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Lexikon: Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre

Band 3: Nachträge und Ergänzungen Aba – Kom
Herausgegeben und bearbeitet von Peter Voswinckel. Olms, Hildesheim 2002. 955 Seiten, € 101,–


Die medizinische Biografik arbeitet so bedächtig, dass ein Standardwerk alle fünfzig Jahre als angemessene Publikationsrate gilt. Auf das fünfbändige "Biographische Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker" (1884-1888, Neubearbeitung 1929-1934) von August Hirsch folgte 1901 Julius Pagel mit seinem "Biographischen Lexikon hervorragender Ärzte des 19. Jahrhunderts". Deren Arbeit führte Isidor Fischer mit seinem zweibändigen "Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre" weiter, das 1932/33 erschien. Der 1868 in Wien geborene und dort tätige Gynäkologe und Medizinhistoriker Fischer behandelte als alleiniger Bearbeiter 7800 Mediziner aus der ganzen Welt, wenn auch mit einem deutlichen Schwerpunkt in Westeuropa und den USA. Wegen der rassistischen Anfeindungen des nationalsozialistischen Regimes emigrierte er 1938 nach England, wo er 1943 in Bristol verstarb.

Der renommierte Medizinhistoriker Peter Voswinckel hat es nun unternommen, das Werk Fischers zu einem Abschluss zu bringen. Dieser hatte aus Gründen der Kontinuität nicht nur bereits verstorbene, sondern auch 4400 noch lebende Fachkollegen aufgenommen. Voswinckel ist nun dem Schicksal dieser 4400 Ärzte nachgegangen. Der vorliegende Band enthält die Namen von "Aba" bis "Kom", ein vierter Band soll den Rest des Alphabets umfassen.

Abgesehen von Angaben wie Name, Berufsbezeichnung, Geburts- und Todesdaten wiederholen die einzelnen Artikel nichts, was schon bei Fischer steht, sondern setzen dessen biografische Artikel einfach fort. In der Tat eine Ergänzung, die ohne das Grundwerk nicht sinnvoll zu nutzen ist. Dies allerdings ist in einschlägigen Bibliotheken zu finden, sodass der Verzicht auf die Wiederholung gerechtfertigt erscheint.

Voswinckel versteht sein Lexikon "als Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Europas, zugleich als Anregung und Appell an die heute tätigen Ärzte ..., gelegentlich innezuhalten und sich klarzumachen, dass die gemeinsame Geschichte unvorstellbare Verletzungen und Wunden birgt, die zu übersehen fatale Folgen nach sich ziehen muss". In das Vorwort integriert ist eine nach Städten geordnete Auflistung bei Fischer behandelter Personen, die vertrieben wurden oder Selbstmord begingen wie der Prager Pädiater Rudolf Fischl, der seiner drohenden Deportation 1942 durch den Sprung aus dem Fenster zuvorkam, sowie eine Aufstellung jener dort genannten Ärzte, die während der NS-Herrschaft dem SS-Offizierskorps angehörten. Die erste Liste ist von trauriger Länge, die zweite – immerhin – recht kurz.

Hinter den knapp und nüchtern geschriebenen Lebensläufen verbirgt sich eine immense Recherchetätigkeit, die nur zu erahnen vermag, wer selbst mit der biografischen Forschungspraxis vertraut ist. Hinzu kommt, dass Voswinckel diese Sysiphusarbeit ohne nennenswerte organisatorische und fachliche Unterstützung alleine zu Wege gebracht hat.

Der Sinn dieses Unterfangens – siebzig Jahre danach! – scheint gleichwohl zunächst fraglich. Im Rückblick erscheint mancher der Beschriebenen nicht mehr so hervorragend, dass er einen Eintrag in Fischers Lexikon verdient hätte; die große Bedeutung anderer Ärzte zeigte sich erst nach 1930. Zudem liegt seit 2002 die "Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner" (K. G. Saur, München) vor, die unter der Ägide des Kieler Medizinhistorikers Dietrich von Engelhardt erarbeitet wurde. Die 4600 Kurzbiografien in zwei Bänden stellen im Wesentlichen einen Auszug aus der zehnbändigen "Deutschen Biographischen Enzyklopädie" (1995-2000) desselben Verlags dar.

Ich halte die Vorgehensweise Voswinckels für wohlbegründet und sein Werk für einen überzeugenden Beleg dafür. Die Beschränkung auf die Vorgaben Fischers hat systematische Gründe, ist aber auch ein Zeichen des Respekts vor dem Werk und der Persönlichkeit Fischers, dessen Lebenslauf als einziger neu hinzukam. Vor allem liefert Voswinckel den aktuellen Forschungsstand, den man in der "Biographischen Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner" vergeblich sucht – ein Mangel, der wegen der beträchtlichen Verbreitung dieses Werks schwer wiegt.

Die "Biographie" ist überwiegend eine Kompilation bereits gedruckt vorliegender Quellen, die sich in Alter und Korrektheit stark unterscheiden. Manche wichtige Namen fehlen überhaupt, so etwa der Hämatologe Hans Hirschfeld, der 1932/34 ein vierteiliges "Handbuch der allgemeinen Hämatologie" herausgab und von 1916-1938 Herausgeber der international renommierten "Folia Haematologica" war. Hirschfeld verlor seine Ämter und wurde 1944 im KZ Theresienstadt ermordet, aber nicht nur seine persönliche Existenz wurde vernichtet, sondern auch sein Platz in der Medizingeschichte. Als 1957-1969 in der Bundesrepublik eine Neuauflage des "Handbuchs der Hämatologie" erschien, fehlte sein Name als Herausgeber, ebenso wie in den in der DDR weitergeführten "Folia Haematologica". Kein Nachschlagewerk der Nachkriegszeit verzeichnete Hirschfeld, lediglich in einer 1974 erschienenen "Einführung in die Geschichte der Hämatologie" findet sich der falsche Hinweis, Hirschfeld sei 1929 in Berlin verstorben. Der korrekte Lebenslauf wurde erst von Voswinckel erarbeitet.

Ebenso vermisst man in der "Biographischen Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner" einen Artikel über Josef Löbel. Er publizierte 1930 "Knaurs Gesundheitslexikon", das 2002 seine 50. Auflage erreichte. Auch Löbel wurde wegen seiner jüdischen Abstammung verfemt und nahm sich im von Deutschen besetzten Prag das Leben. Sein Lexikon wurde so durchgreifend "arisiert", dass sein Name in 49 folgenden Auflagen nicht mehr erschien. Stattdessen traten ein gewisser Peter Hiron und nach dem Krieg ein Peter Grunow als Herausgeber auf. Hinter beiden Pseudonymen verbarg sich der Berliner Polizeiarzt Hubert Volkmann, der auch in anderem Zusammenhang als Autor oder Herausgeber derartig "arisierter" Bücher in Erscheinung getreten ist.

Die zwei genannten Beispiele illustrieren eine durchgehende Tendenz der "Enzyklopädie": das Schicksal von Verfolgten des NS-Regimes, in erster Linie von Juden, zu verschweigen. Es ist das große Verdienst Voswinckels, mit seiner Fortsetzung des Fischer’schen Lexikons dem durch die "Enzyklopädie" genährten Eindruck entgegenzuwirken, hier zu Lande sei die Medizingeschichtsschreibung noch auf dem Stand der Adenauer-Zeit.

Wer sich mit der Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, erhält durch die Arbeit von Peter Voswinckel eine moderne und verlässliche Datenbasis und die deutsche Medizinbiografik ein zeitgemäßes Gesicht. Es bleibt zu hoffen, dass sich Geldgeber finden, damit auch der im Manuskript fertige zweite Teil des Ergänzungswerkes in Druck gehen kann. Käme es anders, wäre dies im doppelten Sinn ein Armutszeugnis für die Kulturnation Deutschland.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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