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Autismus. Ein kognitionspsychologisches Puzzle


"Autismus" ist der psychologische Terminus für ein sonderbares Verhalten – abgeleitet vom Kardinalsymptom, der autistischen Isolation (autistic aloneness) oder subtilen psychischen Einsamkeit. Das internationale Krankheiten-Klassifikationsschema der Weltgesundheitsorganisation nennt als Kriterien qualitative Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Beziehungen, Beeinträchtigung der Kommunikation und der Phantasie sowie ein deutlich eingeschränktes Repertoire von Aktivitäten und Interessen.

Die Störung zeigt sich recht früh, aber selten vor dem dritten Lebensjahr. Autistische Kinder scheinen taub für die Gefühle anderer Menschen; sie schweigen oder spulen eintönige Monologe herunter, ohne die Worte anderer zu berücksichtigen. Veränderungen in der Umgebung oder im Alltagsablauf können sie in Panik stürzen. Zuweilen verblüffen sie durch skurrile Fähigkeiten, etwa durch perfektes Repetieren zurückliegender kalendarischer Fakten. Auch präzises Klavierspiel, nicht selten absolutes Gehör, perfektes Abzeichnen von räumlichen Gebilden oder unverzügliches Benennen der Lösung komplizierter Rechenaufgaben zählen zu ihren inselartigen Begabungen. Ihr reines Wesen und ihre zarte Schönheit lassen Eltern und Erzieher häufig zögern zu glauben, daß mit ihrem Kind etwas nicht stimmen soll.

Uta Frith, Psychologieprofessorin am University College in London, skizziert zunächst den bisherigen Forschungsstand. Den Begriff Autismus (von griechisch autos, selbst) prägte um 1911 der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler. Er faßte die Krankheit als markantes Symptom der Schizophrenie auf, nämlich als totalen Rückzug aus dem sozialen Gefüge und Beschränkung auf sich selbst.

Die deutschbürtige Autorin zitiert und kommentiert die ersten ausführlichen Beschreibungen autistischer Kleinkinder von Leo Kanner (Baltimore) 1943 und Hans Asperger (Wien) 1944. Sie weist Überinterpretationen aus psychoanalytischen Autismus-Theorien zurück, die in unbewußter Ablehnung des Kindes und mangelnder emotionaler Fürsorge durch die Eltern (nach dem Zerrbild "eiskalte Mutter"), also in schuldhaftem Versagen der Umwelt, die Ursache suchen. Auch soziale Deprivation schließt sie als Ursache aus; hier führt sie gut dokumentierte Fälle an wie die sogenannten Wolfskinder, die ohne jeden menschlichen Kontakt aufwuchsen, den "wilden Knaben von Aveyron", einen etwa zwölfjährigen Jungen, der Ende des 18. Jahrhunderts verwildert in einem Wald in Frankreich aufgefunden wurde, den sprichwörtlich gewordenen Kaspar Hauser und "Genie", ein Mädchen, das 1970 nach 13 Jahren extremer physischer und sozialer Deprivation gefunden wurde. Sie alle zeigten Verhaltensauffälligkeiten, waren aber keine Autisten.

In Märchen- und Phantasiefiguren wie Schneewittchen, Bruder Ginepro, Sherlock Holmes, Pin Ball Wizard oder dem Rainman des gleichnamigen Films sieht Uta Frith Versuche, mit dem Phänomen Autismus zurechtzukommen: "Die unheimliche Kombination von kindlicher Unschuld und Wahnsinn schreit förmlich nach symbolischer Ausarbeitung." Gleich einer Maschine, die Aufgaben, auf die sie spezialisiert ist, ohne Rücksicht auf den Kontext, präzise und in stereotyper Folge ausführt, fehlen den Autisten emotionaler Ausdruck, spontane Verspieltheit und Verständnis für menschliche Gefühle bei sich selbst und anderen. Sie haben keinen Sinn für Humor und verstehen alles wortwörtlich.

Nach verschiedenen Untersuchungen gibt es unter 10000 Kindern im Mittel 4,5 bis 10 Autisten. Sie sind häufig geistig retardiert: 70 Prozent erzielen in Tests nur Intelligenzquotienten unter 70; Jungen sind ungefähr fünfmal so oft betroffen wie Mädchen. Diese Befunde deutet Uta Frith als Hinweis auf den biologischen Ursprung des Autismus als einer geistigen Retardierung. Berichte über Gehirnautopsien, Computertomographien oder psychophysiologische Studien über autonome Funktionen liefern bisher nur Indizien (zum Beispiel für die Dopaminsystem-Theorie).

Uta Frith favorisiert daher einen anderen Erklärungszugang (vergleiche ihren Artikel in Spektrum der Wissenschaft, August 1993, Seite 48): Sie setzt auf kognitionspsychologische Experimente. Mittels mustergültiger Designs weiß sie zu zeigen, daß die exzellente Fähigkeit autistischer Kinder zum Lösen von Puzzles oder zum Bewältigen des Mosaiktests im Hamburg-Wechsler-Intelligenztest auf Präferenzen zum Zerlegen und Distanzieren von Einzelmomenten beruht. Jene auf lokaler Ebene ausgeprägte Fähigkeit zur Synopsis von Fakten versagt auf der höchsten Ebene, wo es um die Metarepräsentation von Fakten geht. Autisten scheinen wegen dieser Schwäche in der zentralen Kohärenz Schwierigkeiten mit der Verarbeitung komplexer Umweltinformationen zu einem bedeutungshaltigen Ganzen zu haben. Sie können nicht so tun, als ob etwas es selbst und zugleich auch ein anderes wäre. Dieses kognitive Defizit schmälert ihre Fähigkeit, sich in andere und durch jene Partner wiederum in sich selbst hineinzuversetzen, mit Entwicklungsmöglichkeiten im Fokus von "Ich" und "Du" zu spielen und eine gemeinsame Beziehungswelt zu ko-konstruieren. Sie bleiben auf die egozentrische Perspektive beschränkt. Daraus erklärt sich, daß sie zum intuitiven Einfühlen in die Seelenlage des Partners fast unfähig sind.

Diese Hypothese wird nicht zuletzt durch Experimente gestützt, in denen das Kind eine Geschichte nach Bildsequenzen erzählen soll. Autistische Kinder können mechanische und verhaltensbezogene Szenenfolgen exakt wiedergeben. Gegenüber der Kontrollgruppe geistig behinderter Kinder scheitern sie jedoch beim Hineindenken in die Gefühlswelt eines getäuschten Kindes.

Der Versuch der Forscherin, in langjähriger, sorgfältiger Arbeit einem Rätsel nachzuspüren, das über die Betroffenen hinaus Bedeutung für die Zukunft der Menschlichkeit in einer nach technischen Maßstäben ausgerüsteten Welt hat, rechtfertigt es, das Buch als spannende wissenschaftliche Lektüre einem breiterem Leserkreis zu empfehlen. Allerdings hätte ich mir gewünscht, verworfene Autismus-Konzepte, die durch sozialpädagogische Erfahrung in Einzelfällen gestützt sind, zumindest unter den Literaturverweisen zu finden.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1994, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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