Brief an die Leser
Verehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
"Weh' Dir, meine Prinzessin, wenn ich komme. Ich will Dich küssen, bis Du ganz rot bist", schrieb 1884 als "großer wilder Mann, der Cocain im Körper hat", Sigmund Freud seiner Braut; und auch in einem im selben Jahr verfaßten Fachartikel machte sich der junge, leicht neurotisch depressive Wiener Nervenarzt – zeitweilig – zum Promoter der Droge, der er eine "gegen Hunger, Schlaf und Ermüdung schützende und zur geistigen Arbeit stählende Wirkung" attestierte: Er empfahl sie als "ein weit kräftigeres und unschädlicheres Stimulans als der Alkohol" sowie als eine Art Patentmedizin.
Die psychisch gefährdenden Effekte und das Suchtpotential des chemisch aufbereiteten Hauptalkaloids von Erythroxylum coca wurden bald erkannt. Die jüngste Epidemie des Mißbrauchs vor allem in den USA und in Europa hat nun zur Erforschung der zellulären und biochemischen Veränderungen im Gehirn angeregt.
Der Beitrag über diese Grundlagen der Kokainabhängigkeit (Seite 48) ist sicherlich dazu angetan, selbst vom probeweisen Schnupfen des weißen euphorisierenden Pulvers abzuschrecken. Nachzutragen bleiben mir einige nicht minder verstörende Marktdaten: In Peru übertraf der Kokainumsatz geraume Zeit sämtliche legalen Exporterlöse, die sich letzthin auf rund 5 Milliarden Mark jährlich beliefen. In Kolumbien erzielten allein die Kokainkartelle von Medellín und Cali auf der Höhe ihrer Macht pro Jahr 6 bis 7,5 Milliarden Mark Gewinn, von dem etwa die Hälfte wieder im Land investiert wurde – in seriöse Unternehmen wie in den Einfluß auf Politik und Administration. In Bolivien, einem mit am wenigsten entwickelten Staat Südamerikas, hat der Anbau der Kokasträucher gar überragende Bedeutung für den Agrarsektor. Zwischen 1978 und 1984 stieg dort die Erzeugung getrockneter Blätter (wie sie in den Anden seit prähistorischer Zeit gekaut werden) von 35000 auf 152000 Tonnen; das war zehnmal so viel, wie die Bevölkerung selber verbraucht. Die Ausfuhr als Kokain-Rohstoff ist das wichtigste Kontingent der bolivianischen Schattenwirtschaft.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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