu einer Zeit, in der Europa weitgehend die heutige Gestalt annahm.

Spätestens seit den Überlegungen des britischen Naturforschers Charles Darwin (1809 bis 1882) zur Evolution weiß man, daß Leben Veränderung bedeutet. Der Allgemeinheit weniger bewußt geworden ist bisher allerdings, daß dieser Wandel nicht unbedingt als gleichmäßige Strömung vom Fluß der Zeit getragen, sondern – um im Bild zu bleiben – durch Stromschnellen und Stillwasser beeinflußt wird: Phasen beschleunigter Entwicklung können ebenso auftreten wie solche langsameren Fortschreitens bis hin zum zeitweiligen Stillstand in Form von Aussterbeereignissen, die dann zugleich Anlaß zu einer umfassenden Erneuerung von Flora und Fauna geben.

In der Erdgeschichte lassen sich zahlreiche derartige Umwälzungen nachweisen. Die bekanntesten sind die explosive Entfaltung der Tierwelt im Kambrium vor knapp 600 Millionen sowie das Aussterben der Dinosaurier und vieler anderer Tiergruppen an der Kreide-Tertiär Grenze vor 65 Millionen Jahren. Die meisten anderen Ereignisse dieser Art waren gewöhnlich nicht von globalem Ausmaß; eines davon fand im Untermiozän Europas vor 20 bis 17 Millionen Jahren statt: die miozäne Zeitenwende.

Damals kollidierte im Zuge plattentektonischer Bewegungen die afrikanische mit der eurasiatischen Festlandsscholle. Dieses geologische Ereignis zog eine Fülle weiterer Erscheinungen nach sich wie die Bildung von Alpen und Pyrenäen, Vulkanismus im heutigen süddeutschen Raum und das zeitweilige Vordringen des Meeres bis nach Mitteleuropa. All diese Einzelfaktoren beeinflußten wiederum die klimatischen Verhältnisse, die ihrerseits direkt auf die Organismen einwirkten. So hatte bei gegenüber heute insgesamt wärmeren Bedingungen der endgültige Rückzug des Meeres aus Mitteleuropa vor etwa 17 Millionen Jahren einen Übergang von relativ ausgeglichenem, maritimem zu einem mehr saisonalen, kontinentalen Klima zur Folge. Wenn uns ein Blick ins Miozän mit seinen Nashörnern, Rüsseltieren und anderen eigenartigen Tiergestalten zunächst einmal wie ein Ausflug in tropische Gefilde vorkommt, so hat das direkt mit diesen klimatischen Voraussetzungen zu tun.

Fast noch wichtiger für den Wechsel in der Faunenzusammensetzung aber war die Eröffnung neuer Landverbindungen und damit neuer Ausbreitungswege für die Tierwelt; denn Europa, das zur Miozänzeit (vor allem während des untermiozänen Meereshochstandes) geographisch weit stärker untergliedert war als heute, ist im Grunde nicht viel mehr als eine riesige Halbinsel der eurasiatischen Landmasse – freilich eine, in die durch die Ereignisse im Untermiozän auch im Wortsinne Bewegung kam.

Über die neu entstandenen Landverbindungen drangen neue Faunenelemente nach Europa vor, aus Afrika zum Beispiel Rüsseltiere, Affen und Säbelzahnkatzen, aus Asien Pferde und Hirschartige. Die in mehreren Wellen stattfindende Einwanderung hatte ein kompliziertes Wechselspiel von Verdrängung und Anpassung zur Folge, in dessen Verlauf ein großer Teil der zuvor in Europa ansässigen altertümlichen Tierwelt verschwand und gewissermaßen durch moderne Elemente ersetzt wurde. Es gab aber durchaus einheimische Gruppen, die sich gegenüber den neu hinzukommenden behaupten konnten wie etwa die Bärenhunde (Amphicyoniden) unter den Raubtieren; und andererseits vermochten sich nicht alle Neuankömmlinge durchzusetzen, wie das Beispiel des riesigen Urraubtieres Hyainailouros zeigt, das aus Afrika nach Europa gelangte und dort bereits binnen kurzem als letzter Sproß einer im Alttertiär über mehr als 40 Millionen Jahre erfolgreichen Raubsäugerordnung ausstarb. Schließlich ermöglichten es die Veränderungen der Miozänzeit umgekehrt auch einigen europäischen Arten wie etwa bestimmten Nashörnern, nach Afrika vorzudringen.

Man kann die miozäne Zeitenwende sogar mit Fug und Recht als die Geburtsstunde unserer aktuellen Säugetierwelt bezeichnen, denn von da an sind sämtliche heutigen Säugerfamilien in der Fossildokumentation nachgewiesen.

Die Ausstellung greift zwei geographische Gebiete – das Pyrenäenvorland und das nördliche Alpenvorland – heraus, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der miozänen Verhältnisse in Süd und Mitteleuropa zu verdeutlichen. An etwa 30 Beispielen wird die Zusammensetzung der Großsäugerfauna vor und nach der miozänen Zeitenwende demonstriert.

Viele der gezeigten Tiergestalten erscheinen uns ungewöhnlich und bizarr. Ihre Rekonstruktion erforderte minutiöse Forschungsarbeit, die sich ihrerseits wieder auf die Ergebnisse großer Grabungen stützen konnte. Deren Bedeutung für eine zunehmend genauere Einsicht in viele Millionen Jahre zurückliegende Zeiträume wird dadurch nachdrücklich hervorgehoben.

Dennoch können auch Einzelfunde wichtige Erkenntnisse liefern: In der Ausstellung ist der älteste Menschenaffenbeleg aus Europa, ein Zahn eines Dryopitheciden aus dem Übergangsbereich vom Unter zum Obermiozän, zu sehen – ein Fund, der vermehrtes Interesse dadurch gewinnt, daß in neuerer Zeit verschiedene Forscher den Ursprung des Menschengeschlechts in dieser Gruppe suchen.

Die Ausstellung "Zeitenwende – Großsäugetiere des Miozäns" zeigt das Staatliche Museum für Naturkunde in Stuttgart vom 15. Mai bis zum 31. Oktober 1996 im Löwentormuseum. Sie ist dienstags bis freitags von 9 bis 17 Uhr, samstags, sonntags und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Eine reich illustrierte Begleitbroschüre liegt vor.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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