Direkt zum Inhalt

Nobelpreis für Chemie: Bilder von Biomolekülen - lebensecht und live

Mit raffinierten Ideen schafften es die drei Preisträger, gängige Verfahren zur Identifikation und Strukturbestimmung auf riesige Moleküle auszudehnen, wie sie für die Biologie typisch sind. Seither gelingt deren Abbildung im Naturzustand.


Die molekularen Maschinen der lebenden Zelle sind so klein, dass wir sie grundsätzlich nicht sehen können. Doch es gibt eine Reihe von indirekten Methoden, ihren Aufbau und ihre Gestalt zu ermitteln. Mit Abstand am erfolgreichsten ist die Röntgenstrukturanalyse, die inzwischen mehr als 17000 detaillierte Bilder von Proteinen geliefert hat – Tendenz: exponentiell steigend. Doch diese Methode erfordert einen Kristall, da sie die Koordinaten der einzelnen Atome anhand der Beugung von Röntgenstrahlen an den Ebenen des Kristallgitters ermittelt. Biomoleküle lassen sich aber nicht immer kristallisieren oder werden beim Übertritt in den Kristallverband möglicherweise in ein künstliches Korsett gezwungen. Deshalb gewinnen zunehmend Methoden an Bedeutung, mit denen sich auch die Raumstruktur von einzelnen Biomolekülen in ihrer natürlichen Umgebung bestimmen lässt.

Bei ihrer Entwicklung haben die Träger des diesjährigen Chemie-Nobelpreises Pionierarbeit geleistet. Ihnen ist es mit raffinierten Tricks gelungen, die Massenspektrometrie (MS) und die Messung der kernmagnetischen Resonanz (NMR für nuclear magnetic resonance) so zu erweitern, dass beide Verfahren auf biologische Moleküle anwendbar wurden.

Die NMR-Spektroskopie beruht da-rauf, dass bestimmte Atomkerne einen Eigendrehimpuls (Spin) haben, der in einem Magnetfeld unterschiedliche Orientierungen annehmen kann. Mit Radiowellen lässt sich ein Übergang zwischen diesen Orientierungen auslösen. Die genaue Frequenz dieser Wellen hängt dabei von der Art des Atomkerns ab und nimmt mit der Stärke des Magnetfeldes zu. Sie wird aber auch durch die chemische Umgebung des einzelnen Atoms und durch die Wechselwirkung mit den Spins von Nachbaratomen beeinflusst. In den resultierenden Verschiebungen der Absorptionsfrequenz verbirgt sich die gewünschte Information über die Struktur.

Allerdings sind sie unvorstellbar klein. Die Maßeinheit ist ein Millionstel der Anregungsfrequenz. Es grenzt schon nachgerade an ein Wunder, dass man dennoch vollständige Proteinstrukturen aus einem NMR-Röhrchen mit einem halben Milliliter Proteinlösung herauszaubern kann. Die einfallsreiche Kombination mathematischer Auswertungsmethoden mit quantenmechanischen Tricks hat hier das Unmögliche möglich gemacht.

Beobachtung im gelösten Zustand Bahnbrechende Beiträge dazu leistete über die letzten drei Jahrzehnte hinweg Kurt Wüthrich, Jahrgang 1938, mit seiner Arbeitsgruppe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Dafür wurde er nun mit der Hälfte des diesjährigen Nobelpreises für Chemie geehrt. Schon in den 1970er Jahren entwickelte Wüthrich in Zusammenarbeit mit Richard Ernst (Chemie-Nobelpreis 1991) die Standardmethode der sequenziellen Zuordnung von NMR-Signalen zu Atomkernen. Sie stützt sich auf eine Kombination zweier Arten der zweidimensionalen NMR-Spektroskopie. Die eine namens Cosy (correlated spectroscopy) ermöglicht es, die spektroskopischen Eigenheiten eines gegebenen Molekülteils zu ermitteln. Auf deren Basis lassen sich mit der anderen Methode namens Noesy (nuclear Overhauser effect spectroscopy) die Abstände zu anderen Molekülteilen bestimmen. Auf diese Weise konnte Wüthrichs Arbeitsgruppe 1985 die erste Proteinstruktur aufklären. Inzwischen stammen 20 Prozent der Strukturen, die in der Protein Data Bank aufgelistet sind, von NMR-Untersuchungen.

Heute kommen noch kompliziertere Methoden zum Einsatz. Dabei werden beispielsweise gezielt an einzelnen Stellen eines Proteins seltene Isotope des betreffenden Atoms eingebaut (etwa Stickstoff-15 statt Stickstoff-14). Außerdem nimmt man oft nicht mehr nur zwei-, sondern dreidimensionale Spektren auf. Diese Verfahren, an deren Entwicklung Ad Bax vom amerikanischen Nationalinstitut für Diabetes sowie für Erkrankungen des Verdauungsapparats und der Nieren in Bethesda (Maryland) wesentlich beteiligt war, haben die Obergrenze für die Masse eines Moleküls, das sich noch erfolgreich untersuchen lässt, von rund 15 auf knapp 30 Kilodalton verdoppelt.

Auch dabei bleibt freilich ein Großteil der biologisch relevanten Moleküle ausgeschlossen. Daher gibt es Bemühungen, diese Grenze weiter nach oben zu treiben. Sie stützen sich wiederum auf neue Methoden aus Wüthrichs Labor. So bringt das so genannte Trosy-Verfahren (transverse relaxation-optimized spectroscopy) die stärksten heute erhältlichen Magnete noch besser zur Wirkung. Theoretiker erwarten von der nächsten Generation von Magneten, in denen die Resonanzfrequenz des Wasserstoffs bei 1000 Megahertz liegen wird (gegenüber den bisher üblichen 500 oder 600 Megahertz), Trosy-Spektren mit nahezu perfekter Signalschärfe. Dann dürfte es für Struktur-analysen auf NMR-Basis praktisch keine Grenzen mehr geben.

Indem die kernmagnetischen Methoden Biomoleküle in Lösung untersuchen, zeigen sie deren Struktur unter annähernd natürlichen Bedingungen. Dabei lässt sich unter anderem auch erkennen, ob es Bereiche in einem Molekül gibt, die ungeordnet sind oder ihre Struktur rasch ändern. Ein Beispiel dafür liefert das Prionprotein, dessen krankhaft veränderte Form als Verursacher des Rinderwahnsinns gilt. Wüthrich und seine Mitarbeiter konnten zeigen, dass nur etwa die Hälfte der Eiweißkette in wässriger Lösung in einer definierten Struktur vorliegt, während der Rest frei beweglich ist (Spektrum der Wissenschaft 9/1996, S. 16).

Außer für die Grundlagenforschung wird das NMR-Verfahren inzwischen auch industriell eingesetzt. Die wohl größte Bedeutung hat es für die Entwicklung neuer Medikamente. Dabei geht es um die Suche nach Stoffen, die sich selektiv an eine bestimmte Zielstruktur – etwa das aktive Zentrum eines Enzyms – im Körper heften und dabei der Substanz, die sich normalerweise dort anlagert, den Zutritt verwehren oder ihre Wirkung nachahmen. Da die Bindung eines Moleküls das NMR-Spektrum der Zielstruktur ändert, eignet sich das Verfahren hervorragend, um unter großen Mengen von Kandidaten einfach und schnell die viel versprechenden herauszufischen.

Der sanfte Weg zum Wiegen

Die zweite Hälfte des Chemie-Nobelpreises teilen sich zwei Forscher für die Fortentwicklung einer Methode, bei der Moleküle ebenfalls nicht in kristallisierter Form, aber auch nicht in Lösung untersucht werden. Stattdessen bringt man sie in die Gasphase und ionisiert sie. Dabei entsteht ein Strahl von geladenen Molekülen. Diese können mit verschiedenen Methoden – etwa anhand ihrer Flugzeit bis zum Detektor oder ihrer Ablenkung in einem Magnetfeld – nach ihrem Verhältnis von Ladung zu Masse getrennt werden. Aus ihm lässt sich dann auf das Molekulargewicht zurückschließen. Das als Massenspektrometrie bezeichnete Verfahren ist seit vielen Jahrzehnten Standard in der organischen Chemie – aller-dings nur für relativ kleine Moleküle.

Der Engpass, der die Untersuchung von größeren Verbindungen lange Zeit erschwerte, war nicht etwa die eigent-liche Messung, sondern die Ionisierung der Proben. In der organischen Chemie verwendet man dafür recht brutale Methoden, die kein Biomolekül überleben würde. Die Preisträger John Fenn und Koichi Tanaka entwickelten schonende Alternativen, nämlich die Elektrospray-Ionisation (ESI) beziehungsweise die sanfte Laser-Desorption (SLD).

John Fenn, Jahrgang 1917, bildet insofern eine Ausnahme unter den Nobel-Laureaten, als er die preiswürdige Leistung erst kurz vor dem Ende seiner Karriere vollbrachte. Den Durchbruch für das ESI-Verfahren erzielte er im Jahr seiner Emeritierung von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut): Auf einer Konferenz berichtete er 1988 über die erfolgreiche Analyse von Proteinen mit bis zu vierzig Kilodalton Molekulargewicht.

Wie der Name des Verfahrens schon andeutet, sprüht man die Probenlösung durch eine feine Düse in ein starkes elektrisches Feld – mit einer Spannung von immerhin 3000 Volt. Die entstehenden winzigen Tröpfchen werden weiter eingedampft, bis die nackten Biomoleküle zurückbleiben. Diese sind typischerweise verschieden stark geladen und liefern deshalb mehr als ein Dutzend getrennte Signale. Fenn erkannte als Erster, dass dies kein Problem, sondern eine willkommene Quelle zusätzlicher Informationen ist. So lassen sich aus den Einzelsignalen unabhängige Werte für die Masse gewinnen. Durch Mittelung erhält man dann erstaunlich genaue Ergebnisse, die etwa bei einem mittelgroßen Protein mit einem Molekulargewicht von zwanzig Kilodalton Auskunft über die An- oder Abwesenheit eines Wasserstoffatoms geben. Außerdem verrät die Häufigkeitsverteilung der Ladungen einiges darüber, wie kompakt die Proteinmoleküle zum Zeitpunkt der Ionisierung gefaltet waren.

Die rasche Entwicklung immer besserer kommerzieller ESI-Spektrometer und die Ausweitung der Anwendungsmöglichkeiten bis in den Megadalton-Bereich machten das Elektrospray-Verfahren in den 1990er Jahren zu einer beliebten Methode in Biochemie-Labors in aller Welt. In unzähligen Forschungsprojekten wurden Massenspektren von immer größeren und komplexeren Biomolekülen aufgenommen. Es geht das Gerücht, dass sogar ein komplettes Virus nicht nur gemessen worden, sondern anschließend noch infektiös gewesen sei.

Auch lose zusammengesetzte Komplexe aus mehreren Enzymen lassen sich per ESI untersuchen. Das eröffnet die Chance, Wechselwirkungen zwischen Proteinen zu untersuchen. Damit gewinnt man Einblicke in das komplizierte Netzwerk ihrer gegenseitigen Beziehungen, das die Zellmaschinerie in Gang hält. Kein anderes Verfahren kann so schnell, empfindlich und zielsicher lockere Verbände von Biomolekülen aufspüren.

Dabei kommt eine weitere Stärke der Elektrospray-Ionisation zum Tragen: ihr extrem geringer Materialbedarf. Wie sich zeigte, verbessern sich die Ergebnisse sogar, wenn man die Fließgeschwindigkeit bei der Probeneingabe so niedrig wie möglich einstellt. Nanoflow-Verfahren, bei denen Probenvolumina im Bereich von Nanolitern (millionstel Millilitern) injiziert werden, sind heute üblich.

Dass ESI trotz all dieser Vorzüge nicht einzig dasteht, ist dem dritten Preisträger zu verdanken, der gleichfalls 1987/88 die Laser-Desorptionsmethode entwickelte. Im Alter von nicht einmal dreißig Jahren zeigte der 1959 geborene Koichi Tanaka von der Firma Shimadzu in Kioto, dass man durch geschicktes Kombinieren eines geeigneten Adsorptionsmaterials und relativ schwacher Laserpulse Biomoleküle, die zunächst an den Feststoff adsorbiert wurden, schonend in die Gasphase katapultieren kann.

Der wichtigste Gesichtspunkt beim Zusammenstellen der Komponenten ist, dass das Biomolekül kein Licht in dem Spektralbereich absorbieren darf, den der Laser aussendet. Für Proteine erfüllt zum Beispiel ein Stickstoff-Laser mit 330 Nanometern Wellenlänge diese Bedingung. Das Material, das dem Biomolekül als Startrampe dient, sollte hingegen die eingestrahlte Energie aufnehmen und da-durch so ins Vibrieren geraten, dass es die zu untersuchenden Moleküle ins Vakuum schleudert.

Tanaka entwickelte seine Methode zunächst mit einem Substrat aus Glycerin und Kolloid-Partikeln. Inzwischen wurde es jedoch von noch besser geeigneten Adsorptionsmaterialien verdrängt. Die derzeit gängige Variante der Laser-Desorption ist als Maldi (für matrix-assisted laser desorption ionization) bekannt.

Gemeinsam ermöglichen ESI und SLD heute biochemische Analysen, von denen Forscher noch vor wenigen Jahren nur zu träumen wagten. So kann man damit in kurzer Zeit den Gehalt einer Zelle an großen Biomolekülen bestimmen. Es gibt aber auch bedeutende Anwendungen in Pharmaforschung und Medizin – etwa zur Früherkennung von Malaria oder von bestimmten Krebsarten. In der Nahrungsmittelüberwachung haben sich die beiden Verfahren inzwischen gleichfalls einen festen Platz erobert. Sie helfen nicht nur mögliche Schadstoffe zu erkennen, sondern auch Bedingungen zu finden, unter denen diese gar nicht oder nur in sehr geringer Menge entstehen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2002, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.