Brief an die Leser
Verehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
es ist einzusehen, warum Jagdspinnen äußerst beweglich sind – ihre Beute ist es gleichfalls. Aber mit Rädern statt der Beine käme zum Beispiel dieses Männchen der tropischen Art Cupiennius getazi nicht weit, schon gar nicht seitwärts und steil auf- oder abwärts. Also hat es, wenn es in Gang kommt, die gelenkig verbundenen Segmente aller seiner Gliedmaßen koordiniert zu verstellen, um nicht zu stolpern; dabei muß es jedes Bein so führen, daß der Tarsus (Fuß) praktisch mit Tempo null aufsetzt und nicht durchrutscht. Schließlich ist unablässig zu prüfen, welche Beine mit welchem Druck Bodenkontakt haben und welche in der Luft angespannt sind oder schlaff hängen. Das ganze Tier muß überdies gute statische Stabilität aufweisen und doch relativ leicht sein, damit auch schwanker Grund es trägt.
Inzwischen werden Sie ahnen, daß dies ein Katalog von Anforderungen – jedenfalls der gröbsten – an einen Roboter ist, der rasch in unwegsamem Gelände vorankommen soll. An Laufmaschinen für Anwendungen etwa in Gefahrenzonen, unter Wasser oder auf fremden Planeten trauen Ingenieure sich jedoch erst seit drei Jahrzehnten: mit Hilfe von Elektronik, die Gehirn- und Nervenfunktionen nachahmt. Nicht von ungefähr orientieren sie sich indes auch beim mechanischen Design an natürlichen Vorbildern.
Einen ersten Lauron – laufenden Roboter, neuronal gesteuert – hatte das Forschungszentrum Informatik der Universität Karlsruhe 1993 vorgestellt. Er kommt nun aber schon ins Deutsche Museum Bonn. Der leistungsfähigere Lauron II (Bild) konnte so schnell auf die Beine gestellt werden, weil das komplexe System modular aufgebaut ist; so lassen sich Schritt für Schritt die Komponenten implementieren und separat warten oder austauschen. Besonders pfiffig an dem autonom krabbelnden Apparat ist die hierarchische Organisation der Steuerung: vom einzelnen Gelenk über das jeweilige Bein bis zum Körper gibt es drei Kompetenzebenen, deren jede intelligente Einheiten für die Auswertung der Sensordaten enthält. Damit lernt das Ding.
Daß die Laurons wie Insekten nur drei Beinpaare haben, nicht vier wie Spinnen, tut nichts. Beide Tierklassen gehören zu den seit dem Devon auf der Erde weitverbreiteten Gliederfüßern; und die nutzen offenbar erfolgreich allesamt Mechanosensoren, die zugleich Kontrollfunktionen ausüben und reflektorisch die Laufbewegungen steuern, mithin das Gehirn entlasten. Das Prinzip ist also mehr als 300 Millionen Jahre alt – siehe Seite 56.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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