Brief an die Leser
Verehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
es ist eine schöne Wissenschaftslegende, daß Demokrit (um 460 bis 370 vor Christus) einen halben Apfel gegessen hatte, dann die übrige Hälfte halbierte und darüber ins Grübeln kam: Was, wenn er immer so fortführe? Der griechische Philosoph und sein Lehrer Leukipp schlossen jedenfalls, jede Substanz bestehe aus kleinsten, für ihre jeweiligen Eigenschaften spezifischen Teilchen, die atomos – unzerschneidbar – seien.
Quarks, murmelt der moderne Mensch, Murray Gell-Mann (und James Joyce) zitierend. Dennoch hat Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) nicht mit der Ansicht recht behalten, prinzipiell gebe es gar keine Grenze der Teilbarkeit. Zwar ist auch von den Vorstellungen der antiken Atomisten nicht viel übriggeblieben, aber die Idee einer Grundstruktur der Materie wurde in der Neuzeit wieder überaus fruchtbar – paradoxerweise insbesondere nach Entdeckung der Radioaktivität 1896, also vor hundert Jahren, und der darauf basierenden Erkenntnis, daß manche Elemente zerfallen können. Dies, nicht erst die intuitiver Einsicht widerstrebenden Aussagen der Relativitäts- und der Quantentheorie, war bereits eine radikale Herausforderung für das klassische physikalische Denken. Es dauerte denn auch immerhin bis 1932, daß Joseph John Thomson das Elektron als Hüllen- sowie Ernest Rutherford das Proton und James Chadwick das Neutron als Kernteilchen identifiziert hatten und damit die Komponenten des Atoms komplett waren.
Die Entwicklung der die Welt existentiell bedrohenden nuklearen Waffen und der mit hohen Risiken behafteten zivilen Kerntechnik überschattete die Fortschritte der kernphysikalischen Grundlagenforschung. Dabei war Otto Hahns und Fritz Straßmanns Uran-Spaltung im Jahre 1938 eigentlich ein mißglückter Versuch gewesen, ein schwereres Element als alle in der Natur vorkommenden künstlich aufzubauen. Das gelang erst 1940 in den USA mit der Synthese von Neptunium (Ordnungszahl 93).
Die Erweiterung des Periodensystems bis Element 106 war nicht von ungefähr eine Domäne von Laboratorien der führenden Nuklearmächte, in Berkeley und in Dubna. Voran ging es danach lediglich mit einem tieferen Verständnis des Atomkerns – daß nämlich gleichsam analog den Elektronen in der Hülle die Nukleonen sich in Schalen ordnen und Kerne mit einer voll besetzten Schale besonders stabil sind – und mit einem Großgerätesystem, das nur in der Bundesrepublik zur Verfügung steht: Über die Produktion der Elemente 107, 108 und 109 bei der Darmstädter Gesellschaft für Schwerionenforschung informierte unsere Titelgeschichte vom September 1988, über die der Elemente 110, 111 und 112 berichtet nun Peter Armbruster in dieser Ausgabe auf Seite 54.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1996, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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