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Brief an die Leser


Verehrte Leserin,

sehr geehrter Leser,


den Medizin-Nobelpreis hatte er 1974 bekommen. Zwei Jahre später war Christian René de Duve sich indes nicht zu schade, vor Oberschülern aus New York und Umgebung vier Vorlesungen über sein Studienobjekt – die fundamentale Form- und Leistungseinheit des Lebens – zu halten. "Ich entschloß mich", so berichtete er später, "meine jungen Zuhörer um einen Faktor von einer Million schrumpfen zu lassen, sie mit einer geeigneten Ausrüstung für Cytonauten zu versehen und sie auf eine Reise zu den wichtigsten Schauplätzen im Inneren einer Zelle mitzunehmen." Aus dem vierstündigen virtuellen Ausflug wurde jedoch für den Wissenschaftler selbst eine vieljährige theoretische und experimentelle Expedition; sein Bericht darüber (deutsch in der Spektrum-Bibliothek erschienen) umfaßt zwei Bände.

Der Belgier de Duve, 1917 im englischen Thames Ditton geboren, hatte sich als Medizinstudent die Maxime per vivum ad verum (frei: durch die Untersuchung des Lebendigen zur Erkenntnis der Wirklichkeit) gewählt. Dann schienen ihm aber die Naturwissenschaften "mit ihrem Beharren auf Vernunft und Objektivität den besten Weg" zu bieten, "sich der Wahrheit zu nähern", und er vertiefte sich noch in die Chemie und schließlich in die Biochemie. Das herausragende Ergebnis solcher Aufgeschlossenheit war die Entdeckung zweier Arten von Organellen – der Lysosomen, die von der Zelle aufgenommene Nahrungspartikel verdauen, und der Peroxisomen, die einst die Zelle vor toxischen Wirkungen des Sauerstoffs schützten. Die einen beschrieb de Duve bereits 1963 im Scientific American; den Artikel über die anderen konnten wir im Juli 1983 publizieren.

Was motiviert einen überaus erfolgreichen Forscher, seine Befunde und Einsichten allgemeinverständlich zu vermitteln? Bei de Duve war es ein Unbehagen am Spezialistentum: "Je tiefer wir graben, desto kleiner wird der Blickwinkel." Aus diesem "Loch", bekennt er, habe ihn erstmals das New Yorker Erlebnis neugieriger und interessierter Heranwachsender geholt.

Längst ist de Duve emeritiert; doch die Lust, sich möglichst vielen Menschen mitzuteilen, hat sich der jetzt 78jährige erhalten. Rüsten Sie sich diesmal für einen Zeitsprung mit ihm über mehr als zwei Milliarden Jahre (Seite 60) – in die Phase, als sich die schleimigen Klümpchen entwickelten, aus denen wir wie alle Pflanzen und Tiere hervorgegangen sind. Unser Sein oder Nichtsein hing von einem Hasardspiel ab. Denn die Vorläufer jener Eukaryoten, die wir nun kennen und aus denen wir bestehen, hatten die erste globale Umweltkrise zu bewältigen. Geholfen hat ihnen dabei, daß sie sich weitaus urtümlichere Mikroorganismen einverleibten. Deren Nachkommen sind in den Zellen unseres Körpers noch immer enthalten – eben als die Organellen, über die de Duve auch einmal im Frack sprach: in Stockholm.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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