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Bibliotheken in der Informationsgesellschaft



Bibliotheken sind mehr als nur Wissensquellen für jedermann, sie sind tragende Säulen der europäischen Kultur. Um dieser herausragenden Bedeutung auch künftig gerecht zu werden, brauchen sie eine leistungsfähige Ausstattung und Organisation, sie müssen sich öffnen und zu einem europäischen Bibliotheksnetz mit universellem Zugriff verknüpfen. Hier liegt die entscheidende Chance für den Wissenstransfer der Zukunft. Die bisherigen Bibliotheksprogramme der Europäischen Union (EU) haben bereits einiges bewegt, um den Austausch von Wissen zu verbessern.

Allein in den Ländern der EU gibt es 96000 Bibliotheken aller Größenordnungen, davon sind 25000 große und mittlere Einrichtungen. Über 1,5 Milliarden Publikationen stehen für den nach Informationen suchenden Leser bereit. Doch die dramatischen Veränderungen im Publikationswesen, geprägt vom konsequenten Einsatz elektronischer Medien, schlagen auch auf die Bibliotheken durch. Wissenschaftliche Veröffentlichungen werden längst nicht mehr nur als Druckwerke vertrieben. Digitale Publikationen sind auf dem Vormarsch, sei es auf CD-ROM oder im Netz. Das Internet bestimmt das Denken und Arbeiten, wie es vor wenigen Jahren noch nicht vorstellbar war. Die Faszination der globalen Kommunikation verleitet manche Entscheidungsträger dazu, Bibliotheken als verstaubte und altmodische Einrichtungen abzutun. Dabei vergessen sie aber einen entscheidenden Punkt: Das Netz ist lediglich ein Vertriebskanal. Der Inhalt entsteht aus der Verfügbarkeit von Texten, Bildern und sonstigen Dokumenten. Hier können Bibliotheken eine wichtige Rolle spielen – als Lieferanten und Vermittler, zusammen mit Verlagen und wissenschaftlichen Einrichtungen. Es macht Sinn, die Bibliotheken in Europa zu fördern. Sie können den europäischen Pluralismus der Kulturen und den Reichtum der großen Bibliothekssammlungen in einer Koexistenz bündeln und den Wissenstransfer organisieren.

Europäische Bibliothekspolitik, das bedeutet zunächst einmal Förderung der technischen Infrastruktur. Sie macht die Bibliotheken mit ihren spezifischen Inhalten zum kulturellen und wissenschaftlichen Bindeglied Europas. Bibliotheken bleiben auch in einer veränderten Arbeits- und Lebenswelt reale Orte des Lesens und Lernens. Sie bilden das Verbindungsglied von realen und virtuellen Informationsangeboten, sie schaffen ein kulturelles Umfeld und eine stimulierende Umgebung zum lebenslangen Lernen.

Nun zu den Defiziten der europäischen Bibliotheksstruktur: Es fehlt an systemübergreifender Kommunikation und ausreichender Dienstleistung. Dabei kommt es gerade darauf an, vorhandene Strukturen als Komponenten eines übergreifenden Systems zu gestalten. Hier sind zügige Entscheidungen über einheitliche Standards erforderlich, etwa über offene Schnittstellen oder den Einsatz des Internets. Die Langzeitarchivierung digitaler Publikationen muß von den europäischen Nationalbibliotheken gemeinsam gelöst werden, um "blinde Flecken" in der kulturellen Überlieferung zu vermeiden. Die Kooperation zwischen Verlagen und Bibliotheken würde dafür förderlich sein, aber auch die Zusammenarbeit von Fachgesellschaften und Bibliotheken. Deshalb muß das europäische Bibliotheksprogramm einige entscheidende Bereiche besonders stärken.

Gebraucht werden Dienstleistungen rund um das zu liefernde Dokument und eine gemeinsame Strategie für netzbasierte Bibliotheksdienste, die überall in Europa zugänglich sind. Hierzu ist es zum Beispiel erforderlich, Ressourcen und Dienste zwischen verschiedenen Bibliotheken zu verteilen, einen universellen Zugriff zu allen europäischen Informationsquellen einzurichten, mehrsprachige Verfahren einzuführen sowie die verschiedenen technischen Plattformen durch offene Schnittstellen zu verknüpfen. Des weiteren sollte eine gemeinsame digitale europäische Bibliothek geschaffen werden, wobei sich bestehende nationale Initiativen zum Aufbau digitaler Bibliotheken vernetzen und weitere digitale Sammlungen, etwa von Verlagen, integrieren ließen. Es müssen neue, effektive Management-Strategien entwickelt werden, damit Bibliotheken die verfügbaren digitalen Möglichkeiten besser nutzen und als Teil ihrer Dienstleistungen auch anbieten. Zudem gilt es, erfolgreich abgeschlossene Pilotprojekte zum Aufbau einer europäischen Informationsstruktur richtig zu vermarkten.

Ausgangspunkt für die von der EU geförderte europäische Bibliothekskooperation war eine Resolution des Europäischen Parlaments 1984 zur Gründung einer europäischen Bibliothek. Ein Jahr später forderte dann der Ministerrat die Europäische Kommission auf, eine moderne Bibliotheksinfrastruktur in Europa zu fördern und damit das kulturelle, soziale und wirtschaftliche Leben der Bürger zu bereichern. So entstand 1988 der "Aktionsplan für die Bibliotheken Europas", mit dem der Gedanke einer gemeinsamen europäischen (Zentral-)Bibliothek beiseite gelegt wurde. Statt dessen sollte die Kooperation zwischen den Bibliotheken verstärkt werden. Dieser Aktionsplan war nur als einmaliges Vorhaben gedacht. Doch mit der Aufnahme der Bibliotheken in das Telematik-Programm des dritten Rahmenprogramms für Forschung und Entwicklung der EU (1990 bis 1994) hatten die Verantwortlichen endlich feste Planvorgaben, zeitliche wie finanzielle. Das Budget in dieser Startphase war recht bescheiden. Es betrug 24 Millionen ECU (etwa 46 Millionen Mark) für die gesamte Laufzeit und die Aktivitäten aller beteiligten Staaten. Gefördert wurden vor allem die Erstellung computergestützter Bibliographien, die Vernetzung von Bibliothekssystemen auf der Grundlage internationaler Standards sowie die Entwicklung neuartiger Dienstleistungen.

Das erste Bibliotheksprogramm förderte mehr als 50 Projekte, an denen sich Teilnehmer aus 228 Einrichtungen beteiligten. Ergebnisse waren verbesserte Online-Kataloge zur Dokumentlieferung und neuartige Datenstrukturen für Schnittstellen zur elektronischen Datenverarbeitung, um nur zwei Beispiele zu nennen. Im Bereich Dienstleistungen konzentrierten sich die Beteiligten unter anderem auf die globale Suche in Online-Katalogen und das computergestützte Publizieren. Fazit: Das erste europäische Bibliotheksprogramm stärkte praktische Ansätze zur Kooperation und stimulierte sogar den europäischen Markt für Informationstechnik.

Dieser Erfolg wurde auch bei der Europäischen Kommission nicht übersehen: Im Programmbereich "Telematics for Knowledge" setzte sie die Förderung auch im vierten Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung fort. Das zweite Bibliotheksprogramm mit einer Laufzeit von 1994 bis 1998 und einem Budget von 30 Millionen ECU (etwa 57 Millionen Mark) legt den Schwerpunkt noch stärker auf Inhalte und Service. Nun stehen Netzwerk-Dienstleistungen innerhalb einer Bibliothek, zwischen verschiedenen Bibliotheken und anderen Informationsanbietern im Mittelpunkt des Interesses.

In nahezu 50 Projekten arbeiten 269 Einrichtungen zusammen. So haben sich zum Beispiel die europäischen Nationalbibliotheken zusammengeschlossen, um Forschungsprojekte gemeinsam voranzutreiben. Unter der Bezeichnung CoBRA (Computerised Bibliographic Record Actions) entwickeln sie unter anderem im Projekt METRIC (Exploitation of Bibliometric Data in National Bibliographic Databases) Normdateien für bibliometrische Daten und suchen im Projekt NEDLIB (Networked European Deposit Library) Wege zu einer europäischen Depotbibliothek für elektronische Publikationen. Zukunftsweisend ist auch das Projekt CHILIAS (Children's Library – Information – Animation – Skills) unter Federführung der Stadtbibliothek Stuttgart. Hier soll Kindern und Jugendlichen über die Bibliotheken europaweit ein Zugang zur multimedialen Welt ermöglicht werden.

Einige der interessantesten Projekte unter deutscher Führung stehen gerade erst am Anfang, wie MALVINE (Manuscripts and Letters via Integrated Networks in Europe), koordiniert von der Staatsbibliothek Berlin; beteiligt ist auch das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik, Berlin. Hier wird ein verteiltes Zugriffssystem auf die katalogisierten Handschriften europäischer Bibliotheken, Archive und Museen entwickelt und getestet. Damit stehen diese Dokumente künftig nicht nur wenigen Forschern vor Ort zur Verfügung, sondern der breiten Öffentlichkeit.

Das fünfte Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung soll noch weiter führen. Werden seine Projekte erfolgreich umgesetzt, steht am Ende der vollständige Online-Verbund von Museen, Bibliotheken und Archiven. Sind alle Informations- und Wissensbereiche über das Netz zusammengeführt, steht dieses Wissen allen Forschern, aber auch der Öffentlichkeit zur Verfügung.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 921
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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