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Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik


Der vorliegende Sammelband ist als kritisch-kreative Auseinandersetzung mit der „Theorie autopoietischer Systeme“ geplant und befaßt sich mit philosophischen (116 Seiten), neurophilosophischen und neurobiologischen (64 Seiten) sowie sozialwissenschaftlichen Fragen (150 Seiten). Der geringe Umfang des neurobiologischen Teils und der Umstand, daß in seinen drei Aufsätzen immer nur ein einziges Autorenteam – in wechselnder Besetzung – ausschließlich negative Kritik übt, zeigen, daß die Theorie des chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana zwar in den Sozialwissenschaften „begierig rezipiert“ worden ist, die Biologie und insbesondere die Neurobiologie aber davon fast unberührt geblieben sind. Neu zum Kreis der Rezipienten hinzugekommen ist die sogenannte Systemtherapie; auch der Herausgeber Hans Fischer steht als Mitarbeiter des Heidelberger Instituts für Systemische Forschung, Therapie und Beratung dieser Forschungsrichtung nahe.

Sein eigener philosophischer Beitrag jedoch nennt Maturanas Autopoiese-Konzept ein dogmatisches neurobiologisches Sprachspiel (Seite 96); Egbert Steiner, E. Rössler und F. Wolf vom Wiener Institut für Ehe- und Familientherapie bezeichnen es als in seiner praktischen Bedeutung zu vage, so daß sich keine klinisch-therapeutische Relevanz erwarten lasse (Seite 332). Da fragt man sich, wozu überhaupt der Aufwand für dieses Buch betrieben worden ist. Denn von einer „kreativen“ Auseinandersetzung ist darin nur wenig oder überhaupt nichts zu finden.

Das gilt auch für den philosophischen Teil. Dessen Autoren weisen einerseits auf Defizite in der Erkenntnistheorie Maturanas hin; andererseits suchen sie entweder eifrig nach Vorläufern, um zu zeigen, daß sie nicht neu ist, oder – noch eifriger – Anschluß an sprachphilosophische, spieltheoretische und ähnliche Konzepte, die nichts mit einer „Biologie der Kognition“ zu tun haben, ohne dabei zu bemerken, daß Maturanas Theorie nach seiner eigenen Auffassung nur als „Biologie der Kognition“ oder überhaupt nicht funktioniert. Das ist die Konsequenz seines eigenen Grundsatzes: „Kognition ist ein biologisches Phänomen und kann nur als solches verstanden werden.“

Wie aber steht es um die innerbiologische Akzeptierbarkeit der Autopoiese-Theorie? Olaf Breidbach vom Institut für angewandte Zoologie der Universität Bonn und Detlef B. Linke von der Abteilung klinische Neurophysiologie der Bonner Universitätsklinik gestehen ihr einen bloß beschreibenden Charakter zu, „auf einem dergestalt hohen Abstraktionsgrad, daß sie innerbiologisch nicht zu rezipieren ist“ (Seite 188).

Wenn sie nun überhaupt keine naturwissenschaftlich begründete Theorie ist, wie steht es mit ihrem Anspruch, eine „Biologie der Kognition“ und eine biologische „Erklärung“ des Bewußtseins zu sein? Nach Linke und seinem Kollegen Martin Kurthen wäre eine „ ,Biologie der Kognition‘ – als naturwissenschaftliche Theorie verstanden – ... zunächst philosophisch nicht problematischer als eine ,Psychologie der Kognition‘ und könnte, gewissermaßen ,in aller Ruhe‘, auf ihre philosophischen Implikationen hin befragt werden... Dieses ,geordnete‘ Vorgehen ist... allerdings dadurch blockiert, daß die Erkenntnistheorie von Beginn an der biologischen Theorie einverleibt wird“, wie Kurthen und Linke mit Recht ausführen (Seiten 164/165).

Ein weiterer kritischer Punkt ist Maturanas Bewußtseinskonzeption. Kurthen und Linke akzeptieren zwar seine Charakterisierung des Bewußtseins als „ein Epiphänomen in sprachlichem Bereich“, weisen aber mit Recht darauf hin, daß seine Erklärungen immer dünner werden, je höher die zu erklärenden Funktionen sind. Dem kausalen Konzept der „autopoietischen Organisation“ komme nämlich nicht mehr die Erklärungskraft zu, die ihm hinsichtlich des „bloßen Lebens“ durchaus zuzusprechen sei. Was Kurthen und Linke an dieser Stelle noch akzeptieren, verwerfen kurioserweise Breidbach und Linke: Das Konzept sei eine für die Biologie nicht relevante „terminologische Tüte“, die das konkrete Problem nicht nur nicht löse, sondern weiterführende Problemansätze sogar verwische.

Beim dritten Beitrag „Autopoiesis und Heterolyse“ des genannten Autorenteams (diesmal in voller Besetzung Linke, Kurthen und Breidbach) fühle ich mich sogar als wohlwollend zitierter Kritiker Maturanas bemüßigt, ihn zu verteidigen. Denn was hier an metaphorischen Schnoddrigkeiten und Sprachspielen („Autophagie“ und „Nekropoiese“) geboten wird, ist eine Verwahrlosung wissenschaftlicher Kritik. Noch schlimmer ist der ohne jede Argumentation, aber um so pathetischer vorgetragene schreckliche Vorwurf, daß sich die „Genkonstrukteure“ auf Maturana berufen werden.

Ein wirklich kreativer Beitrag in dem sozialwissenschaftlichen Teil, der sich sonst hauptsächlich mit der Autopoiese-Konzeption des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann beschäftigt, ist der Aufsatz „Systemtheoretische Anthropologie“. Hinderk M. Emrich vom Münchener Max-Planck-Institut für Psychiatrie stellt in einem umfassenderen systemtheoretischen Rahmen, in dem auch die Autopoiese-Theorien sowohl Luhmanns als auch Maturanas stehen, konkrete wahrnehmungspsychologische Experimente dar, die zwar manche Thesen Luhmanns stützen, jedoch gerade dessen Grundannahme von der Überflüssigkeit und Ersetzbarkeit der Kantschen Transzendentalphilosophie widerlegen. Die Konsequenz daraus ist eine „Theorie der intentionalen Hyperstrukturen“, die auf der Idee eines „vorgängigen nichtreduktiven Monismus“ beruhen, mit der Emrich Luhmanns Konzept der „Autopoiesis des Bewußtseins“, das für ihn nichts erklärt, sondern nur eine andere Sprache einführt, ersetzen will.

Angesichts der Tatsache, daß dieser Sammelband, der mit Erscheinungsschwierigkeiten zu kämpfen hatte, mit seinem kritischen Anliegen nicht mehr alleine steht und mit wenigen Ausnahmen zur sachlichen Lösung der hier angesprochenen Probleme fast nichts beiträgt, kann er nur als verspätetes Produkt im Fahrwasser einer Theorie angesehen werden, die sich selbst schon überholt hat.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1993, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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