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Bäume als Zeugen der Klimageschichte

Die Jahrringe von Bäumen, die in Lagen mit feucht-kühlen Sommern wachsen, geben Aufschluß über die dort herrschenden mittleren Temperaturen in der Vegetationsperiode. Damit wird ein Klimaarchiv zugänglich, das möglicherweise wichtige Informationen zu der befürchteten globalen Erwärmung der Atmosphäre liefern kann.

Seit einigen Jahren berichten Forscher und Medien besorgt über den Einfluß der Industrialisierung auf das Klima: Kohlendioxid, das durch Verbrennen fossiler Energieträger freigesetzt wird, und andere Gase verstärkten den Treibhauseffekt der Atmosphäre, indem sie die Wärmestrahlung der Erde in den tieferen Schichten absorbieren und damit die mittleren Temperaturen erhöhen.

Weil die Umweltfolgen des dadurch eventuell eingeleiteten globalen Klimawandels Millionen Menschen beträfen, sind politische Gegenmaßnahmen gefordert. Doch aus wissenschaftlicher Sicht ist das Phänomen durchaus noch nicht in allen Details geklärt.

Beispielsweise ist die historische Entwicklung des Klimas nur bruchstückhaft bekannt. Zwar belegen vor allem Isotopenanalysen von im Eis der Gebirge und der Polarregionen eingeschlossenen Luftbläschen, daß mehrmals im Verlauf der Erdgeschichte starke Schwankungen des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre mit solchen der Temperatur einhergingen; dennoch läßt sich noch immer kaum entscheiden, ob der meteorologisch festgestellte Anstieg der mittleren globalen Temperatur in den letzten hundert Jahren auf eine natürliche Variation oder auf anthropogene Einflüsse zurückzuführen ist (siehe Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1990, Seite 108). In vielen Gebieten werden erst seit kurzem und mit zu wenigen Meßstationen meteorologische Beobachtungen durchgeführt, so daß sich nicht feststellen läßt, ob alle Regionen zu allen Jahreszeiten vom Temperaturanstieg betroffen sind.


Ein Archiv für Wetterdaten

Die Forschung begegnet den Unzulänglichkeiten der meteorologischen Fakten mit zwei Strategien: Simulation des Klimaverlaufs durch mathematische Modelle sowie Rekonstruktion der Klimageschichte mit Proxidaten, das heißt durch Analyse der Spuren, die das Wettergeschehen in Gletschern, Mooren und Pflanzen hinterlassen hat.

In den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaftler Bäume sozusagen zu Kronzeugen des Klimageschehens bestellt. Sie bilden jedes Jahr unter ihrer Rinde eine neue Holzschicht. In geographischen Breiten mit ausgeprägten Jahreszeiten fallen dabei die während des Frühlings gebildeten Holzzellen größer aus als die des Sommers. Die unterschiedlichen Dicken der Zellwände nimmt man als Helligkeitsunterschiede des Holzes wahr, die Jahrringe markieren: Das helle Frühholz hat eine geringe, das dunkle Spätholz eine hohe Dichte (Bild 1).

Der Verlauf der Witterung beeinflußt das Wachstum der Pflanze und die Dichte der neu gebildeten Holzzellen. Diesen Umstand nutzt der Forschungszweig der Dendrochronologie, um verschiedenste naturhistorische Fragen zu klären (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988, Seite 56).

An sehr trockenen und warmen Standorten begrenzt das Wasserangebot das Wachstum von Bäumen. In diesem Falle korreliert die Breite der Jahrringe gut mit der Menge der Niederschläge. In Gebieten mit feuchten und kühlen Sommern und in Lagen knapp unterhalb der alpinen und polaren Baumgrenze ist indes der Temperaturverlauf während der Vegetationsperiode der entscheidende Faktor für die Bildung neuer Holzzellen; in diesen Zonen korreliert die Dichte des Spätholzes eng mit der mittleren Tagestemperatur von April bis September (Bild 2). Die Dichte des Spätholzes ist mithin ein ausgezeichneter Indikator für den sommerlichen Temperaturverlauf.

Lange war die Analyse der Jahrringbreite von Bäumen nahe der Trockenheits-Baumgrenze die einzige mit Erfolg nutzbare Methode der dendrochronologischen Klimaforschung gewesen. Erst als vor rund 25 Jahren die ersten Verfahren zur Messung der Holzdichte entwickelt wurden, gelang es, die klimatologische Bedeutung der Bäume nahe der Temperatur-Baumgrenze zu erschließen.

Weltweit haben sich inzwischen etwa zwölf densitometrisch arbeitende Forschungsgruppen etabliert. Sozusagen ein Team der frühen Stunde leitet Fritz Hans Schweingruber an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) im schweizerischen Birmensdorf. Mit Holzproben, die entlang der nördlichen Baumgrenze und in Gebirgslagen der nördlichen Hemisphäre gesammelt wurden, versuchen diese Gruppen, die Temperaturschwankungen früherer Jahrhunderte zu rekonstruieren. Die Ergebnisse werden zeigen, ob der seit einhundert Jahren zu beobachtende Temperaturanstieg ein außergewöhnliches Phänomen ist oder nicht.

In der Regel besteht eine Probe aus einem bleistiftförmigen Holz-Bohrkern, auf dem sich die Jahrringe gut erkennen lassen. Bohrkerne haben gegenüber den sonst üblichen Stammscheiben den Vorteil, daß der Baum nicht gefällt werden muß und sein Gedeihen nur geringfügig beeinträchtigt wird. Pro Standort bohrt man mindestens zwölf normal gewachsene und möglichst alte Bäume auf Brusthöhe zweimal an. Je nach den topographischen, klimatischen und vegetationskundlichen Gegebenheiten wählt man alle 150 bis 300 Kilometer einen solchen Standort aus. Die einzelnen Bohrkerne werden anschließend in etwa zwei Millimeter dicke Tranchen zerschnitten und geröntgt. Nach dem densitometrischen Vermessen dieser Aufnahmen stehen schließlich langjährige Reihen der maximalen Spätholzdichte für verschiedene Populationen zur Verfügung.


Weltweit dem Klima auf der Spur

Eine enge Korrelation zwischen den Temperaturen im Monat August und der maximalen Jahrringdichte fanden erstmals kanadische Forscher, als sie 1971 Rottannen im Jasper-Nationalpark untersuchten. Schweingruber und seine Mitarbeiter Ernst Schär und Padruot Nogler am WSL konnten diesen Zusammenhang 1976 anhand einer Stichprobe aus dem Wallis und von weiteren Standorten der Schweiz nahe der oberen Waldgrenze bestätigen. Später vermochten sie anhand eines Probennetzes, das sie in Frankreich und Österreich begonnen und später mit Material aus Spanien, Skandinavien und von Großbritannien bis Bulgarien vervollständigt hatten, zu zeigen, daß praktisch überall in Europa die Dichte des Spätholzes mit den Sommertemperaturen korreliert. Zusammen mit den Klimatologen Keith Briffa und Phil Jones aus Norwich (Großbritannien) gelang es ihnen, die Klimageschichte für verschiedene Regionen und Zeitabschnitte zu rekonstruieren.

Das große Interesse der Öffentlichkeit an Studien zum Treibhauseffekt und die fortgesetzte finanzielle Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ermöglichten es, Stichproben aus allen borealen Gebieten der nördlichen Hemisphäre zu sammeln. Im Jahre 1983 legte eine Expedition in die Rocky Mountains ein Probennetz von Mexiko bis nach Alaska an; in der Folge wurde es durch weitere Proben aus allen Provinzen Kanadas erweitert. Auf diesen Forschungsreisen hat die schweizerische Gruppe wertvolle Informationen über die Entwicklung des Klimas auf dem nordamerikanischen Kontinent gesammelt.

Gänzlich unbekannt war hingegen die Situation in Eurasien. Jahrelang hatten sich die Schweizer Forscher vergeblich um eine Bewilligung für Erhebungen quer durch Sibirien bemüht. Erst nach den politischen Veränderungen in der Sowjetunion konnten sie ihr Vorhaben 1991 mit Erlaubnis des russischen Forstministeriums und mit Unterstützung der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften verwirklichen. Gemeinsam mit Jewgenij Waganow vom Institut für Holz- und Waldforschung in Krasnojarsk und mit Stepan Schijatow vom Institut für Ökologie in Jekaterinburg führten sie eine erste Expedition vom Ural bis zur Lena durch. In den Jahren 1992 und 1995 wurden Proben in Ostsibirien, von Jakutsk an der Lena bis an die östliche Waldgrenze nahe der Beringstraße, gesammelt. Zugleich vervollständigten russische Studenten der Forstwirtschaft aus Archangelsk das Probennetz westlich des Urals.

In allen untersuchten Gebieten der oberen und der borealen Waldgrenze ließ sich ebenfalls eine enge Korrelation zwischen der maximalen Dichte des Spätholzes und den Sommertemperaturen nachweisen. Dieser generelle Zusammenhang erlaubt, außer lebenden Bäumen auch Balken aus historischen Gebäuden und Stämme, die aus Mooren und Seen geborgen wurden, als Klimaindikatoren heranzuziehen. Damit läßt sich nun die Klimageschichte vom Ende der letzten Eiszeit bis zur Gegenwart rekonstruieren – auch für solche Regionen, aus denen keine meteorologischen Aufzeichnungen vorhanden sind.


Überraschende Ergebnisse

Die bisherigen Befunde der Schweizer Forschergruppe sind bemerkenswert. In keinem der untersuchten Gebiete war bei Bäumen entlang der nördlichen Waldgrenzen eine abnormale Veränderung der Jahrringe festzustellen; nichts weist auf eine langsame, stetige Erwärmung hin. Die Jahrringbreiten und die maximalen Spätholzdichten schwanken zwar innerhalb der letzten vier Jahrhunderte, doch zeigt sich keine systematische Drift zu höheren Temperaturen hin. Diese Ergebnisse lassen sich noch nicht mit der Vorstellung einer globalen Klimaerwärmung in Übereinstimmung bringen.

Aufgrund dieser Beobachtungen drängen sich verschiedene Fragen auf: Weisen die relativ wenigen langjährigen meteorologischen Meßreihen aus dem nördlichen Eurasien und aus Nordamerika tatsächlich auf einen Anstieg der Sommertemperatur hin, oder sind vielleicht die mehrhundertjährigen Bäume zuverlässigere Temperaturindikatoren? Genügt eine Zeitspanne von 400 Jahren, für die Jahrringproben vorliegen, um eine mögliche Variabilität erkennen zu können? Verhalten sich Bäume in den untersuchten Ökosystemen nicht wie Tomaten, Zitrusfrüchte und andere Kulturpflanzen, die bei erhöhten Kohlendioxid-Konzentrationen in der Atmosphäre schneller wachsen? Wie sind diese Ergebnisse erklärbar, wenn nahezu alle neuen Klimamodelle für den hohen Norden eine drastische Klimaerwärmung vorhersagen?

Derzeit wissen wir es noch nicht. Die Jahrringanalytiker an der WSL wollen zunächst ihr Probennetz weiter vervollständigen. Mit Holz-Bohrkernen von ökologisch sehr unterschiedlichen Standorten und von sehr alten Bäumen sollen die bisherigen Ergebnisse überprüft und die bestehenden Meßreihen möglichst weit in die Vergangenheit ausgedehnt werden. Auf diese Weise werden für den Alpenraum Temperaturrekonstruktionen der letzten 500 Jahre möglich sein; für die Rocky Mountains sind 850, für Sibirien 600, und für den hohen Norden Kanadas 400 Jahre zu erwarten. Durch Analyse von historischem oder fossilem Holz ließe sich diese Datenbasis vielleicht auf die letzten 8000 Jahre erweitern. In den Seen und Mooren des hohen Nordens liegt jedenfalls noch viel geeignetes Forschungsmaterial verborgen, das helfen könnte, den Temperaturverlauf der letzten Jahrhunderte zu rekonstruieren und das Ausmaß der vermuteten globalen Klimaerwärmung zu ermitteln.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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