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Brief an die Leser


Verehrte Leserin,

sehr geehrter Leser,


- die Schreibungen Albtraum und Alptraum stehen gleichberechtigt nebeneinander, werden also nicht semantisch differenziert;

so hieß es in unserem letzten, vorigen Monat erschienenen Beitrag zur Rechtschreibreform. Warum auch nicht? Der Name des atembeklemmenden Nachtmahrs geht auf das mitttelhochdeutsche alp ebenso zurück wie auf das althochdeutsche alb, beide leiten sich – wie vielerlei Bezeichnungen in germanischen, romanischen und slawischen Sprachen – von indoeuropäisch *albh- (weiß; lateinisch albus) her, und volksetymologisch wurden damit sogar die Begriffe Alp und Alm (verschliffen aus mittelhochdeutsch albe) für Hochweide verknüpft wie schon in der Antike der Gebirgsname Alpen. An den aussichtslosen Kampf mit einem nebulösen Geist muß jeder Versuch gemahnen, der lebenden Sprache zu einem festen Zeitpunkt auf die Dauer ein allgemeingültiges Regelwerk zu verpassen, das nach Herkommen und immanenten Gesetzmäßigkeiten sinnvoll, zudem leicht erlernbar sein soll.

Das Problem ist alt. "Perí orthographías" (über die Rechtschreibung) hatte sich etwa schon im 2. Jahrhundert der griechische Grammatiker Ailios Herodianos verbreitet. Allerdings galt es nicht als besonders schlimm, daß manche sich damit bestens auskannten, andere weniger. Die eigentliche Crux der deutschen Einheitsschreibung, auch eine Folge der Bismarckschen Reichsgründung, liegt in ihrer evolutionsfeindlichen Amtlichkeit: Das "Vollständige orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache" von 1880 des Schulmanns Konrad Duden (1829 bis 1911) gab den Anstoß für höchst unvollständige und von Duden selbst als vorläufig erachtete Regularien, die 1901 in Berlin für Deutschland, Österreich und die Schweiz fixiert wurden. Seitdem tragen wir eine zunehmend kneifende, weil mit immer mehr Abnähern und Innentäschchen versehene Zwangsjacke – und an der Angst, entgegen der jeweils aktuellen "Duden"-Norm etwas falsch zu machen.

Gründe und Experten-Vorschläge für eine Reform hatten wir seit langem ausführlich zur Diskussion gestellt (Februar l985, Seite 28, August 1987, Seite 23, Oktober 1988, Seite 37, April 1989, Seite 40, Juni 1993, Seite 84, Januar 1995, Seite 106). Es ist ein Armutszeugnis für unsere an Tradition reiche Sprachgemeinschaft, wie spät und punktuell (Kaiser/Keiser?) sie – ohne sonderlich vernehmbare Stimmen ihrer Dichter und Denker – darüber debattiert hat. Entsprechend karg ist das nun beschlossene Ergebnis, insbesondere was die Freiheiten des schriftlichen Ausdrucks betrifft. Zwar verzeichnet der "Duden"-Band I längst beispielsweise cool, geil und ätzend mit ihren derzeitigen umgangs- beziehungsweise jugendsprachlichen Bedeutungen. Das von den Kultusministerien halbherzig angegangene orthographische Erneuerungswerk aber ist zu einem kleinlichen, zudem inkonsistenten Kompromiß verkommen. In dieser Zeitschrift werden wir deshalb – und aus Gründen, die ich hier im Juni 1993 genannt habe – in der Übergangsfrist vorerst bei der konservativen Schreibweise bleiben.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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