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Autismus

Ein Defekt im Stammhirn ist Symptom, wenn nicht Ursache der schweren Behinderung

Noch ist rätselhaft, wodurch frühkindlicher Autismus entsteht. Möglicherweise beeinträchtigt eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung im Stammhirn sehr früh in der Schwangerschaft die normale Hirnreifung und die Ausbildung sozialen Verhaltens.


Schon als Klaus noch kein Jahr alt war, hatten seine Eltern das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Schaute er sie überhaupt an? Spielte er normal wie andere Kinder? Offenbar nicht: Am liebsten haute er einfach immer nur mit einem Bauklotz auf den Boden. Schlug ein Spielpartner ihm etwas anderes vor, ging er darauf nicht ein. Er schien sich nicht zu freuen, wenn jemand zu ihm kam. Überhaupt mochte er anscheinend nicht mit Menschen nach Babyart mit Lauten, Gesten und Mimik „reden“. Als er drei Jahre alt war, diagnostizierten die Ärzte Autismus. Klaus bevorzugte immer noch ganz monotone Spiele – etwa Murmeln einzeln aus einem Gefäß in ein anderes zu legen –, ließ sich kaum ansprechen, regte sich aber jedes Mal sehr auf, wenn die Eltern einen gewohnten Handlungsablauf etwas abänderten. Sprechen konnte der Dreijährige noch fast gar nicht.

Über die Ursachen des so genannten frühkindlichen Autismus rätselt die Wissenschaft seit mehr als einem halben Jahrhundert – seit der amerikanische Kinderarzt Leo Kanner die komplexe Verhaltensstörung 1943 erstmals als eigene Symptomatik beschrieb. (Den Begriff „Autismus“ prägte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler schon 1911, vor allem für bestimmte Symptome bei Schizophrenie. Er meinte damit das Sichabsondern und Sicheinspinnen der Kranken.)

Im Unterschied zu anderen Formen macht sich ein frühkindlicher Autismus – wie im geschilderten Fall – mit seinen vielen, durchaus variablen Symptomen weitgehend bereits im Kleinkindalter bemerkbar. Autistische Kinder sind unfähig, die Gefühle und Stimmungen anderer Personen zu erkennen. Sie merken nicht, ob jemand ärgerlich oder traurig ist. Auch Absichten von anderen erkennen sie nicht, genauso wenig Täuschungsmanöver oder Spaß. Sofern sie überhaupt sprechen, können sie das oft schlecht. Doch selbst bei recht guter Sprachbeherrschung fällt es diesen Kindern auffallend schwer, mit jemandem ein Gespräch anzufangen oder eines weiterzuführen.

Bezeichnend für frühkindlichen Autismus ist auch die Neigung zu Stereotypien: Das Kind tut viele Male hintereinander genau das Gleiche, jeden Tag wieder, auch wenn es schon größer ist. Dies sind meist sehr simple Handlungen, etwa alle Klötze in eine Reihe sortieren, die Finger in bestimmter Weise bewegen, sich schaukeln. Und ein autistisches Kind beharrt viel stärker als andere auf dem Gewohnten: Ist irgendetwas im Zimmer anders als sonst, gar ein Möbelstück umgestellt, macht es Terror. Oft bildet es sehr spezielle Interessen aus, etwa Knöpfe oder Gummibänder sammeln.

Solches Verhalten macht ein normales Zusammenleben zu Hause wie anderswo fast unmöglich. Wie soll man ein Kind in eine Schulklasse eingliedern, das einfach nicht aufhören will, mit dem Kopf auf den Tisch zu hämmern? Wie kann jemand Freunde finden, der sich für nichts außer Kalender interessiert? Besonders schwierig ist die soziale Integration, wenn das Kind außerdem geistig zurückgeblieben ist – und das gilt für die meisten von ihnen. Intensive Verhaltenstherapien helfen vielen autistischen Kindern zwar. Aber selbstständig leben kann ein Großteil von ihnen später trotzdem nicht, auch bei ansonsten normaler Intelligenz.

Frühkindlicher Autismus bleibt lebenslang eine schwere Behinderung. Wissenschaftler verschiedenster Forschungsrichtungen suchen deswegen dringend die Hintergründe dieser Entwicklungsstörung aufzuklären. Ich selbst bin erst vor einigen Jahren – eher zufällig – dazu gestoßen. Als Embryologin erforsche ich verschiedenste angeborene Missbildungen des Gehirns. Mein Interesse am Autismus weckte 1994 ein Vortrag auf einem Kongress. Die beiden Kinderaugenärztinnen Marilyn T. Miller von der Universität von Illinois in Chicago und Kerstin Strömland von der Universität Göteborg (Schwe-den) berichteten über Störungen bei Contergan-Geschädigten bei manchen Augenbewegungen. Der in Contergan und anderen Medikamenten enthaltene Wirkstoff Thalidomid, der eine Zeit lang auch Schwangeren verschrieben wurde, hatte um 1960 bei Kindern teils schwerste Missbildungen der Gliedmaßen verursacht. In der Bundesrepublik überlebten rund 2600 von ihnen. Offensichtlich schädigte Thalidomid den Embryo in den ersten Schwangerschaftsmonaten, wenn sich Arme und Beine ausbilden. (Das Schlaf- und Beruhigungsmittel wurde deswegen 1962 aus dem Verkehr gezogen; seit neuerem wird es jetzt aber gegen Lepra eingesetzt.)

Bei ihren Studien an mittlerweile erwachsenen Contergan-Opfern aus Schweden fiel den beiden Medizinerinnen auf, dass jeder Zwanzigste der Betroffenen auch Autismus aufwies. Das ist dreißigmal so oft wie sonst in der Bevölkerung, doch anscheinend hatte bis dahin noch niemand den Zusammenhang bemerkt.

Was ich hörte, traf mich wie ein Schlag. So früh in der Schwangerschaft hatten Forscher bisher nicht nach den Ursachen von Autismus gesucht. Sie fahndeten vielmehr nach Entwicklungsstörungen in der späten Schwangerschaft oder im frühen Säuglingsalter. Doch aufschlussreiche Hinweise auf die Zeit kurz vor oder nach der Geburt blieben bisher aus – und damit auch Erkenntnisse über mögliche Risikofaktoren und Ideen zu neuen Therapieansätzen.

Mir fiel in diesem Augenblick eine Studie über embryonale Entwicklung ein, die vielleicht auf die richtige Spur führte. Sollten die Weichen bei Autismus tatsächlich schon in den allerersten Schwangerschaftswochen gestellt werden, wenn sich das Gehirn und das übrige Nervensystem gerade zu entwickeln beginnen? Wenn das stimmte, dachte ich aufgeregt, müsste das Rätsel des Autismus in Kürze zu lösen sein.

Mindestens sechzehn von zehntausend Kindern – oder 0,16 Prozent – werden mit dem Schicksal Autismus oder einer teilweise ähnlichen tiefgreifenden Störung geboren. (Vom eingangs geschilderten „frühkindlichen Autismus“ unterscheiden Mediziner mehrere andere verwandte Entwicklungsstörungen, so das „Asperger-Syndrom“, auch „kindlicher Autismus“ genannt; siehe Kasten unten). Für Deutschland geben Statistiken mehr als 30000 erwachsene Autisten an.

Schon früh hatten Ärzte den Verdacht, dass frühkindlicher Autismus eine biologische Basis hat. In einem gewissen Grade tritt die Störung nämlich familiär gehäuft auf; allerdings ist das Vererbungsmuster ziemlich undeutlich. Für Geschwister von Autisten liegt das Risiko eines gleichen Schicksals zwischen 3 und 8 Prozent, also wesentlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt. (Das Risiko für Geschwister betrüge 50 Prozent, wenn die Behinderung von einem einzelnen mutierten Gen verursacht würde, das von einem der Eltern stammte und dominant wäre; ein Risiko von 25 Prozent bestünde bei einer entsprechenden rezessiven Mutation, denn dann müsste je ein fehlerhaftes Gen von beiden Eltern zusammentreffen.) Bei Autismus scheinen demnach verschiedene Gene beteiligt zu sein. Psychiater beobachten außerdem, dass mitunter Verwandte eines Autisten zwar nicht alle für die Störung typischen Symptome zeigen, aber doch einige davon. Möglicherweise besitzen diese Personen einige der betreffenden Gene, aber die Veranlagung prägt sich nicht voll aus.

Dass bei Autismus eine erbliche Komponente mitwirkt, bestätigen Erhebungen an eineiigen Zwillingen in Großbritannien. Wenn einer des Paares autistisch ist, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür beim anderen Zwilling 60 Prozent – und immerhin 86 Prozent, dass er zumindest einige der Symptome zeigt. Dies bedeutet aber auch, dass die genetische Disposition nicht allein Ursache ist. Sonst müssten bei eineiigen Zwillingen wegen des identischen Erbguts stets beide autistisch werden.

Die Mediziner haben schon einige Umweltfaktoren als Autismus-Risiko erkannt: zum Beispiel Röteln der Mutter in der Schwangerschaft, keimschädigende Substanzen wie Alkohol, oder Valproinsäure (ein Wirkstoff gegen Epilepsie). Auch manche Erbkrankheiten bedeuten eine Gefahr: etwa Phenylketonurie (ein Enzymdefekt im Aminosäureumsatz) oder tuberöse Hirnsklerose. Jedoch tritt ein Großteil der Autismus-Fälle offensichtlich unabhängig von diesen Risiken auf. Im Übrigen müssten gerade zweieiige Zwillinge betroffen sein, wenn Umweltfaktoren vorrangig wären. Wir dürfen auch nicht ausschließen, dass irgendwelche subtilen Einflüsse noch übersehen oder unterschätzt wurden. Es wird schwierig sein herauszufinden, wie all die möglichen Einflüsse – erbliche und umweltbedingte – bei einigen Personen so zusammenwirken, dass sie autistisch werden, während andere verschont bleiben. Schon dieses variable Bild macht die Ursachenforschung sehr schwierig.

Seit 1994 steht nun auch der Contergan-Wirkstoff Thalidomid auf der Liste der verdächtigen Stoffe. Alle von Miller und Strömland untersuchten Contergan-Geschädigten wiesen einige der Missbildungen auf, wie sie für Thalidomid so berüchtigt sind: verkrüppelte Gliedmaßen, fehlende oder verkrüppelte Daumen, missgebildete oder fehlende Ohren, neurologische Defekte an Auge und Gesichtsmuskulatur. Weil Wissenschaftler den Zeitpunkt in der Schwangerschaft kennen, an dem sich die verschiedenen Organe und Körperteile bilden, wissen sie, in welchem Alter des Embryos eine bestimmte Missbildung ausgelöst worden sein muss. Für den Daumen beginnt die kritische Zeit am zweiundzwanzigsten Tag nach der Empfängnis, für die Ohren sind es die Tage 20 bis 30, für Arme und Beine die Tage 25 bis 35 (Bild links).

An der Studie von Miller und Strömland fand ich besonders aufschlussreich, dass die meisten dieser Autisten normal gewachsene Gliedmaßen besaßen, jedoch Missbildungen am äußeren Ohr aufwiesen. Demnach war der Defekt schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt ausgelöst worden, nämlich zwischen Tag 20 und 24 nach der Empfängnis – wenn die Mutter um die Schwangerschaft oft noch gar nicht weiß.

Der Zeitpunkt der Schädigung sagt einem Embryologen bereits sehr viel. Kennt er ihn, kann er daraus folgern, was in der Entwicklung schief gegangen sein muss. Bei den Teilnehmern der schwedischen Studie lag die kritische Zeit, in der offenbar Autismus induziert wurde, mit der vierten Schwangerschaftswoche in einer Phase, in der gerade die ersten Nervenzellen entstehen. Die meisten davon sind Motoneuronen von Hirnnerven. Und zwar steuern sie – später – die Muskeln von Auge, Ohr, Gesicht, Kiefer, Rachen und Zunge. Ihre Zellkörper sitzen im Hirnstamm, also zwischen dem Rückenmark und dem übrigen Gehirn. Zur selben Zeit wie diese Motoneuronen entwickeln sich die Ohrmuscheln und der äußere Gehörgang. Das ließ erwarten, dass die Thalidomid-geschädigten Autisten auch an Funktionsstörungen der Hirnnerven litten – was Miller und Strömland mir dann auch bestätigten. Alle Betroffenen wiesen in Mimik oder Augenbewegungen Anomalien auf, manche in beidem.

Entscheidend war nun natürlich die Frage, ob der auf Thalidomid zurückgehende Autismus mit dem frühkindlichen unbekannter Ursache vergleichbar ist. Dafür sprachen neben den viel beschriebenen Verhaltenssymptomen auch bestimmte wenig auffällige – bisher in der Forschung wenig beachtete – Körpermerkmale sowie kleinere physische und neurologische Besonderheiten. Diese Anomalien sind die gleichen wie bei den autistischen Contergan-Geschädigten.

Im Aussehen wirken Autisten auf andere Menschen meist normal und oft auffallend attraktiv. Sie sind auch von normaler Statur und haben einen nor-mal, eher überdurchschnittlich großen Kopf. Schaut man allerdings genauer hin, fällt oft beispielsweise eine leichte Fehlbildung des äußeren Ohres auf. Insbesondere dreht sich das Ohr dann etwas, so dass sich die Ohrspitze um mehr als 15 Grad nach hinten weist. Kleine Abweichungen in der Ohrbildung kommen bei autistischen Kindern häufiger vor als bei anderen, auch häufiger als bei ihren gesunden Geschwistern und als bei geistig behinderten Kindern. Störungen der Augenbewegungen haben Neurologen schon früher mit Autismus in Zusammenhang gebracht. Das Fehlen der Mimik gilt sogar als eines der diagnostischen Verhaltenssymptome.

Nun scheint es nicht sehr plausibel anzunehmen, dass die vielen Symptome des Autismus sämtlich direkt auf Defekte der Hirnnerven zurückgehen. Denkbar wäre aber, dass ein früher Hirnschaden sowohl die Hirnnerven beeinträchtigt als auch später die weitere Differenzierung des Gehirns. Der mutmaßliche Defekt im Hirnstamm würde dann also sekundär die Entwicklung und Vernetzung anderer Hirnregionen beeinflussen, unter anderem Gebiete für höhere Funktionen wie Sprache. Dadurch erst kämen dann die Verhaltenssymptome des Autismus zu Stande.

Genauso gut allerdings könnten die Missbildungen am Ohr wie die Funktionseinbußen der Hirnnerven beides nur Randeffekte eines noch nicht erkannten ganz anders gearteten Defekts sein, der zugleich für den Autismus verantwortlich ist. Festzuhalten bleibt aber: Bei Autismus unbekannter Ursache treten weitgehend dieselben Anomalien auf wie bei einem Autismus durch Thalidomid. Und hieraus folgt, dass die Weichen für einen frühkindlichen Autismus häufig, wenn nicht immer, ganz früh in der Schwangerschaft gestellt werden.

Gerade den Hirnstamm haben Autismusforscher bisher selten in Betracht gezogen, genauso wenig wie übrigens bei anderen Hirnschäden, die schon bei der Geburt bestehen. Dies ist erklärlich: Neurobiologen betrachten diesen Gehirnteil vereinfacht ausgedrückt als Schaltzentrale für die ganz grundlegenden Lebensfunktionen wie Atmung, Nahrungsaufnahme, Gleichgewichtsregulation oder Bewegungskoordination. Diese basalen Mechanismen scheinen bei Autisten aber zu funktionieren. Die auffälligen, am meisten beachteten Verhaltensstörungen betreffen hingegen „höhere“ Hirnfunktionen. Die Kontrolle über Leistungen wie Sprache, zielgerichtetes, planhaftes Denken und soziale Wahrnehmung schreiben Hirnforscher Zentren im Vorderhirn zu, Gebieten der Großhirnrinde etwa oder dem Hippocampus.

Allerdings wirken andere bei Autisten oft gestörte Funktionen eher, als sei der Ursprung in Hirnregionen zu suchen, die mit Basisfunktionen betraut sind. Dazu zählen die weitgehend fehlende Mimik, die Überempfindlichkeit gegenüber Berührungen und Geräuschen und auch die typischen Schlafstörungen. Im Übrigen ergaben Gehirnstudien als häufigsten Befund nicht etwa anatomische Abweichungen im Vorderhirn. Viel öfter fiel eine verminderte Neuronenzahl im Kleinhirn auf, jenem großen „Rechenzentrum“ des Hinterhirns, das unter anderem für die Steuerung der Muskelbewegungen unerlässlich ist – und nach neueren Erkenntnissen noch einiges mehr kann.

Wie nämlich eine Arbeitsgruppe um Eric Courchesne von der Universität von Kalifornien in San Diego feststellte, werden Teile des Kleinhirns bei bestimmten Testaufgaben aktiviert, die durchaus anspruchsvolle Kognitionsleistungen erfordern. Die Neurowissenschaftler haben über den Sitz vieler Gehirnfunktionen und deren Kontrolle noch immer vage und teils strittige Vorstellungen. Teils wissen sie selbst über die Aufgabenteilung zwischen „höheren“ und „niederen“ Zentren noch wenig. Schon deswegen tun sie sich damit schwer, zu erkennen, welche Gehirngebiete beim Autismus einbezogen sein könnten.

Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Komplexität der Symptome von Autismus. Wären die abweichenden Verhaltensmuster schlichter, ließe sich deren Ursache im Gehirn sicherlich leichter finden. Nach neueren Forschungen zeigen Autisten wohl auch leicht diagnostizierbare typische Verhaltensreaktionen (siehe Kasten oben).

1995 konnten meine Kollegen und ich Präparate vom Hirnstamm einer Autistin untersuchen, die in den siebziger Jahren als junge Frau verstorben war. Eine Ursache für ihre Behinderung war nicht bekannt gewesen. Was wir entdeckten, überraschte uns einigermaßen: Der Facialiskern, der die Muskulatur der Mimik steuert, war nur rudimentär vorhanden, und der obere Olivenkern, eine Schaltstelle für Hörinformation, schien ganz zu fehlen. Beide Kerngebiete entstammen demselben Segment des Neuralrohrs, aus dem während der Embryonalentwicklung Gehirn und Rückenmark entstehen. Im Facialiskern der jungen Frau zählten wir nur etwa 400 Neuronen – in dem gleichen Kern eines Nichtautisten hingegen 9000.

Dabei hatte das Gehirn der autistischen Frau normale Größe. Es war etwas schwerer als der Durchschnitt. Ich nahm zunächst an, im Hirnstamm würden nur die Neuronen der beiden Kerngebiete fehlen. Um dies zu bestätigen, vermaß ich die Abstände zwischen einigen anatomischen Fixpunkten. Das brachte wieder eine große Überraschung. Zwar stimmten die Querabstände – parallel der Verbindungslinie rechtes/linkes Ohr – mit den üblichen Maßen überein. Doch entlang der Längsachse war der Hirnstamm deutlich verkürzt – als hätte jemand eine Scheibe aus ihm herausgeschnitten und die beiden Enden wieder nahtlos zusammengefügt.

Wo nur hatte ich so etwas schon einmal gesehen? Dann fiel es mir ein, und vor Aufregung wurde mir wieder ganz schwindelig wie damals bei dem Vortrag: In irgendeinem der Papierberge auf dem Fußboden meines Büros musste die Arbeit stecken, in der abnorme Mäusegehirne mit in ähnlicher Weise verkürztem Hirnstamm abgebildet waren.

Ich fand den Artikel schließlich und sah, dass die Übereinstimmung noch frappierender war als in meiner Erinnerung. Auch die Mäusegehirne wiesen nicht nur die Verkürzung auf, sondern auch bei ihnen war der Facialiskern stark reduziert, und der obere Olivenkern fehlte. Die Ähnlichkeit mit Defekten bei Autismus ging noch weiter: Diese Mäuse hatten ebenfalls missgebildete Ohren gehabt. Außerdem fehlte ihnen eine der Hirnstrukturen zur Steuerung der Augenbewegungen.

Die Fehlbildungen bei den Nagern hatten eine bekannte Ursache. Es handelte sich um gentechnisch manipulierte Tiere, und zwar um so genannte Knockout-Mäuse. Die Genetiker hatten den Erbfaktor Hoxa1 ausgeschaltet, eines der „Entwicklungskontrollgene“, um seine Rolle bei der Embryonalentwicklung zu untersuchen. War dies eine der Erbanlagen, die am Autismus beteiligt sind?

Nach dem, was ich der Fachliteratur entnahm, schien es ein geeigneter Kandidat zu sein. Gleich mehrere Studien zeigten, dass dieses Gen bei der Entwicklung des Hirnstamms eine zentrale Rolle spielt. Eine Arbeitsgruppe in Salt Lake City und eine in London hatten mit verschiedenen Stämmen von Knockout-Mäusen die gleichen Ergebnisse erzielt. Das Gen Hoxa1 ist bei den Tieren im Bereich des späteren Hirnstamms gerade in der frühen embryonalen Phase aktiv, in der die ersten Neuronen entstehen – entsprechend jener kritischen Zeit beim Menschen, in der Thalidomid wahrscheinlich Autismus auslöste.

Hoxa1 codiert für einen „Transkriptionsfaktor“, ein Protein, das die Aktivität anderer Gene moduliert. Was besonders wichtig ist: Nach der frühen Embryonalentwicklung wird dieses Gen nirgends mehr abgelesen. Mutationen in lebenslang benötigten Genen – wie viele es sind – führen gewöhnlich zu Problemen, die sich mit zunehmendem Alter verstärken. Ein Autismus jedoch bleibt, abgesehen von der Kindheit, in späteren Jahren offenbar weitgehend unverändert. Als Erklärung für eine solche angeborene Störung kommen deshalb eher Gene in Frage, die nur in der frühen Entwicklung abgelesen werden.

Hoxa1 zählen Genetiker zu den „hochkonservierten“ Genen: Die Abfolge seiner DNA-Bausteine hat sich im Laufe der Evolution kaum geändert. Wahrscheinlich ist dies ein Kennzeichen absolut überlebenswichtiger Gene. Von Mutationen bleiben auch sie wie alle Gene zwar nicht verschont. Doch in den allermeisten Fällen hat dies bei ihnen so fatale Folgen, dass die Individuen nicht lebensfähig sind. Nur selten werden deswegen irgendwelche Veränderungen an diesen Genen weitervererbt.

Hochkonservierte Gene treten, wahrscheinlich aus diesen Gründen, gewöhnlich nur in einer Version auf, nicht in mehreren Allelen wie beispielsweise die Gene für die Augenfarbe oder die Blutgruppe. Auch von Hoxa1 hatten Genetiker bisher bei keiner Säugetierart mehr als eine Version gefunden. Bestanden da beim Menschen überhaupt Aussichten? Würden wir bei Autisten zusätzliche Allele finden? Andererseits: Falls es eine solche Allelvariante gab, kam sie als einer der Auslöser für die Entwicklung von frühkindlichem Autismus durchaus in Frage.

HOXA1, so kennzeichnet man das menschliche Pendant des Mäuse-Kontrollgens, liegt auf Chromosom 7. Es handelt sich um ein ziemlich kleines Gen mit nur zwei Protein codierenden Regionen („Exons“). Andere Genabschnitte regulieren das Ausmaß der Proteinproduktion oder haben keine erkennbare Funktion. Zwar kann jede Abweichung von der normalen Sequenz irgendwo auf einem Gen seine Funktion beeinträchtigen. Aber die meisten krankheitsauslösenden Mutationen sitzen auf den Protein codierenden Abschnitten. Darum untersuchten wir zunächst diese Sequenzen. Wir extrahierten dazu die DNA aus Blutproben von Autisten und verglichen sie mit der anderer Personen.

Was wir kaum zu hoffen gewagt hatten: Zum Gen HOXA1 tauchten gleich zwei Varianten auf, also zwei weitere Allele. Bei einem davon weicht die Sequenz in einem der beiden Exons minimal ab, und zwar so, dass auch das davon abgelesene Protein etwas verändert ist. (Die zweite Allelvariante lässt sich schwerer untersuchen, weil auch die physikalische Struktur der DNA dieses Gens verändert ist.)

Wir haben das Vorkommen der ersten Allelvariante genauer erforscht. Und tatsächlich besaßen Autisten diese Variante signifikant häufiger als nichtautistische Angehörige, ebenso als nichtverwandte nichtautistische Personen. Das konnte kein Zufall sein.

Einschränkend bleibt aber festzuhalten, was die Vererbungsmuster innerhalb von Familien schon hatten erwarten lassen: HOXA1 stellt sicherlich nur eines von vielen Genen dar, die beim Autismus und ihm verwandten Störungen beteiligt sind. Zu betonen ist auch, dass Träger dieses bestimmten Allels nicht zwangsläufig autistisch werden und dass nicht jeder Autist das Allel aufweist.

Etwa jeder Fünfte, also 20 Prozent, in der untersuchten gesunden Kontrollgruppe besaß dieses Gen ebenfalls. Von den Autisten trugen es immerhin doppelt so viele – doch auch hier eben nur 40 Prozent. Die Genvariante steigert somit das Autismus-Risiko um das Doppelte. Bei 60 Prozent der Autisten muß die Störung hingegen mit einer anderen genetischen Ursache zusammenhängen.

Wahrscheinlich lohnt es, zunächst auch nach weiteren HOXA1-Varianten zu suchen. Erfahrungsgemäß treten bei den meisten Erbkrankheiten viele verschiedene Allele ein und desselben Gens auf. Daneben empfiehlt es sich, noch andere Gene zu prüfen, die während der frühen Embryonalentwicklung aktiv sind. Zu einem, dem Gen HOXB1, entdeckten wir bereits eine Allelvariante. Dieser Erbfaktor liegt auf Chromosom 17, hat mit HOXA1 einen weit in der Evolution zurückliegenden gemeinsamen Ursprung und übernimmt bei der Entwicklung des Hirnstamms ähnliche Funktionen. Sein Einfluss beim Autismus scheint aber eher gering zu sein. Andere Forscher untersuchen zur Zeit eine verdächtige Region auf Chromosom 15 und eine weitere auf Chromosom 7.

Umgekehrt halten wir es ebenso für möglich, dass auch Allele vorkommen, welche die Autismus-Gefahr herabsetzen. Das könnte die beobachteten großen Unterschiede im Spektrum der autismusverwandten Störungen mit erklären.

Schon ein bescheidener Einblick in die genetischen Grundlagen des frühkindlichen Autismus wäre in vieler Hinsicht von großem Wert. Gentechniker könnten beispielsweise die verdächtigen menschlichen Allele auf Mäuse übertragen und die Nager damit sozusagen anfällig für „Autismus“ machen. Mit solchen Tieren ließen sich Wechselwirkungen mit bestimmten Umweltfaktoren in der Frühentwicklung erforschen. Das würde vielleicht auch die Liste von gefährlichen Substanzen erweitern, die Schwangere in den ersten Wochen meiden sollten.

Außerdem könnten wir an den transgenen Mäusen die fehlgesteuerten neuronalen Entwicklungsprozesse verfolgen. Wenn die Wissenschaft erst einmal weiß, was beim autistischen Gehirn nicht stimmt, kann sie gezielter als bisher nach Medikamenten und anderen Therapien suchen, um die Symptome doch einigermaßen zu mildern.

Anders als bei Erbkrankheiten wie Mukoviszidose oder Sichelzellanämie dürfte ein allgemein praktikabler Gentest auf Autismus sehr viel schwieriger zu entwickeln sein, weil beim Autismus vermutlich viele Gene beteiligt sind. Die Überprüfung von bloß einem oder zweien davon, die bekannt sind, erlaubt sicherlich noch keine zuverlässige Aussage zum Risiko, ein autistisches Kind zu bekommen.

Eher denkbar wäre dagegen ein gezielter Test für Geschwister von Autisten – die oft befürchten, dass sie die Krankheit vererben. In ihrem Fall könnten Mediziner in der Familie zumindest nach den bekannten Risikoallelen fahnden. Sofern das autistische Familienmitglied tatsächlich welche von ihnen besitzt, ist anzunehmen, dass der Defekt auch damit zusammenhängt. Tragen die Schwester oder der Bruder diese Allele aber nicht, wüssten sie zumindest, dass hinsichtlich der bekannten Gene von ihrer Seite her für ihre Kinder kein erhöhtes Risiko besteht.

Die Suche nach den Ursachen des frühkindlichen Autismus ist keine leichte Aufgabe. Aber mit jedem aufgeklärten Risikofaktor kommen wir den Zusammenhängen näher. Und jede neue Erkenntnis führt zu neuen, fruchtbaren Hypothesen. Die erwähnte Studie über Contergan-Opfer lenkte unsere Aufmerksamkeit auf den Hirnstamm und auf das HOXA1-Gen. Ähnlich könnten auch künftige Ergebnisse aus der Entwicklungsgenetik, von Verhaltensstudien, von Tomographien des Gehirns oder aus noch ganz anderen Quellen Autismusforschern plötzlich neue Einsichten vermitteln. In gemeinsamer Anstrengung sollte es uns eines Tages gelingen, das schreckliche Leiden der autistischen Menschen wenigstens zu mildern.

Literaturhinweise

Die Welt des frühkindlichen Autismus. Befunde, Analysen, Auslöser. Von C. Klicpera und P. Innerhofer. E. Reinhardt, 1999.2

Autismus, ein häufig verkanntes Problem. Kinder und Jugendliche mit autistischen Verhaltensweisen in allen Schularten. Von B. Schor und

A. Schweiggert. Auer, Donauwörth 1999.

Autismus. Erscheinungsbild, mögliche Ursachen, Therapieangebote. Von I. und F. Zobel (Hg.), Integra, 19982.

Autismus. Von Uta Frith. Spektrum der Wissenschaft, 8/1993, S. 43.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 56
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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  • Infos
    Vereinigung zur Förderung autistischer Menschen e.V. -> www.autismus.de
  • Vereinigung zur Förderung autistischer Menschen Regionalverband Linker Niederrhein e.V. -> www.autismus-online.de
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