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Befunde statt Funde - rote Fäden in der außereuropäischen Archäologie

Noch immer erregen vor allem spektakuläre Funde öffentliches Interesse und weniger die gezielte Suche nach historischen Zusammenhängen. Die Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie in Bonn widmet sich speziell den eigenständigen Entwicklungsprozessen der Kulturen in Afrika, Asien und Südamerika.

Nicht weit von der Grenze zu Belize entfernt liegt im guatemaltekischen Regenwald des Petén der See von Yaxhá. Auf der dicht überwucherten Insel Topoxté stieß 1831 der damalige Gouverneur des Gebiets, Juan Galindo, auf Maya-Ruinen (Bild 1). Im Jahre 1904 vermaß der Österreicher Teobert Maler, vormals kaiserlich-mexikanischer Pionieroffizier, die monumentalen Pyramiden im Zentrum der Insel und fertigte von den wichtigsten Bauten Bromsilbergelatine-Photos an. Dies erwies sich später als Glücksfall, denn außer der alles verschlingenden tropischen Vegetation setzten Raubgräber und etliche nachlässig durchgeführte Grabungskampagnen nordamerikanischer Archäologen den Ruinen schwer zu.

Seit 1990 arbeitet ein Team aus einheimischen Wissenschaftlern des Instituto de Antropología e Historia de Guatemala und deutschen Kollegen von der Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie (KAVA) an einem gemeinsamen Projekt in den Ruinen. Im Wettlauf mit dem weiteren Zerfall versuchen sie, eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten: Warum siedelten die späten Maya-Bewohner in dichtgedrängten, festungsartigen Stadtanlagen auf den Klippen einer Insel? Wie waren die Zeremonialplätze und Tempelpyramiden mit den Wohnbereichen der Elite verbunden? Wo lebten die einfachen Leute, und wovon ernährten sie sich?

Dies ist nur eines von mehreren Projekten der am 21. April 1979 zum hundertfünfzigjährigen Bestehen des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) gegründeten KAVA, die inzwischen ihren Sitz in Bonn hat. Während die DAI-Zentrale in Berlin mit ihren rund um das Mittelmeer angesiedelten Auslandsabteilungen insbesondere die Kulturen der klassischen Antike, des Vorderen Orients und Ägyptens erforscht, wurde es im ausgehenden 20. Jahrhundert erforderlich, den Blick über die engere altländische Identität hinaus zu erweitern. Eine aufgrund ihrer Tradition eher eurozentrische Betrachtungsweise sollte ergänzt werden durch archäologische Arbeit in anderen Erdteilen, wo vielfach von altweltlichen Entwicklungen völlig verschiedene Prozesse abgelaufen sind.

Schon der Name Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie soll diesen Schwerpunkt andeuten, vor allem jedoch auf den systematischen Strukturvergleich gewachsener Kultursysteme hinweisen. Darum wird nicht jeweils flächendeckend ein bestimmter Kulturraum behandelt, wie es die auf einzelne Länder spezialisierten DAI-Auslandsinstitute tun; vielmehr sucht man an einzelnen, gut ausgewählten Grabungsprojekten exemplarisch die oft ganz besonderen zivilisatorischen Leistungen unter spezifischen historischen Bedingungen aufzuzeigen. Es geht also um Gesamtzusammenhänge: um Befunde statt nur um Funde.


Ein grenzenloses Feld

Da eine systematisch-umfassende Beschreibung eines bestimmten Kulturkreises auf diese Weise weder angestrebt wird noch auch erreicht werden kann, kommt der Bestimmung des Grabungsorts und den sie leitenden wissenschaftlichen Fragen große Bedeutung zu. Die KAVA muß punktuell vorgehen, übergeordnete Problemkreise aufgreifen und die Feldarbeit in den einzelnen Kampagnen so ausführen, daß der tiefere historische Sinn deutlich wird.

Zu solchen Themen gehören beispielsweise die Bedingungen für das Entstehen von Hochkulturen im vorspanischen Mittel- und Südamerika, vor allem in Peru und Ekuador, und neuerdings eben auch im tropischen Regenwald des Petén-Tieflands von Guatemala sowie im Department Santa Cruz im Tiefland von Bolivien. Naturwissenschaftlich besonders interessant sind Entwicklung und Bedeutung der Metallurgie in den vorspanischen Andenkulturen, aber auch im Süden Sri Lankas, in der alten Königsresidenz Tissamaharama. Dort konnte unter anderem ein überlanger Schmelzofen mit mehreren Arbeitsplätzen ausgegraben werden, der auf manufakturartige Herstellungsprozesse schon in der Frühzeit der Kupferverarbeitung schließen läßt; auch die weitreichenden Handelsbeziehungen der singhalesischen Königreiche im ersten Jahrtausend nach Christus nicht nur mit dem indischen Subkontinent, sondern sogar bis in den Mittelmeerraum wurden so erneut belegt.

Ein Forschungsprojekt in Togo soll klären, wie sich in diesem Bereich Schwarzafrikas der Übergang vom frühen Jägertum zur Seßhaftigkeit in planvoll angelegten Lehmbaudörfern vollzog, die man in die späte Eisenzeit datiert. Dabei werden auch bisher kaum bekannte Felsbilder aufgenommen und über die reine Beschreibung hinaus in einen größeren Zusammenhang der menschlichen Kulturentwicklung gestellt.

Von hier aus wird des weiteren ein Bogen in den Norden des Kontinents geschlagen, um frühe Fundplätze an der Mittelmeerküste mit einzubeziehen. Im Frühjahr 1995 fand eine erste Grabungskampagne im bisher wenig erforschten Nordostmarokko statt, wo in einer sehr abwechslungsreichen Landschaft zwischen dem schroffen Rif-Gebirge, dem weiten Becken des Moulouya-Flusses und dem östlichen Tiefland einzelne Siedlungskammern untersucht werden sollen. Vor allem am Fuß der Hügelzüge, geschützt unter Hangschutt, hat sich eine ganze Reihe von Fundstellen aus dem Neolithikum ungestört erhalten (Bild 3). Ziel des zunächst auf fünf Jahre geplanten Kooperationsprojekts ist ein möglichst vollständiges Besiedlungsbild vom Paläolithikum bis in historische Zeiten, wobei auch den Wechselwirkungen mit dem vorgeschichtlichen Europa nachgegangen werden soll.

Eine der europäischen Forschung lange unzugängliche Region ist Vietnam. Dort unternimmt die KAVA nun gleichfalls eine neue Feldkampagne. Dazu mußte freilich erst die archäologische Literatur ausgewertet werden, die in den letzten zwanzig Jahren ausschließlich in vietnamesischer Sprache erschienen ist. Inwieweit eine dauerhafte Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen möglich ist, wird sich erst zeigen.


Unaufdringliche Entwicklungshilfe

In dieser Zusammenarbeit mit den außereuropäischen Partnern der einzelnen Forschungsprojekte wird versucht, eine Dominanz zu vermeiden, die als kultureller Kolonialismus empfunden werden könnte. Die KAVA unterhält keine festen Stationen im Ausland; es gibt keine eingespielte Logistik. Vielmehr suchen die deutschen Wissenschaftler eine intensive, gleichberechtigte Kooperation mit den archäologischen Diensten der Gastländer: von der gemeinsamen Planung über die Durchführung bis zur Publikation der Ergebnisse in einer Sprache, die in den jeweiligen Ländern zumindest verstanden wird.

Ein solches Vorgehen ist sicherlich dazu angetan, noch aus der Kolonialzeit stammende Ressentiments zu überwinden – der weiße Forscher mit Tropenhelm und Gamaschen, dem eine endlose Kette von Trägern und subalternen Helfern folgt, gehört endgültig der Vergangenheit an. Zudem erwerben die einheimischen Mitarbeiter Fachwissen, beispielsweise in bestimmten Vermessungstechniken, das sie für spätere Tätigkeiten in landeseigenen Unternehmen höher qualifiziert – eine Art indirekte Entwicklungshilfe, wie sonst übliche Großprojekte sie selten leisten.

Eine an solchen Prinzipien orientierte Feldforschung ist nicht nur mühsam, sondern oft auch abenteuerlich und in überwiegend tropischen, politisch meist instabilen Ländern zuweilen gefährlich. Dennoch hat sie bisher trotz aller Schwierigkeiten, von der Cholera bis zum Putsch, gut funktioniert.

Eminent wichtig ist die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse in einer Sprache, die sie den einheimischen Fachkollegen zugänglich macht. Gerade in Ländern der Dritten Welt reichen die Kräfte und Mittel kaum je aus, die vorhandenen archäologischen Schätze – sei es noch im Boden oder in den Museen – dauerhaft zu bewahren und zu schützen. Mithin muß ihnen geholfen werden, die ureigenen kulturellen Quellen zu erschließen, um ihr historisches Bewußtsein zu stärken.


Neuland der Archäologie

Eine über die Jahrhunderte politisch wie ökologisch fragile Region sind die Hochtäler des tibetischen Himalaja. Seit 1991 arbeitet die KAVA dort in Absprache mit dem Department für Archäologie in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu, und zwar in dem strategisch bedeutenden Tal von Muktinath in Mustang (Bild 2).

Der Himalaja-Hauptkamm trennt als markante Klima- und Kulturscheide den feuchtheiß-tropischen indischen Subkontinent von den extrem trockenen Ebenen Zentralasiens. Täler in Nord-Süd-Richtung bildeten oft Durchgangskorridore für militärische und wirtschaftliche Unternehmungen, viele Täler längs der Hauptausdehnung wurden dagegen zu Rückzugsgebieten, in denen sich mancherorts bis in die Gegenwart Reliktformen tibetischer Kultur ungebrochen tradieren konnten.

In den unwegsamen Hochgebirgslagen, die nur mittels künstlicher Bewässerungssysteme bewirtschaftet werden konnten (und können), hat die Natur Siedlungen aufs äußerste erschwert. Hier wurden stets Methoden gesucht, die Bodenerträge zu verbessern, allerdings auch bevölkerungspolitische Maßnahmen getroffen, um die Einwohnerschaft auf einigermaßen konstantem Niveau zu halten: Die zum Teil noch übliche Polyandrie (Vielmännerei) und die Aufnahme sozusagen überzähliger Männer in die Klöster gewährleisten, daß die Gemeinschaftsaufgaben zu bewältigen sind, die Bevölkerungsdichte aber nicht einen ökonomisch und ökologisch kritischen Wert erreicht.

Die Arbeiten der KAVA im Hochtal von Muktinath an den Burganlagen von Dzong, Dzarkot und besonders Khyinga lassen auf drei Perioden schließen. Die Anfänge der Besiedlung dürften bis in das 2. Jahrhundert vor Christus zurückreichen; archäologisch nachweisbare Siedlungszäsuren lassen sich in Zusammenhang bringen mit der tibetischen Annexion des Gebiets im 7. und 8. sowie mit der Ausbreitung des Lamaismus-Buddhismus und der endgültigen Tibetisierung zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert.

Archäozoologischen Untersuchungen zufolge muß das Hochtal von Muktinath im ersten nachchristlichen Jahrtausend bewaldet gewesen sein – ein krasser Gegensatz zur derzeitigen alpinen Trockensteppe. Es ist noch zu prüfen, in welchem Zusammenhang die folgenschweren Rodungen mit der frühmittelalterlichen Siedlungspolitik stehen. Dann wird sich auch zeigen, inwieweit archäologische Befunde zur Entstehung von größeren Gemeinwesen in einer Gegend, in der Umwelt und Mensch sehr empfindlich aufeinander reagieren, dazu beitragen können, die Auswirkungen künftiger Naturkatastrophen vorsorglich wenigstens abzuschwächen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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