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Buchdruck in Augsburg von 1468 bis 1555

Augsburg, im Mittelalter ein wichtiges Handelszentrum, wurde einer der führenden Druckplätze der frühen Neuzeit und spielte als solcher besonders in der Reformation eine maßgebende Rolle. Dieser Prozeß ist nun erstmals zusammenfassend dokumentiert.

Der Buchdruck als die bedeutendste technische Neuerung des 15. und 16. Jahrhunderts stellte in vielfacher Hinsicht einen Einschnitt in die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dar. Im Rahmen der Forschungsprojekte des Augsburger Instituts für Europäische Kulturgeschichte haben wir das Funktionieren dieser ersten Medienrevolution und das sich dabei wandelnde intellektuelle Profil einer Bürgerschaft eingehend untersucht; hier seien einige besonders wichtige Aspekte angesprochen, um die weitreichenden Folgen dieser Erfindung bewußt zu machen.

Der Buchdruck gehörte zu den Wachstumsindustrien, die bewirkten, daß das Heilige Römische Reich zur führenden Wirtschafts- und Handelsmacht in Europa aufstieg und sich zum Beispiel das traditionelle Schüler-Lehrer-Verhältnis zwischen Deutschen und Italienern umkehrte. Dessen war sich Augsburgs Erstdrucker Günther Zainer voll bewußt, der in seinen Kolophonen – den Schlußschriften am Ende der Drucke mit Angaben über Hersteller, Erscheinungsort und -jahr – die Devise „Ne Italo cedere videamur“ (etwa: auf daß wir hinter den Italienern nicht zurückstehen) benutzte.

Der Buchdruck als arbeitsteiliger, sinnvoll ineinander greifender Produktionsprozeß stand am Anfang der industriellen Massenfertigung, weshalb der Gießener Mittelalter-Historiker Peter Moraw ihn ausdrücklich als „unmittelalterlich“ charakterisierte. Neu war gleichfalls, daß die Drucker nicht den Reglementierungen durch Zunftvorschriften unterworfen waren.

Als erstes Massenmedium der Geschichte verlieh der Buchdruck politischen und sozialen Vorgängen bis dahin nicht gekannte Quantitäten und Qualitäten. Erst die Vervielfältigung der Ablaßbriefe durch die Druckerpresse – allein in Augsburg wurde schätzungsweise eine halbe Million gedruckt – machte den Ablaßhandel zum großen Geschäft, das dazu beitrug, den enormen Finanzbedarf der Kurie und des Kirchenstaates zu decken (Bild 2 rechts). In Martin Luther, der die Möglichkeiten des Buchdrucks in großartiger Weise nutzte, fand die Unzufriedenheit der Deutschen ihr Sprachrohr, mit all den bekannten Folgen.

Der Buchdruck hatte nachhaltige Auswirkungen auf die menschliche Kommunikation. Erstmals entstanden Formen von öffentlicher und veröffentlichter Meinung, wobei Augsburg als der bedeutendste Flugschriftenproduzent in der frühen Reformationszeit eine herausragende Rolle spielte: Knapp ein Drittel der heute noch faßbaren Flugschriften aus der Zeit zwischen 1500 und 1530 stammen von dort.

Eine Innenansicht des frühen Druckgewerbes

Seit rund 200 Jahren beschäftigen sich Bibliographen und Buchhistoriker mit Augsburg, so daß eine ganze Reihe von Arbeiten zu bestimmten Zeitabschnitten oder Literaturgattungen sowie zu einzelnen Druckern und Buchführern (den reisenden, noch nicht seßhaften frühen Buchhändlern) vorliegt. Dies erleichterte den Versuch, eine Gesamtdarstellung des Buchdrucks dieser Stadt zunächst bis zum Augsburger Religionsfrieden von 1555 zu unternehmen. Mit Hilfe der bibliographischen Großprojekte „Gesamtkatalog der Wiegendrucke“ (also der auch Inkunabeln genannten vor 1500 erschienenen Buchdruckerzeugnisse) und „Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts“, ergänzt um die einschlägigen Spezialbibliographien, konnte die Gesamtproduktion Augsburgs in bisher nicht erreichbarer Vollständigkeit erfaßt werden.

Knapp 6000 Publikationen gingen aus den Augsburger Druckerpressen hervor. Da der Anteil der lateinischen lediglich 22 Prozent ausmacht, nimmt diese Stadt im europäischen Kontext eine Sonderstellung ein (Bild 1) – in allen anderen Druckorten liegt der lateinische Buchdruck deutlich über 50 Prozent.

Dieser Sachverhalt verlangte nach Klärung. Glücklicherweise erwiesen sich die Quellen des Augsburger Stadtarchivs als so günstig, daß gleichsam eine Innenansicht des Druckgewerbes in Form einer Struktur- und Verflechtungsanalyse angestrebt werden konnte.

Dabei stellten sich folgende Fragen: Aus welchen Berufsgruppen rekrutierten sich die frühen Drucker? Über welche finanziellen Mittel verfügten sie? Woher kam das Fremdkapital für Großprojekte? Wie viele Drucker hatten eine Universität besucht, und wie war es um die Lateinkenntnisse der übrigen bestellt? Wie waren die Drucker durch Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft und Geschäftsbeziehungen untereinander sowie mit anderen Berufszweigen aus dem Buch- und Graphikgewerbe verflochten? In welcher Weise unterschieden sich die gebürtigen Augsburger Drucker von den zugewanderten?

Jede Forschungsarbeit zur Druckerei- und Verlagsgeschichte sollte ihren Ausgang bei einer Analyse der Kapitalkraft der Drucker und ihrer Finanzpartner nehmen, denn die Einrichtung und der laufende Betrieb einer Offizin waren teuer. Reiche Druckherren waren in Augsburg die Ausnahme. Die Masse der knapp 50 Offizinen mußte mit einer dünnen Kapitaldecke von weniger als 500 bis 2000 Gulden auskommen; mithin wurde das neue Gewerbe dort von kleinen und mittelgroßen Betrieben geprägt. Im Vergleich zu ihren Zunftgenossen in Basel, Venedig oder Straßburg scheinen die meisten Drucker Augsburgs mit ihren Familien in bescheidenen Verhältnissen gelebt zu haben.

Die reichen Kaufleute und das Patriziat scheinen nur in geringem Maße zu Investitionen in Johannes Gutenbergs Erfindung bereit gewesen zu sein. Die nötigen Fremdmittel kamen aus dem Buchgewerbe selbst, von den heimischen und auswärtigen Buchführern, oder von Zulieferern, zum Beispiel den Papiermachern. Die Folge dieser ungünstigen Situation war, daß etwa die Hälfte der Druckereien früher oder später wegen Überschuldung in Konkurs ging. Von den Augsburger Druckern des 15. und 16. Jahrhunderts ist auf Dauer keiner zu Reichtum gekommen.

Im Hintertreffen lagen sie, im Vergleich zu denen anderer Druckzentren, auch bezüglich ihres Bildungsstandes. Die Einheimischen, die sich auf das neue Medium verlegten, kamen alle aus der Zunftbürgerschaft und aus Berufen des Kunsthandwerks oder der Graphik- und Literaturproduktion. Ihre Kenntnisse der lateinischen Sprache stammten bestenfalls von einer Lateinschule; mit der lateinischen Kultur von Kirche und Universität waren sie deshalb wenig vertraut.

Drucker mit Universitätsgraden sind zwar gelegentlich nach Augsburg eingewandert. Entscheidend für die Entwicklung des Buchdrucks war aber, daß diese gebildeten Männer nur über geringes Eigenkapital verfügten und darum nur unbedeutende Offizinen aufbauen oder erwerben konnten. In Straßburg verhielt es sich genau umgekehrt – dort waren die reichsten und produktivsten Drucker auch diejenigen mit dem höchsten Bildungsstand.

Das soziale und kulturelle Umfeld der Drucker wird noch deutlicher, wenn man sieht, wie eng die Familien durch Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft und Geschäftsbeziehungen miteinander verflochten waren. Johann Schönsperger der Ältere etwa (1481 bis 1520) war mit vier weiteren Druckern und zwei Buchführern verwandt oder verschwägert; das gesamte Beziehungsnetz umfaßte mehr als 25 Personen, die alle mit dem Buch- und Graphikgewerbe zu tun hatten. Die Außenverflechtung dieser Sippe umfaßte Venedig, Basel, Nürnberg, Straßburg, München, Innsbruck sowie die Messestädte Nördlingen und Frankfurt am Main.

Auch im Stadtbild spiegelten sich solche Zusammenhänge wider. So konzentrierten sich die bedeutenden Drucker und Buchführer an bestimmten Stellen; und mit Beginn der Reformation ließen sich einige Flugschriftendrucker und kleine Buchführer rund um die Barfüßerkirche nieder, den Mittelpunkt der zwinglianischen Reformation in Augsburg.

Export deutscher Literatur

Nun lebten und arbeiteten die Augsburger nicht auf einer Insel, sondern standen in Konkurrenz zu anderen Druckzentren. Die Standardwerke zur Geschichte des Buchhandels von Friedrich Kapp und Hans Widmann vermitteln den falschen Eindruck, ein überregionales Distributionssystem habe sich erst um 1500 entwickelt. Die Augsburger Archivalien beweisen aber eindeutig, daß die Expansion des Drucks mit beweglichen Lettern und die des Buchhandels parallel verliefen. Bereits für das 15. Jahrhundert sind etwa 30 fremde Drucker und Buchführer aus allen wichtigen Druckorten Europas – mit Ausnahme der französischen und niederrheinischen Städte – belegbar, die ihre Verlagsprogramme in Augsburg anboten. Gleichzeitig waren 40 Augsburger Bürger hauptberuflich oder gelegentlich als Buchführer tätig. Somit war Augsburg auch eine zentrale Drehscheibe des deutschen und europäischen Buchhandels.

Diesen Standortvorteil für den Export wußten die Augsburger Drucker zu nutzen, indem sie sich bewußt auf die Produktion deutscher Literatur spezialisierten und sich damit einen großen Marktanteil auf Dauer zu sichern suchten. Weder im 15. noch im 16. Jahrhundert wurde in Augsburg auch nur eine einzige lateinische Bibelausgabe in Angriff genommen. Den Gegenpol bildete Basel, wo keine deutschen Bibeln gedruckt wurden.

Auf diese Weise entstanden Vorlieben und Traditionen in den einzelnen Druckzentren, die zunächst von der Angebotsseite – also den Druckern – ihren Ausgang nahmen. Die Nachfrage der Buchführer und Käufer bestätigte deren Entscheidung. Bald genoß Augsburg den Ruf, führend auf dem Gebiet der deutschsprachigen, reich illustrierten Buchproduktion zu sein (Bild 2 links); Autoren und Verleger kamen denn auch bevorzugt dorthin, um ihre deutschen Werke zu publizieren. Dieses Phänomen, einer durch den Markt regulierten Aufgabenteilung unter den großen Druckplätzen, war bisher kaum erkannt worden.

Schwierige Umstände

Krisen im Augsburger Buchdruck waren nicht nur die Folge von Überproduktion und übermächtiger Konkurrenz, sondern wurden auch von Faktoren verursacht, welche die Drucker nicht zu beeinflussen vermochten: Die Politik wurde auf das neue Medium bald aufmerksam, versuchte den Buchdruck in Dienst zu nehmen und gleichzeitig zu kontrollieren. Die Zensurgesetzgebung in Augsburg setzte schon 1515 ein; zu einem wirksamen Instrument wurde die Zensurbehörde allerdings erst nach Einführung der Reformation 1537. Die Intentionen der Reichsgesetzgebung wurden dabei auf den Kopf gestellt, weil die protestantischen Zensoren gegen jede Stellungnahme zugunsten der römisch-katholischen Kirche vorgingen. Die Verfassungsreform von 1548, die Kaiser Karl V. der Stadt nach dem verlorenen Schmalkaldischen Krieg aufzwang, brachte auch in der Zensurpolitik eine Kehrtwende – die meisten Drucker mußten ins Gefängnis.

Zudem gibt es eine auffallende Kongruenz zwischen Produktionseinbrüchen im Druckgewerbe und Katastrophenzeiten. Kriege, Seuchen und Hungersnöte gefährdeten die Menschen existentiell und ließen das Buch zum entbehrlichen Luxus werden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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