Direkt zum Inhalt

Bravo, Brontosaurus. Die verschlungenen Wege der Naturgeschichte


Stephen Jay Gould, Biologe an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts), ist bekannt für seine mit Freude zu lesenden Artikel, die Fachleute und Laien gleichermaßen mit Problemen aus dem weiteren Umfeld der Evolutionstheorie vertraut machen. In der hier vorliegenden gelungenen Übersetzung seiner Essaysammlung wird dies wieder voll bestätigt.

Von früheren Büchern Goulds unterscheidet sich dieses insofern, als er es durch sorgfältige Auswahl der Aufsätze sowie die persönlichen Anmerkungen dazu im "Prolog" zu einem persönlichen Resümee seines bisherigen Lebenswerkes macht. Sein vehementes Plädoyer für eine Kultur der populärwissenschaftlichen Literatur ist jedem Wissenschaftler, besonders in Deutschland, sehr ans Herz zu legen. Wie genial – ohne inhaltliche Ungenauigkeiten und auch für Experten lehrreich – komplexe Zusammenhänge allgemeinverständlich dargestellt werden können, zeigen die anschließenden Beiträge über die Geschichte der Evolution, über Fragen wissenschaftlicher Nomenklatur, über Moden und Irrtümer in der Wissenschaft, die Verbindung von Kunst und wissenschaftlicher Erkenntnis sowie andere Themen.

Dabei greift Gould wissenschaftshistorische Themen wie die Verbindung zwischen Andrew Jackson (1767 bis 1845), dem siebten Präsidenten der USA, und dem Naturforscher Charles Darwin (1809 bis 1882) ebenso auf wie die arbeitsökonomisch absurde Durchsetzung der "QWERT"-Tastatur bei Schreibmaschinen während der ersten Blütezeit des Taylorismus, die Entdeckung und fast sofortige Ausrottung des magenbrütenden Frosches Rheobatrachus silus in Australien oder den Beitrag des russischen Anarchisten und Revolutionärs Pjotr Kropotkin (1842 bis 1921) zur Evolutionstheorie.

Ein Grundtenor ist das beherzte Engagement für rationale Betrachtungsweisen und Lösungsvorschläge von Problemen. Das Plädoyer für die Vernunft geht allerdings nicht immer ohne erhobenen Zeigefinger ab. Dies ist jedoch verzeihlich; wichtiger scheint mir, daß Gould in allgemeinverständlicher Form die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis aufzeigt und den Leser mit Problemen der Interpretation wissenschaftlicher Aussagen und Ergebnisse vertraut macht, ohne einer postmodernen Beliebigkeit das Wort zu reden.

Dazu verwendet er freilich manchmal Beispiele, die dem europäischen Leser fern liegen, etwa wenn er die systematischen Fehleinschätzungen des Menschen für Wahrscheinlichkeiten (Spektrum der Wissenschaft, März 1982, Seite 89) am Beispiel des Baseball-Stars Joe DiMaggio diskutiert. Spezifisch für die politische Diskussion in den USA ist auch der breite Raum, der dem Thema Evolution und Kreationismus gewidmet ist – ein Streit, dem in Deutschland nur untergeordnete Bedeutung zukommt. Gerade hier jedoch zeigt Gould, wie sich Wissenschaftler in die Tagespolitik einmischen können und sollen.

Diesem rundum gelungenen Reader wünsche ich einen großen Leserkreis. Es ist sehr zu bedauern, daß es im deutschsprachigen Raum keine lebendige Tradition populärwissenschaftlicher Literatur mehr gibt, wie sie beispielsweise Anfang dieses Jahrhunderts existierte.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 129
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.