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Brief an die Leser


Verehrte Leserin,

sehr geehrter Leser,


der Erfahrungsschatz, aus dem die leidende Menschheit allmählich eine systematische Heilkunst entwickelte, beruhte sicherlich auch auf vielen fehlgeschlagenen Selbstversuchen; naturgemäß gelangen nur manche. In neuerer Zeit hat das jeweilige Medizin-Establishment aber mit solchem Heroismus nicht mehr viel im Sinn. Als Werner Forßmann (1904 bis 1979) sich 1929 erstmals einen Katheter ins Herz schob, wurde das durch diese lebensgefährliche Pioniertat etablierte und nun routinemäßig angewandte diagnostische Verfahren für seine Habilitation nicht anerkannt. Erst 1956, als Forßmann zusammen mit André Frédéric Cournand und Dickinson Woodruff Richards den Nobelpreis erhielt, bekam er auch eine Professur.

Ein junger australischer Arzt, Barry Marshall vom Royal Perth Hospital, legte es 1985 geradezu auf eine böse Erkrankung an: Er schluckte eine Kultur von Helicobacter pylori, um zu beweisen, daß diese Mikroorganismen peptische Ulzera verursachen – Geschwüre, durch die der Magen von Verdauungssäften angegriffen wird. Marshall laborierte allerdings nur zeitweilig an einer schweren Gastritis, und die heilte dann spontan aus. Immerhin kam so sein Verdacht ins Gespräch.

Gleichwohl, Umdenken dauert. Ende 1991 machte mich Prof. Dr. Ludwig Demling auf den Fall und die Folgen aufmerksam. Der emeritierte Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Erlangen-Nürnberg (er starb letztes Jahr) hielt es für an der Zeit, die Öffentlichkeit zu unterrichten. In seinem noch immer lesenswerten Beitrag (März 1992, Seite 22) findet sich zwischen den Zeilen auch Kritik an der Kollegenschaft: An das schon kurz nach der Jahrhundertwende gesichtete Bakterium hatte bei den fachinternen Disputen um Bedeutung, Theorien zur Entstehung und Konzepte zur Therapie von Beschwerden, die schließlich unter dem Allerweltsbegriff Reizmagen zusammengefaßt wurden, niemand gedacht; auf Gewebeproben – wenn man sie überhaupt entnahm – war deshalb offenbar nicht intensiv nach pathogenen Keimen gesucht worden, die in saurem Milieu überleben.

Lehrmeinungen können tatsächlich mitunter blind machen. Das läßt der amerikanische Epidemiologe Martin J. Blaser jetzt gleichfalls anklingen (Seite 68). Helicobacter pylori ist aber mittlerweile eindeutig als Erreger chronischer Schleimhautentzündungen identifiziert, die sich millionenfach zur Ulkuskrankheit verschlimmern und wahrscheinlich vieltausendfach Krebs im Magen und Dünndarm begünstigen. Die Behandlung der oft kaum merklichen Infektion ist einfach – die Bakterien kann man medikamentös ausrotten. Das freilich sollte, damit bedrohlichere Weiterungen verhütet werden, so früh wie irgend möglich geschehen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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