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Atmosphärenchemie: Bodennahes Ozonloch in der Arktis

Erst kürzlich entdeckten Atmosphärenforscher, dass in der Nordpolarregion im Frühjahr immer wieder kurzfristig alles Ozon in der unteren Atmosphäre verschwindet. Was verursacht dieses überraschende Phänomen?


Dass Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKWs) die Ozonschicht schädigen, ist mittlerweile Allgemeinwissen. Vor allem verursachen sie das berüchtigte Ozonloch über der Antarktis, das alljährlich im Frühling auf der Südhalbkugel auftritt (wenn bei uns Herbst ist). Auch die jüngst festgestellte Ausdünnung der Ozonschicht über der Nordpolarregion im Frühjahr geht auf FCKWs zurück, die früher in großen Mengen als Treibgase für Sprühdosen, zum Feuerlöschen und als Wärmetauscher in Kühlschränken verwendet wurden.

Die beiden genannten Ozonlöcher befinden sich allerdings nicht am Boden, sondern in der Stratosphäre in ungefähr 12 bis 22 Kilometer Höhe. Dort wirkt die dreiatomige Modifikation des Sauer-stoffs als Schutzschild gegen die schädliche UV-Strahlung der Sonne. Die Ausdünnung und Durchlöcherung dieses Schildes ist das eigentlich Bedrohliche am Rückgang des stratosphärischen Ozons.

Vor einigen Jahren wurde nun aber am Nordpol auch in der untersten Schicht der Atmosphäre – der Troposphäre – ein Ozonloch gefunden: Mehrmals im arktischen Frühling verschwindet über einer Fläche von einigen tausend Quadratkilometern das Gas dort vollständig. Der Vorgang läuft sehr schnell ab: Innerhalb weniger Stunden kann alles Ozon vernichtet sein.

Anders als sein stratosphärisches Gegenstück hat dieses Ozonloch zwar keine negativen Auswirkungen. Im Gegenteil: Ozon am Boden ist in höheren Konzentrationen gesundheitsschädlich; das merken wir vor allem beim Smog im Hochsommer. Dennoch war die verblüffende Beobachtung faszinierend und auch etwas beunruhigend: Zeigte sie doch, dass die Chemie der Atmosphäre noch immer Überraschungen parat hat und die Wissenschaft längst nicht alle Vorgänge kennt, die sich in der irdischen Lufthülle abspielen.

Wie es öfter geschieht, wurde auch diese Entdeckung zufällig beim Studium eines anderen Phänomens gemacht. Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre untersuchten Umweltforscher den Transport von anthropogenen Verschmutzungen in die Arktis, wo sich daraus der so genannte arktische Dunst bildet. Für diesen Zweck errichteten sie ein Netzwerk von Messstationen für verschiedene Gase. Bald fiel auf, dass die Monatsmittel für Ozon im Frühling niedriger lagen als in den anderen Jahreszeiten. Wie weitere Nachforschungen zeigten, sanken die Werte in dieser Jahreszeit allerdings nicht gleichmäßig ab; vielmehr gingen die Ozongehalte nur episodisch auf Null zurück und bewegten sich dazwischen im normalen Bereich.

Was war die Ursache der seltsamen Schwankung? Einen deutlichen Hinweis lieferten die Messwerte für eine andere Klasse von Substanzen: reaktive Bromverbindungen. Gleichzeitig mit dem Ozonverlust stieg deren Konzentration in der Luft an.

Brom kurbelt Vernichtungskreislauf an


Diese Beobachtung war Anlass, in mehreren großen Feldkampagnen dem Phänomen auf den Grund zu gehen. So findet nun fast jedes Jahr im Frühling ein "Polares Sonnenaufgangsexperiment" (PSE) bei der Siedlung Alert in Kanada (82 Grad Nord) statt. Außerdem wurden auf der europäischen Seite Messkampagnen auf Spitzbergen (79 Grad Nord) durchgeführt. Diese Untersuchungen haben wesentlich dazu beigetragen, die Chemie der arktischen Ozonzerstörungs-Episoden aufzuklären. Danach gibt es auffallende Ähnlichkeiten, aber auch grundlegende Unterschiede zur Entstehung des stratosphärischen Ozonlochs.

In beiden Fällen kurbelt ein Stoff eine chemische Reaktion an, in deren Verlauf Ozon zu normalem zweiatomigem Sauerstoff-Gas abgebaut wird. Er wirkt dabei als so genannter Katalysator, der zwar in die Reaktion eingreift, selbst aber nicht verbraucht wird. Deshalb können bereits kleinste Mengen der Substanz eine enorme zerstörerische Wirkung entfalten.

Beim stratosphärischen Ozonloch spielt hauptsächlich Chlor die Rolle dieses Katalysators, beim neu entdeckten Loch in der arktischen Troposphäre ist es dagegen das Brom, das in einer völlig analogen Reaktion Ozon abbaut. So hat ein Messgerät an Bord des europäischen Forschungssatelliten ERS-2 im Frühling wiederholt in der gesamten arktischen Troposphäre erhöhte Konzentrationen von Bromoxid (BrO) gemessen, das beim Ozon-Abbau vorübergehend entsteht. Bereits ein Anteil von 1 zu 100 Milliarden Luftmolekülen reicht für das Zerstörungswerk aus.

Wie kann dieses sehr reaktionsfreudige Gas lange genug in der unteren Atmosphäre bleiben, ohne durch die vielen Stoffe dort in weniger reaktive Verbindungen umgewandelt zu werden? Beispielsweise sollten winzige Schwebteilchen – so genannte Aerosolpartikel – Bromverbindungen aus der Luft aufnehmen und sie auf diese Weise abfangen.

Genauere Untersuchungen zeigten jedoch, dass die Aerosolpartikel in Wahrheit genau das Gegenteil bewirken. In ihrem Inneren finden chemische Reaktionen statt, die inaktive Bromverbindungen wie Bromwasserstoff in einer Art Recycling wieder in reaktive Formen wie zweiatomiges Brom verwandeln und sie in die Gasphase zurückbefördern, wo sie ihr Zerstörungswerk fortsetzen.

Hinzu kommt, dass ein Teil der Aerosolpartikel aus Salzwasser-Tröpfchen vom Meer besteht. Diese enthalten ihrerseits Brom und schleusen es in den Kreislauf ein. Dadurch können sie mehr reaktive Bromverbindungen erzeugen als sie in inaktiver Form aufnehmen. Der Reaktionszyklus beschleunigt sich somit selbst. Diese so genannte Bromexplosion erklärt, warum in kurzer Zeit alles Ozon zerstört werden kann.

Was aber ist die eigentliche Bromquelle, und wieso findet der Ozon-Abbau nur im Frühjahr statt? Organische Bromverbindungen menschlichen Ursprungs scheiden aus, weil die Sonnenstrahlung in Bodennähe nicht stark genug ist, um solche Moleküle in ausreichender Menge zu spalten. Einen wichtigen Hinweis auf die Bromquelle lieferten meteorologische Beobachtungen. So kommt es nur dann zum Abbau des Ozons, wenn der Wind vom Meer her weht. Demnach dürfte das Brom aus dem Meerwasser stammen.

Allerdings wird es nicht direkt von der See herangeführt, da sich andere Komponenten von Meersalz-Aerosolen während der Ozonabbau-Episoden nicht ähnlich stark in der Luft anreichern wie das Brom. Außerdem ließe sich so nicht verstehen, warum das Ozon nur im Frühjahr verschwindet.

Die Erklärung ist vermutlich, dass sich während der arktischen Nacht Salzaerosole am Rand der Packeiszone ablagern und dort allmählich ansammeln. Sobald die Sonne im Frühling aufgeht, aktiviert sie das Brom aus diesen Abla-gerungen. Wenn es dann zusammen mit frischen Meersalz-Aerosolen über das Packeis geweht wird, verursacht es dort die komplette Vernichtung des Ozons. Inzwischen gibt es auch Hinweise darauf, dass solche bodennahen Ozonzerstörungs-Episoden auch regelmäßig im antarktischen Frühling auftreten.

Da Meerwasser die Hauptquelle des zerstörerischen Broms ist, handelt es sich also um ein rein natürliches Phänomen. Dennoch kann es nicht isoliert von anderen Bereichen der Atmosphärenchemie gesehen werden. Mit Computermodellen untersuchen wir zur Zeit, ob reaktive Halogene (Chlor, Brom und Iod) auch in anderen Regionen und Jahreszeiten eine Rolle in der Ozonchemie über den Ozeanen spielen können. Diese Simulationen sowie die Feldmessungen und Auswertungen von Satellitendaten führen wir zusammen mit anderen deutschen (in Bremen und Heidelberg) und ausländischen Arbeitsgruppen durch.

Noch sind die Atmosphärenforscher erst dabei, die komplexen Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung, Klimaänderung und stratosphärischem Ozonloch zu verstehen. Umso wichtiger ist es, unerwartete Befunde mit den bekannten Tatsachen in Einklang zu bringen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2001, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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