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Bakterielle Endotoxine

Als Bestandteil vieler Bakterien wirken diese Stoffe im menschlichen Organismus gleichermaßen gesundheits-, ja lebensbedrohlich wie zuträglich oder gar förderlich. Gesucht wird nach Wegen, ihre schädlichen Effekte zu unterdrücken und günstige zu nutzen.

Endotoxine üben eine ungeheure Anziehungskraft aus. Die Natur scheint sie mit genau jenem Verhältnis von Gut und Böse ausgestattet zu haben, das sie unwiderstehlich macht für jeden, der sie im Laufe seiner Forschungen genauer kennenlernt.

Fast 30 Jahre alt ist diese Feststellung von Iwan L. Bennett jr. von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland), und noch immer haben Endotoxine – insbesondere für Forscher medizinischer Disziplinen – nichts an Faszination verloren. Produziert werden die potentiell tödlichen Verbindungen von Bakterien wie den Erregern von Cholera, Keuchhusten und Pest sowie bestimmten Formen bakterieller Hirnhautentzündung. Ihre wohl schlimmsten Auswirkungen auf den Menschen sind eben die Krankheitssymptome, die sie hervorrufen können: von Schüttelfrost und Fieber bis hin zu irreversiblem – tödlichen – Schock (Kreislaufversagen mit anschließender Fehlfunktion sämtlicher Körperorgane). Zudem bilden sie um die Bakterien einen festen äußeren Schutzschild – und das macht die Erreger für viele Antibiotika nicht oder nur schwer angreifbar.

Paradoxerweise können dieselben Substanzen, welche die menschliche Gesundheit bedrohen, den Körper allgemein gegen bakterielle und virale Infektionen und selbst gegen Krebs widerstandsfähiger machen. Manche Wissenschaftler vermuten sogar, daß die Konfrontation mit Endotoxinen für die Entwicklung und den Erhalt eines funktionierenden Immunsystems unerläßlich ist.

Ein wichtiger Schritt zum Verständ-nis solch verschiedenartiger und widersprüchlicher Wirkungen eines Moleküls besteht im allgemeinen darin, seine chemische und räumliche Struktur aufzuklären. Im Falle der Endotoxine konzentrierten sich darauf Dutzende wissenschaftlicher Teams, darunter auch unseres am Forschungsinstitut Borstel bei Hamburg. Die Ergebnisse haben zur Identifikation jener molekularen Bestandteile beigetragen, die für die Effekte im Körper verantwortlich sind. Zudem wurden im Verlauf dieser Arbeiten erste Vorstellungen entwickelt, wie sich die krankmachende Wirkung dieser Verbindungen begrenzen und trotzdem ihre bemerkenswerte Fähigkeit zur Stärkung der Abwehrkraft erhalten läßt.

Entdeckung

Genaugenommen begann die Erforschung der Endotoxine schon in den späten siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, bald nachdem Robert Koch (1843 bis 1910), der damals in Wollstein bei Posen tätig war, erkannt hatte, daß jede ansteckende Krankheit von einer speziellen Mikrobe herrühre. Binnen zehn Jahren konnten Forscher in Frankreich, Deutschland, den USA und anderen Ländern zeigen, daß Bakterien häufig dadurch krank machen, daß sie Giftstoffe produzieren.

Die ersten solchen Stoffe, die man isolierte, waren Exotoxine – Verbindungen also, die von vielen Bakterien aktiv nach außen abgegeben werden. Dies ist zum Beispiel der Fall bei den Erregern von Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf) und Botulismus (einer Lebensmittelvergiftung durch verdorbene Konserven). Heute weiß man, daß Exotoxine generell Proteine sind; nach wie vor gilt als eines ihrer Hauptmerkmale, daß sie sich durch Erhitzen inaktivieren lassen.

Im Jahre 1892 beschrieben jedoch zwei Wissenschaftler unabhängig voneinander Bakteriengifte, die nicht dieses typische Kriterium der Hitzelabilität erfüllten. Einer war Richard Friedrich Pfeiffer, ein Schüler von Koch; er hatte bei dem Cholera-Erreger Vibrio cholerae außer einem thermolabilen Exotoxin auch einen wärmebeständigen Giftstoff entdeckt, der nicht von den Bakterienzellen ausgeschieden wurde; er schien nur bei deren Absterben freizuwerden.

Hitzeunempfindliche und insofern ungewöhnliche Toxine waren zwar zu der Zeit, insbesondere aus den Arbeiten des dänischen Pathophysiologen Peter Ludwig Panum, bereits bekannt. Aber erst Pfeiffer erkannte, daß sie nicht aktiv ausgeschieden werden, also keine Exotoxine sind. Da er annahm, der zweite Cholera-Giftstoff sei im Inneren der Bakterienzelle eingeschlossen, bezeichnete er ihn als Endotoxin (nach griechisch endos, innen). Später erwies sich das als unrichtig: Endotoxine befinden sich auf der Oberfläche und nicht im Inneren der Bakterien (Bild 2).

Während Pfeiffers Pionierarbeiten extrahierte auch Eugenio Centanni vom Pathologischen Institut der Universität Bologna einen hitzeunempfindlichen Giftstoff, und zwar aus dem Typhus-Erreger Salmonella typhi. Er nannte ihn Pirotoxina (abgeleitet aus griechisch pyros, Feuer), da Kaninchen nach Injektion davon Fieber bekamen.

Heute weiß man, daß Centannis Pirotoxina und Pfeiffers Endotoxin im wesentlichen übereinstimmen und daß solche Verbindungen zugleich ein Kennzeichen aller gram-negativen Bakterien sind. (Anders als gram-positive Bakterien entfärben sich diese wieder, wenn man sie nach einer speziellen Anfärbung mit Alkohol behandelt; benannt ist die Methode nach dem dänischen Physiologen Hans Christian Joachim Gram.) Bis zu dieser Erkenntnis bedurfte es jedoch erst etlicher Fortschritte in den chemischen Methoden.

Identifizierung der Hauptkomponenten

Die ersten wichtigen Ansätze zu einer Analyse machten André Boivin vom Pasteur-Institut in Paris, Walter T.J. Morgan vom Lister-Institut in London und Walter F. Goebel vom Rockefeller-Institut in New York in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts. Aus den Experimenten mit dem nach heutigen Maßstäben relativ unreinen Extrakt – der damals aber nicht besser verfügbar war – schlossen sie, daß das thermostabile Toxin aller von ihnen untersuchten gram-negativen Bakterien drei Komponenten enthält: Polysaccharid (zu einem Polymer verkettete Zuckermoleküle), Lipoid (einen fettsäure-haltigen Bestandteil) und Protein.

Ebenfalls Anfang der vierziger Jahre analysierte Murray J. Shear am amerikanischen Nationalen Krebsinstitut in Bethesda (Maryland) die wirksame Verbindung aus dem gram-negativen Bakterium Serratia marcescens; gewisse Formen sind, wie man heute weiß, Erreger typischer im Krankenhaus erworbener Infektionen. Dieser Stoff schien ihm besonders interessant, weil William B. Coley vom Memorial-Hospital in New York gezeigt hatte, daß ein Gemisch aus abgetöteten Zellen von S. marcescens und Streptokokken gelegentlich eine Rückbildung von Tumoren veranlassen kann. Shear stellte 1943 fest, daß das toxische, aber eben auch tumorzerstörende Material aus S. marcescens hauptsächlich aus Polysaccharid und Lipid besteht. Entsprechend bezeichnete er es als Lipopolysaccharid, kurz LPS (siehe Spektrum der Wissenschaft, Juli 1988, Seite 42).

Mehr und mehr erhärteten sich damals bereits die Verdachtsmomente, wonach dieses Lipopolysaccharid, das Cholera-Endotoxin und die Typhus-Pirotoxina im wesentlichen das gleiche Wirkstoffmolekül darstellten. Überzeugend beweisen konnten dies jedoch erst Otto Westphal und Otto Lüderitz, die Ende der vierziger Jahre am Forschungsinstitut der Pharmafirma Wander in Säckingen ein Verfahren entwickelt hatten, große Mengen hochreiner Bakterienextrakte herzustellen (ihre Untersuchungen setzten sie später am Max-Planck-Institut für Immunobiologie in Freiburg fort, das 1963 aus dieser industriellen Forschungsstätte hervorgegangen war): Sie lieferten den schlüssigen Beweis, daß der jeweilige hitzestabile Giftstoff der fraglichen sowie verwandter gram-negativer Bakterien lediglich aus einem Polysaccharid- und einem Lipid-Anteil in Verbindung mit Phosphat besteht (wobei die Phosphatgruppen das Verhalten der beiden anderen Komponenten beeinflussen); das Protein, das in früheren Extrakten enthalten war, trug nicht zur toxischen Wirkung bei.

Weitere Studien ergaben, daß jedes isolierte Endotoxin unabhängig von seiner Herkunft stets die gleichen Reaktionen in Labortieren hervorrief. Demnach mußten die Moleküle in der Tat chemisch gleich oder zumindest sehr ähnlich sein. Seither hat man den Begriff Pirotoxina fallenlassen, verwendet aber die Bezeichnungen Endotoxin und Lipopolysaccharid – als Synonyme – weiter. Westphal und Lüderitz hatten auch Anteil an den Forschungsarbeiten, die schließlich belegten, daß alle gram-negativen Bakterien (und zwar nur sie) Endotoxine herstellen.

Detektivische Kleinarbeit

Daß es sich bei allen Endotoxinen um Varianten ein und desselben Moleküls handelt, war zwar eine entscheidende Erkenntnis. Um jedoch ihre Wirkweise zu verstehen, bedurfte es noch vieler chemischer Detailarbeit. Und weil diese Moleküle so komplex sind, dauerte es rund weitere 25 Jahre, bis man sich ein endgültiges Bild machen konnte.

Die Untersuchungen konzentrierten sich vorwiegend auf die umfangreiche Gruppe der Enterobakterien (nach griechisch enteron, Darm), die entweder Teil der normalen Darmflora sind oder Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich hervorrufen. Zu ihnen gehören verschiedene Arten der Gattungen Salmonella und Escherichia, darunter auch das Darmbakterium E. coli, das ein gängiges Klonierungswerkzeug der Gentechniker und ein wohluntersuchtes Studienobjekt der Molekularbiologen ist. Die meisten Stämme von E. coli sind harmlos, zumindest solange sie an ihrem angestammten Platz – im Darm – bleiben. Andere hingegen können schwere Erkrankungen hervorrufen.

Man weiß heute, daß der Lipid-Anteil des Endotoxin-Moleküls, das Lipoid A, in die äußere Membran der Bakterienzellwand eingebettet und einer ihrer Hauptbestandteile ist (die innere Membran umhüllt das Zellplasma; Bild 2). Der Polysaccharid-Anteil hingegen ragt gleichsam wie ein Haar nach außen: Ein Oligosaccharid aus nur wenigen (griechisch oligos) Einzelzuckern bildet die Kernregion, von der sich eine längere, sogenannte O-spezifische Seitenkette bis zur Spitze fortsetzt (linkes Bild im Kasten auf dieser Seite).

Dieser äußerste Teil des Moleküls ist zugleich der strukturell variabelste. Er löst eine spezifische Immunantwort im Organismus aus: Die O-spezifische Kette regt die Produktion von Antikörpern an, die nur diesen speziellen und keinen anderen Typ solcher Ketten erkennen. Gewöhnlich ist die O-Kette der Endotoxine je nach Bakterienart verschieden (eine weitere fundamentale Entdeckung von Westphal und Lüderitz); jeder Typ von beispielsweise Salmonella pflegt die Produktion unterschiedlicher Antikörper auszulösen. Im typischen Fall umfaßt eine Kette 20 bis 50 sich wiederholende Einheiten aus jeweils bis zu acht Einzelzuckern. Art, Verknüpfung und Reihenfolge der Zucker innerhalb dieser Einheit variieren ebenso wie die Anzahl der Wiederholungen.

Das Kern-Oligosaccharid zeigt sich weniger variabel. Man unterteilt es in eine innere Region, welche die Verbindung zum Lipid herstellt, und eine äußere, welche die O-spezifische Kette trägt. Für die Immunantwort des von dem Bakterium befallenen Organismus ist es zwar weniger bedeutsam als die O-Kette, kann aber – wenn diese infolge einer Mutation fehlt – ebenfalls die Produktion von Antikörpern anregen.

Der innere Abschnitt der Kernregion ist der interessantere; er enthält Heptose, einen Zuckertyp mit sieben Kohlenstoffatomen statt der weit häufigeren sechs, sowie die für sämtliche Endotoxine charakteristische 3-Desoxy-D-manno-2-octulosonsäure (auch als 2-Keto-3-desoxy-octonsäure, Kdo, bezeichnet) als Kupplung zum Lipid-Anteil. Diese Zuckersäure mit ihren acht Kohlenstoffatomen im Gerüst kommt außer noch in bestimmten höheren Pflanzen und Algen nirgends sonst in der Natur vor. Dies macht sie, wie wir sehen werden, zu einem möglichen Angriffspunkt für bakterienspezifische Medikamente.

Aus medizinischer Sicht noch interessanter ist die am wenigsten variable Komponente der Endotoxine: das Lipoid A (oder Lipid A, wie es inzwischen auch genannt wird). Es ist die Wurzel allen Übels, zugleich aber auch Ursache der positiven Wirkungen dieser Stoffe – Resistenz gegen Infektionen und gegen Krebs.

Schon 1954 hatten Westphal und Lüderitz die Hauptbestandteile von Lipoid A charakterisiert: Glucosamin (Traubenzucker, der eine Aminogruppe trägt), Phosphat sowie Fettsäuren mit einem Rückgrat aus meist 14 Kohlenstoffatomen. Wie diese Komponenten zusammengehören, blieb jedoch bis 1969 ein Rätsel. Damals wies Jobst Gmeiner im Labor der beiden Wissenschaftler nach, daß das Lipoid A eines bestimmten Stammes von Salmonella minnesota zwei phosphorylierte – mit je einer Phosphatgruppe ausgestattete – Glucosamin-Reste in ungewöhnlicher Verknüpfung enthielt. Das erste Kohlenstoffatom des einen Glucosamins war über ein Sauerstoffatom mit dem sechsten Kohlenstoffatom des anderen so verbunden, daß sich die Sauerstoff-Brücke über die Molekülebenen erhebt (man bezeichnet dies als Beta-Konfiguration).

Beta-verbundene Glucosamin-Paare haben sonst ihre Sauerstoffbrücken zumeist zwischen den Kohlenstoffatomen eins und vier, seltener auch zwischen eins und drei; eine solche Beta-1-6-Bindung kannte man bis dahin nicht. Später konnten einer von uns (Rietschel) und Sumihiro Hase zusammen mit Westphal und Lüderitz sie jedoch auch bei Glucosaminen vieler anderer gram-negativer Bakterien nachweisen. Und heute weiß man, daß sie überhaupt nur bei dieser Gruppe von Erregern vorkommt, dort aber bei den meisten Vertretern.

Herauszufinden, an welchen Stellen von Lipoid A die Fettsäuren angeklinkt sind, erwies sich als weitaus schwieriger. Es erforderte die Arbeit zahlreicher Forscher (in Borstel waren unter anderen Ulrich Zähringer und Ulrich Seydel beteiligt), bis endlich 1983 die komplette Struktur von Lipoid A aus E. coli entschlüsselt war.

Zur gleichen Zeit klärten Nilofer Qureshi und Kuni Takayama von der Universität von Wisconsin die molekulare Organisation von Lipoid A aus Salmonella typhimurium (einem Erreger von Durchfallerkrankungen) auf. Sie erwies sich als identisch mit dem des E.coli-Endotoxins. Bei anderen Bakterien können sich die Länge der Fettsäureketten und deren Anknüpfungsstellen am Glucosamin unterscheiden. Im typischen Fall jedoch enthalten zumindest die Endotoxine gram-negativer Erreger fünf bis sechs Fettsäuren: vier mit je einer Hydroxylgruppe (-OH) am dritten Kohlenstoffatom ihrer Kette sowie ein bis zwei nicht hydroxylierte Fettsäure-Reste. Manchmal kann das Glucosamin an seinem dritten Kohlenstoffatom eine weitere Aminogruppe tragen, wie Hubert Mayer am Max-Planck-Institut für Immunologie nachgewiesen hat.

Lipoid A – der entscheidende Bestandteil

Während der Arbeiten zur Strukturaufklärung mehrten sich die Hinweise, daß Lipoid A sowohl für die schädigende als auch für die immunstimulierende Wirkung der Endotoxine verantwortlich ist. Westphal und Lüderitz hatten dies schon 1954 erwogen, als klar wurde, daß die Polysaccharid-Komponenten viel zu variabel sind, um ein konstantes Wirkungsmuster erzeugen zu können.

Stark gestützt wurde ihre Folgerung Ende der sechziger Jahre durch die Ergebnisse von Yoon B. Kim und Dennis W. Watson von der Universität von Minnesota in Minneapolis und anderen Gruppen: Mutierte Endotoxine, die nur noch aus Lipoid A und Kdo bestanden, wirkten ebenso toxisch und fiebererregend wie Moleküle mit intaktem Polysaccharid-Anteil. Dies bestätigte, daß die O-spezifische Kette und große Teile der Kernregion dafür bedeutungslos waren.

Der endgültige Beweis gelang jedoch erst, als Tetsuo Shiba, Shoichi Kusumoto und deren Mitarbeiter an der Universität Osaka 1984 die Lipoid-A-Komponente des E.coli-Endotoxins komplett synthetisierten und uns zu weiteren Untersuchungen zur Verfügung stellten. Zusammen mit Lüderitz und Christos Galanos vom Max-Planck-Institut in Freiburg konnten wir zeigen, daß sich das künstlich hergestellte Molekül genauso wie das natürliche verhielt: Es bewirkte bei Tieren eine allgemeine Aktivierung des Immunsystems, hohes Fieber und letalen Schock. Drei japanische Forschergruppen kamen unabhängig von uns mit demselben Molekül zu ähnlichen Ergebnissen.

Freilich war nicht auszuschließen, daß bei einem derart komplexen Molekül wie dem Lipoid A von E. coli nur ein gewisser Teil für die beobachtete Wirkung entscheidend ist. Deshalb haben wir zusammen mit Hans-Dieter Flad und seinen Mitarbeitern am Forschungsinstitut Borstel verschiedene synthetische Abkömmlinge dieser Verbindung an Zellkulturen und am lebenden Organismus geprüft. Beispielsweise war die Zahl der Fettsäureschwänze oder deren Anordnung an den Glucosamin-Paaren verändert, oder es wurde das eine Glucosamin mit seinen jeweiligen Fettsäuren und Phosphaten weggelassen.

Manche dieser Varianten erwiesen sich zwar als etwas wirksam, aber niemals so stark wie das reguläre Lipoid A. Demnach ist die gesamte komplexe Lipid-Komponente des Endotoxins für dessen optimale Aktivität erforderlich. Vermutlich verleiht die Kombination aus Zucker-, Phosphat- und Fettsäure-Resten ihr eben jene räumliche Gestalt und Form, in der sie am besten an den jeweiligen Zellen des Wirtsorganismus anzugreifen vermag.

Vermittler der Wirkung

Aus den bisher vorliegenden Strukturdaten allein läßt sich noch keine schlüssige molekulare Erklärung für die Reaktion des Wirtes auf Lipoid A ablesen. Doch beginnt man, etliche Details zu verstehen.

So weiß man inzwischen, daß die Endotoxine von der Bakterienoberfläche freigesetzt werden müssen, um überhaupt wirken zu können. Dies geschieht zum einen, wie bereits Pfeiffer im letzten Jahrhundert erkannt hatte, wenn Bakterien absterben, und zum anderen, wie sich inzwischen herausgestellt hat, wenn sie sich teilen. Da aber manche Bakterien in die Zellen ihres Wirtes eindringen und sich dort vermehren (Bild 1), kann dann das Endotoxin vermutlich erst wirksam werden, wenn die infizierten Zellen es ihrerseits nach außen abgeben.

Anders als man vielleicht erwarten würde, töten freie Endotoxine weder Zellen ab, noch lösen sie direkt Reaktionen wie Fieber oder Schock im Organismus aus; zum Beispiel rufen sie Fieber nicht etwa hervor, indem sie sich an Zellen des Temperatur-Regulationszentrums im Gehirn heften. Vielmehr lassen diese Moleküle bestimmte andere Zellen ihres Wirtes sozusagen für sich arbeiten: Sie rekrutieren sie regelrecht und regen sie zur Sekretion von Vermittlermolekülen an. Teils wirken diese als Mediatoren bezeichneten Stoffe dann nur vor Ort, teils werden sie auch mit dem Blutstrom verteilt und lösen die verschiedensten Reaktionen aus.

Wie Stephan E. Mergenhagen und seine Mitarbeiter am amerikanischen Nationalen Institut für zahnmedizinische Forschung in Bethesda (Maryland) und später Galanos in Freiburg nachgewiesen haben, werden vor allem Makrophagen – wörtlich: große Fresser – Zielzellen für Endotoxin. Ein Teil dieser Freßzellen patrouilliert im Blut, der andere residiert im Gewebe; sie verschlingen normalerweise alles, was an Fremdkörpern eingedrungen ist, und bauen es ab. Im aktivierten Zustand schütten diese unspezifischen Abwehrzellen zudem Dutzende verschiedener Moleküle aus, die – entweder jedes für sich oder nacheinander oder gemeinsam – gezielte wie auch unspezifische Immunreaktionen gegen den Fremdstoff in Gang setzen oder verstärken (Bild 3).

Eines der wichtigsten Vermittlermoleküle aus endotoxin-stimulierten Makrophagen ist der Alpha-Tumor-Nekrose-Faktor. Injiziert man dieses kleine Protein einem Versuchstier, so zeigen sich ganz ähnliche Reaktionen wie nach Gabe von Endotoxinen: Fieber und bei hohen Dosen irreversibler Schock. Aber, wie sein Name schon sagt, hat der Faktor auch positive Seiten: Er kann verschiedene Abwehrzellen an den Ort einer Infektion locken, und er kann vor allem eine Zerstörung von Tumorzellen bewirken (siehe Spektrum der Wissenschaft, Juli 1988, Seite 42).

Endotoxin-stimulierte Makrophagen produzieren ferner die Interleukine 1, 6 und 8, die in vieler Hinsicht die gleichen Effekte haben wie der Tumor-Nekrose-Faktor und ebenfalls Proteine sind. Außerdem setzen die aktivierten Freßzellen eine Reihe von Lipiden frei, die teilweise wiederum fiebererregend wirken und Aktivitäten des Immunsystems regulieren. Und schließlich bilden sie gewisse hochreaktive sauerstoffhaltige Verbindungen, die man als freie Radikale bezeichnet. Diese tragen zur Zerstörung von Mikroorganismen bei, die der Makrophage sich greift.

Wenn ein gram-negatives Bakterium in Gewebe eindringt, sich vermehrt und dabei moderat Endotoxin freisetzt, können die dort aktivierten Makrophagen mit ihrer Palette von Produkten eine kontrollierte lokale Immunantwort auslösen und so dazu beitragen, den Infektionsherd auszumerzen. Die typischen Begleiterscheinungen – wie leicht erhöhte Temperatur und die Mobilisierung von Komponenten des Immunsystems, die sich teils unspezifisch, teils gezielt gegen den Erreger richten – tragen zur Genesung und zum Schutz vor weiteren mikrobiellen Angriffen bei. Bei schweren Infektionen hingegen können große Mengen von Endotoxin sich im Blut anreichern und, indem sie im ganzen Körper Makrophagen zur Ausschüttung hochwirksamer Vermittlermoleküle veranlassen, lebensbedrohliche Schockzustände auslösen. Wenn der Kreislauf versagt, büßen Zellen überall im Organismus ihre Funktionstüchtigkeit ein und sterben schließlich ab.

Freigesetzte Endotoxine können zwar aus geschädigtem Gewebe in die Blutbahn gelangen; im allgemeinen jedoch ereignen sich Todesfälle dann, wenn Bakterien selbst Zugang zum Blut gefunden haben. Dort vermehren sie sich rasant und können dabei riesige Mengen Toxin freisetzen, die dann entsprechend Makrophagen aktivieren.

Somit sind Endotoxine keine Giftstoffe im eigentlichen Sinne (also ist auch der zweite Teil ihres Namens nicht wirklich treffend); erst das übersteigerte, unkontrollierte und dann selbstzerstörerische Verhalten des Wirtsorganismus macht sie dazu. Oder wie Lewis Thomas in seinem Buch „The Lives of a Cell“ so bildhaft schrieb: „Endotoxine werden von unseren Geweben als bedrohlichste aller schlechten Nachrichten verstanden. Wenn unser Organismus Lipopolysaccharide auch nur spürt, ergreift er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit jede erdenkliche Verteidigungsmaßnahme; er wird alles Gewebe im Umfeld bombardieren, kahlschlagen, ihm den Nachschub abschneiden, es einkesseln und zerstören... All dies wirkt unangemessen, panikartig.“

Auslösende Mechanismen

Wie aber können Endotoxine eine solche blindwütige Reaktion auslösen? Um dies zu verstehen, muß man genau untersuchen, auf welche Weise sie Makrophagen aktivieren.

Nach neueren Erkenntnissen heften die ins Blut gelangten Endotoxine sich dort an ein spezielles Molekül: das li-popolysaccharid-bindende Protein, LBP. Wie Samuel D. Wright von der Rockefeller-Universität in New York und die Arbeitsgruppe von Richard J. Ulevitch und Peter S. Tobias von der Scripps-Klinik und Forschungsstiftung in La Jolla (Kalifornien) gezeigt haben, dockt dann dieser Lipopolysaccharid-Protein-Komplex an den mit CD14 bezeichneten Rezeptor der Makrophagen an. Damit gehören Endotoxine zu den wenigen bisher bekannten Substanzen, die erst einen Komplex mit einem im Blutstrom zirkulierenden Protein des Wirtsorganismus bilden, ehe sie mit einem Rezeptor Kontakt aufnehmen.

Noch weiß man nicht genau, ob das Andocken des Komplexes an den CD14-Rezeptor allein schon ausreicht, Makrophagen zum Ausschütten ihrer verschiedenen Mediatormoleküle zu veranlassen (Bild 4). Vielleicht kann das Endotoxin danach mit einem andersartigen Makrophagen-Rezeptor interagieren, der nun allein oder zusammen mit CD14 die Aktivierung der Zellen bewirkt. Dafür spricht einiges. So haben David C. Morrison von der Universität von Kansas und andere Forschergruppen Rezeptor-Moleküle auf Makrophagen identifiziert, die Endotoxine – und zwar speziell deren Lipoid-A-Komponente – direkt binden. Möglicherweise lagern Endotoxine sich dort an, nachdem sie mit dem lipopolysaccharid-bindenden Protein sowie CD14 vereint sind. Unabhängig davon könnten aber auch freie Endotoxine im Blut oder im Gewebe (wo ihr Binde-Protein fehlt) über andere, von CD14 verschiedene Rezeptoren Makrophagen aktivieren.

Therapeutische Ansätze

Mit dem klarer werdenden Einblick in solche Interaktionen sollte man auch Ideen entwickeln können, wie sie sich bei schweren Infektionen mit gram-negativen Erregern unterbinden ließen. So weiß man bereits, daß Teilstrukturen von Lipoid A, die ja weit weniger als dieses selbst oder gar nicht toxisch sind, die Wirkung von intaktem Lipoid A auf Makrophagen beeinträchtigen können. Vermutlich machen sie diesem den Platz auf den Rezeptoren streitig. Die Wirksamkeit verschiedener solcher Teilstrukturen gegen Infektionsfolgen wird derzeit im Tierversuch getestet.

Sie selbst oder chemisch abgewandelte Formen von Lipoid A könnten sich vielleicht auch zur generellen Stärkung der Abwehrkraft bei Menschen eignen, deren Immunsystem Infektionen oder Tumoren nicht hinreichend zu bekämpfen vermag. Unter Umständen läßt sich den Makrophagen mit ausgewählten Lipoid-A-Komponenten sogar ein ungewöhnlicher Cocktail von Vermittlermolekülen entlocken, der nur die jeweils wünschenswerten Eigenschaften hat, also die unspezifische Immunität erhöht oder Tumoren zerstört, ohne daß ein Schock einträte.

Die Entdeckung, daß körpereigene Vermittlermoleküle für die Symptome von Infektionen mit endotoxin-produzierenden Bakterien verantwortlich sind, eröffnet noch andere therapeutische Möglichkeiten. Man könnte beispielsweise die Herstellung dieser Moleküle im Körper beziehungsweise sie selbst oder ihre Rezeptoren blockieren, über die sie – etwa an Neuronen oder an der Muskulatur der Blutgefäßwandungen – wirksam werden. So haben F. Ulrich Schade und Peter Zabel in Borstel an Freiwilligen festgestellt, daß Substanzen, welche die Produktion von Tumor-Nekrose-Faktor oder dessen Wirkung unterdrücken, Endotoxin-Effekte verhindern können. Versuchstiere überlebten dann eine ansonsten tödliche Dosis der bakteriellen Wirkstoffe.

Ansätze für weitere Behandlungsmöglichkeiten ergeben sich auch aus der Überlegung, wozu gram-negative Bakterien überhaupt mit Endotoxinen ausgestattet sind – sicherlich nicht, um ihren Wirt zu quälen oder sein Leben zu bedrohen, also ihre eigene Lebensgrundlage zu unterminieren. Sie sind immerhin stammesgeschichtlich vor den befallbaren höheren Organismen entstanden, so daß es wohl andere Gründe für die Entwicklung solcher Moleküle ge-ben muß.

Höchstwahrscheinlich brauchen die gram-negativen Bakterien ihre Endotoxine einfach, um überleben und sich vermehren zu können. Zumindest hat man weder in Kultur noch in Natur jemals einen lebensfähigen gram-negativen Mikroorganismus ohne diese Moleküle gefunden.

Die räumliche Struktur verrät zudem, daß Endotoxine ihre einzelligen Besitzer vor äußeren Einflüssen schützen. Berechnungen und Messungen von Manfred Kastowsky an der Freien Universität und Harald Labischinski am Robert-Koch-Institut in Berlin zeigen, daß die Fettsäure-Ketten der Moleküle alle parallel zueinander senkrecht in der äußeren Membran der Bakterien stecken (Bild rechts im Kasten auf Seite 37). Ihre Deckplatte sozusagen – das Paar phosphorylierter Glucosamine – ist gegenüber der Membranebene um etwa 45 Grad geneigt. Bei dieser Anordnung bilden die Fettsäuren eines Moleküls einen hexagonalen, kabelartigen Verbund, der eine dichte Packung mit weiteren Molekülen ermöglicht.

Eine solche starre, wohlgeordnete Architektur macht plausibel, warum die äußere Membran der Zellwand gram-negativer Bakterien weit weniger durchlässig ist als die eher flüssige – fluide – Phospholipid-Membran menschlicher Zellen oder die Zellwand gram-positiver Bakterien, die keine solche zweite Membranhülle hat. Das würde wiederum erklären, warum viele der bei gram-positiven Erregern wirksamen Antibiotika bei gram-negativen versagen oder nur in sehr hohen Dosen wirken. Medikamente, welche die geordnete Architektur der Membran oder ihrer Endotoxine stören, könnten somit solche Bakterien für Antibiotika leichter angreifbar machen.

Arbeitsgruppen in den USA und in Schweden versuchen ferner, die Synthese von Lipoid A in den Bakterien zu hemmen, damit keine überlebensfähigen Nachkommen mehr entstehen. Sie haben dazu Analoga von Kdo entwickelt. Kdo – die Zuckersäure mit den acht Kohlenstoffatomen im Gerüst – wird normalerweise an eine Vorstufe von Lipoid A gebunden, bevor als letztes die Fettsäuren hinzukommen (siehe Kasten auf Seite 38). Die Analoga hemmen ein Enzym, das die Anheftung dieser entscheidenden Zuckersäure katalysiert (man bietet dem Enzym also einfach untaugliche Bauteile an). Ohne reifes Lipoid A kann auch kein intaktes Lipopolysaccharid mehr entstehen, und die Bakterien stellen ihr Wachstum ein. Da alle gram-negativen Erreger Kdo benötigen, ließe sich mit solchen Analoga vermutlich die ganze Klasse dieser Bakterien bekämpfen. Zugleich hätte man damit ein völlig neuartiges Antibiotikum in der Hand: Keines der bisherigen Medikamente dieser Art wirkt über eine Störung der Endotoxin-Synthese.

Therapeutischen Nutzen könnte man schließlich aus der Beobachtung ziehen, daß die Infektion mit einem gram-negativen Erreger das Immunsystem für die Abwehr weiterer Infektionen mit anderen gram-negativen Arten stärken kann. Bekanntlich sind allen Vertretern die mit Kdo verbundenen Glucosamin-Paare gemein. Solche hochkonservierten, also im Laufe der Evolution praktisch nicht abgewandelten Strukturen dürften die Produktion von Antikörpern anregen, die auch jedes andere gram-negative Bakterium daran erkennen.

Als Medikament verabreicht, könnten solche Antikörper gleich zwei Vorteile in sich vereinen: Sie würden die gezielte Immunreaktion auf die O-spezifische Kette von Endotoxinen ergänzen, und sie böten die Möglichkeit, der zunehmenden Entwicklung von antibiotika-resistenten gram-negativen Bakterienstämme entgegenzuwirken. Denn eine unentbehrliche, konservierte Region eines Moleküls kann sich nicht ohne weiteres durch Mutationen verändern, ohne zugleich das Überleben der Bakterien zu gefährden. Mit Antikörpern gegen genau diese Region ließe sich somit durchaus das Problem der Resistenzbildung umgehen. In vielen Laboratorien wird zur Zeit versucht, einen solchen Breitband-Antikörper zu entwickeln.

Unser gegenwärtiges Wissen über bakterielle Endotoxine verdanken wir allein den gemeinsamen Anstrengungen von Forschern vieler verschiedener Disziplinen wie Chemie, Physik, Mikrobiologie, Genetik, Molekular- und Zellbiologie, Immunologie, Pathologie, Pharmakologie und klinischer Medizin. Solche Kooperation wird auch weiterhin erforderlich sein, um die Funktion von Endotoxinen in Bakterien, die Aktivierung von Makrophagen im Wirtsorganismus und die Induktion von Vermittlermolekülen bis ins letzte Detail zu entschlüsseln und aus diesen Kenntnissen heraus schließlich neue Medikamente zu entwickeln. Zur Förderung solcher Forschungen haben 1987 Wissenschaftler aus aller Welt die Internationale Endotoxin-Gesellschaft gegründet. Diese auch formale Vereinigung der Kräfte läßt auf baldige weitere Erfolge hoffen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1993, Seite 34
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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