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Autonomie und Qualität - das niederländische Modell der Lehrevaluation

Seit 1988 lassen die niederländischen Universitäten ihren Lehr- und Studienbetrieb systematisch überprüfen. Die erste Phase dieser internen und externen Evaluation ist so erfolgreich verlaufen, daß das Verfahren inzwischen vielen europäischen Ländern und nun auch einigen deutschen Bundesländern bei der Entwicklung eigener Evaluationssysteme als Vorbild dient.

Noch Anfang der achtziger Jahre hatte die niederländische Regierung gehofft, mit einschneidenden Struktur- und Finanzreformen das Hochschulwesen den veränderten wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Verhältnissen anpassen zu können. Erfolge blieben nicht aus; doch Mitte der achtziger Jahre wuchs im Wissenschaftsministerium die Erkenntnis, daß bei den weiter steigenden Studentenzahlen das Hochschulwesen und speziell die Qualität von Lehre und Forschung nicht länger allein durch staatliche Initiativen gesteuert beziehungsweise gefördert werden könnten. Denn – so die Devise der Regierung – "wer die Kontrolle ausübt, sollte sich selbst regelmäßig fragen, ob die Kontrollmechanismen noch den Ansprüchen an Effektivität entsprechen".

Das entscheidende Jahr für diese neuartige Hochschulpolitik war 1985, als der Regierungsbericht "Hoger Onderwijs: Autonomie en Kwaliteit" veröffentlicht wurde. Um die Effektivität des Hochschulsystems und die Qualität der Ausbildung zu erhöhen, sollten fortan der Einfluß des Staates verringert, die Eigenverantwortung der Hochschulen gestärkt und zugleich ein adäquates System der Qualitätssicherung entwickelt werden. Die Regierung wollte sich also, ohne dabei ihre verfassungsmäßige Gesamtverantwortung aufzugeben, auf das Festlegen weniger, für unerläßlich gehaltener gesetzlicher Eckdaten beschränken – unter einer Bedingung: Die Hochschulen sollten im Gegenzug den Lehr- und Studienbetrieb regelmäßig einer Kontrolle unterwerfen. Die Vereinigung der Niederländischen Universitäten (VSNU) begann – auch um etwaigen staatlichen Eingriffen vorzubeugen – bereits ein Jahr später, ein entsprechendes Modell zu entwickeln.

Inzwischen ist der erste sechsjährige Evaluationszyklus abgeschlossen; der zweite (1994 bis 1999) ist – im Verfahren geringfügig modifiziert – bereits gestartet worden. Die bisherigen Ergebnisse und Erfahrungen lassen sich also resümieren.


Das Verfahren

Die Evaluation der VSNU zielt nicht auf eine Kritik der jeweiligen Lehrveranstaltung, wie Studenten sie gegenwärtig in Ansätzen an deutschen Hochschulen erproben (vergleiche den vorangehenden Beitrag von G. Hartmut Altenmüller), sondern intendiert eine ausführliche Diskussion über die Qualität der Lehre, für die alle Mitglieder des Fachbereichs gemeinsam Verantwortung tragen. Lehrende, Studierende und Leitungsorgane sind gleichermaßen einbezogen und werden zudem von externen Expertenkommissionen beraten. Die Hochschulen werden so angeregt, selbst gemäß relevanten Kriterien Verbesserungen einzuführen und darüber öffentlich Rechenschaft abzulegen. Keineswegs sollen aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse die staatlichen Haushaltsmittel zwischen den Hochschulen leistungsbezogen umverteilt werden.

Die interne und externe Evaluation findet nach wie vor landesweit und fachspezifisch statt. Pro Jahr werden in der Regel fünf Fächer beziehungsweise Fächergruppen nach einem von der VSNU für den gesamten Zyklus verabredeten Zeitplan untersucht. Jede Evaluation vollzieht sich in vier Schritten:

- Die VSNU beruft auf Vorschlag der betroffenen Fachbereiche in der Regel fünf fachlich allgemein anerkannte Sachverständige in die externe Expertenkommission (darunter einen ausländischen Hochschullehrer, einen Hochschuldidaktiker und gegebenenfalls einen Berufspraktiker);

- gleichzeitig fordert die VSNU die jeweiligen Fachbereiche auf, vor dem Besuch der Kommission eine Selbst-evaluation durchzuführen und deren Ergebnisse in einem Lehrbericht zusammenzufassen;

- die Experten besuchen dann die Fachbereiche und diskutieren mit Lehrenden und Studierenden sowie mit Rektor, Fachbereichsrat, Studentenvertretung und eventuell weiteren Gremien über die in den Lehrberichten beschriebene Studiensituation;

- die Analysen und Empfehlungen der Expertenkommission werden in einem Abschlußbericht veröffentlicht, der den Fachbereichen bei einer eventuell erforderlichen Verbesserung ihres Lehrangebots helfen soll.

Grundlage und Kern des VSNU-Verfahrens, sozusagen das Scharnier zwischen interner und externer Evaluation, sind und bleiben die nun auch in Deutschland allerorten geforderten Lehrberichte der Fachbereiche. Sie sollen die Schwächen und Stärken der Lehr- und Lernprozesse, des Lehrangebots und deren Rahmenbedingungen sowie Maßnahmen zur Behebung etwa bestehender Mängel aufzeigen. Neuerdings soll auch angegeben werden, inwieweit die Ergebnisse und Empfehlungen der ersten Evaluationsrunde berücksichtigt wurden.

Eine jetzt überarbeitete Lehrberichts-Checkliste hilft, alle relevanten Aspekte von Studium und Prüfungen, von Lehre und Lehrmanagement möglichst prägnant zu behandeln (Bild). Bei dieser Analyse werden von jeher auch statistisch quantifizierbare Leistungsindikatoren (durchschnittliche Dauer der Fachstudien, Zahl der Studienanfänger sowie Abbrecher- und Absolventenquoten) berücksichtigt. Solche Kriterien zur Messung von Erfolg und Effizienz werden zwar gegenwärtig auch in der Bundesrepublik diskutiert, doch sind hier die Verhältnisse datenschutzrechtlich schwieriger.

Die Besonderheit des VSNU-Modells, die in Deutschland noch mit allzu großer und schwerlich zu begründender Skepsis betrachtet wird, besteht aber im Einsatz externer Expertenkommissionen, zu denen jetzt auch Studierende hinzugezogen werden können. Sie untersuchen zum Beispiel, ob die Studienziele und die zu erreichenden Qualifikationen klar formuliert, wie die Ziele operationalisiert, wie Studium und Prüfungen aufeinander bezogen sind und ob die Absolventen tatsächlich über die in den Studienzielen definierten Qualifikationen verfügen. Dazu hören sie alle Beteiligten an und geben, wenn erforderlich, Rat. Durch die Anregungen der externen Experten erhält die interne Diskussion über die erreichten Qualitätsstandards ein Korrektiv und ermöglicht den Blick auf bisher vielleicht noch nicht erwogene Ansätze, Probleme zu lösen.

In ihrem Abschlußbericht sollen die Experten eine allgemeine Orientierung über die Qualität der Lehre in der Fachdisziplin auf Landesebene geben, ohne in ein Ranking der verschiedenen Hochschulstandorte zu verfallen. Außerdem soll jeder Bericht direkt für die Fachbereiche bestimmte kurzgefaßte Hinweise und konkrete Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung der Lehre enthalten.


Bewertung der Bewertung

Alle Beteiligten – Lehrende, Studierende und Experten – beurteilen die Erfahrungen mit diesem Modell der von außen unterstützten Selbstreflexion insgesamt positiv. Diese Einschätzung stützt auch eine kürzlich erschienene Studie des niederländischen Center for Higher Education Policy Studies (CHEPS) der Universität Twente. Dabei wurde flächendeckend untersucht, wie die Universitäten, aber auch einzelne Fachbereiche auf der Studiengangsebene mit den Ergebnissen der internen und externen Evaluationen umgehen. An der Befragung beteiligten sich 60 Prozent der Studiengänge. Demnach wird an vielen Universitäten inzwischen mehr Wert auf Form und Inhalt der Lehre gelegt und eine explizite Lehrkultur entwickelt. Aus der offenen Debatte über Stärken und Schwächen ergaben sich auch neue Aspekte für die allgemeine Organisation und das Management der Hochschulen.

Ein kritischer Punkt der ersten Bilanz ist, daß viele Fachbereiche die Anfertigung der Lehrberichte als schwierige Aufgabe ansehen, zumal nicht immer alle erforderlichen Daten zur Verfügung stehen (beschönigt aber haben nur wenige die Situation vor Ort). Auch wird hier und da gefordert, die Hochschullehrer noch stärker einzubeziehen. Außerdem ist nicht allen Beteiligten klar, ob der Lehrbericht eher als internes Steuerungsinstrument oder zur Selbstdarstellung vor der Öffentlichkeit dienen solle.

Im allgemeinen ist man indes mit der internen Qualitätssicherung zufrieden. Ähnliches gilt im großen und ganzen für die externe Evaluation durch die Expertenkommissionen, auch wenn deren Empfehlungen nicht sämtlich problemlos umzusetzen sind und manche nicht akzeptiert werden. Deshalb sprachen sich die Hochschulen nachdrücklich dafür aus, weiterhin regelmäßig und systematisch über Organisation und Effizienz der angebotenen Lehre nachzudenken.

In der ersten Evaluationsrunde hatten 28 Kommissionen mit 242 Sachverständigen 328 Studiengänge untersucht. Nach der aktuellen Planung der VSNU werden in der zweiten Runde 63 Kommissionen mit 256 Sachverständigen insgesamt 427 Studiengänge überprüfen. Das kostet auch etwas mehr: Wurden von 1988 bis 1993 5,7 Millionen Gulden (rund 5,1 Millionen Mark) ausgegeben, veranschlagt die VSNU für das neue sechsjährige Programm 6,8 Millionen Gulden (6,1 Millionen Mark). Aber dieser Aufwand für die Verbesserung der Hochschullehre wird in den Niederlanden von der Regierung und den ebenfalls unter Haushaltskürzungen leidenden Universitäten durchaus als gut angelegtes Geld betrachtet.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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