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Burgen in Mitteleuropa. Ein Handbuch.

Konrad Theiss, Stuttgart 1999. Zwei Bände; zusammen 680 Seiten, DM 198,–.


Ein jeder kennt sie, zumindest vom Klassen- oder Sonntagsausflug; sie prägen unsere Vorstellungswelt vom "finsteren" Mittelalter noch mehr als Klöster und Dome und sind uns dadurch wohlbekannt und fremd zugleich: die Burgen.

Unser Bild von "der Burg" stammt vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, einer Zeit, als die Deutschen im Zuge der Nationalstaatenbildung die lateinisch-römischen Wurzeln Europas, aber noch mehr die Wurzeln des eigenen Volkes suchten. Und nichts verkörperte den Übergang vom römischen, ganz Europa umspannenden Staat über die Völkerwanderungszeit hin zur mittelalterlichen Staatenwelt deutlicher als die Abkehr von der antiken Lebenswelt der Stadt und die Hinwendung zur Burg als zentralem Machtfaktor des Mittelalters.

Es entstand ein Bild zwischen Zinne und Minne: zentraler wehrhafter Ort, wo Macht geschaffen und Schlachten geschlagen wurden, und Ort der Kultur, verkörpert im Minnesang. In den Bauten der Wartburg oder Neuschwansteins, aber auch in der Musik von Richard Wagner ist dieses Bild im 19. Jahrhundert besonders kultiviert worden.

In der Zeit um 1900 erlebte die Burgenforschung einen ersten Höhepunkt: Otto Piper faßte das Wissen seiner Zeit in seiner "Burgenkunde" zusammen, die bis heute als Standardwerk gilt. Die Burgbauaktivitäten Kaiser Wilhelms II., vor allem der Wiederaufbau der Hohkönigsburg im Elsaß, setzten neue Maßstäbe für die Originaltreue dieses Wiederaufbaus. An dem kühnsten Plan dieser Zeit, dem Wiederaufbau des Heidelberger Schlosses, das seit dem Pfälzischen Erbfolgekrieg 1693 großenteils in Ruinen lag, entzündete sich der Streit der Denkmalpfleger, mit dem Ergebnis, daß das Heidelberger Schloß und mit ihm Hunderte von Burgen eben nicht wiederaufgebaut wurden, sondern bis heute als Ruinen wissenschaftlich untersucht und konserviert werden.

In diese Zeit, genau in das Jahr 1899, fällt auch die Gründung der Deutschen Burgenvereinigung, in der sich Forscher – allen voran Bodo Ebhardt –, Burgenbesitzer und allgemein Interessierte zusammenfanden. Das vorliegende Handbuch ist als Jubiläumsausgabe zum hundertjährigen Bestehen dieser Vereinigung gedacht.

In über 100 Beiträgen haben 60 Autoren das Wissen unserer Zeit zusammengetragen und liefern es uns portionsweise in kleinen Happen von vier bis zwölf Seiten. Es ergibt sich eine beträchtliche Vielfalt, und kleine Portionen sollen den Appetit anregen und leichter verdaulich sein. Dies trifft hier allerdings nur bedingt zu.

So findet man neben allgemeinverständlichen Artikeln Beiträge, die Fachzeitschriftenartikeln ohne Anmerkungen gleichen. Manche Sonderzeichen und Abkürzungen werden nirgends erklärt; Länderkürzel hinter den Namen der Burgen sind wenig einleuchtend. Wer vermutet schon hinter "ST" das Bundesland Sachsen-Anhalt? Ungereimtheiten bieten auch die Abbildungen: mal Kleinstbefunde seitenfüllend, mal Riesenburgen briefmarkengroß. Zahlreiche Photos kommen doppelt vor. Ein Register der Fachbegriffe zusätzlich zum Register der Burgen am Ende des zweiten Bandes wäre dringend geboten.

Programmatisch leitet Joachim Zeune, Autor des sehr erfolgreichen Buches "Burgen – Symbole der Macht" (Regensburg 1996) und leitender Herausgeber des Handbuchs, die Reihe der Überblicksartikel mit einer Forschungsgeschichte ein. Das Bild von "Zinne und Minne" sei überholt und müsse geweitet werden. Unter dieser Prämisse ist man doch überrascht, daß in den folgenden Kapiteln immer wieder und in aller Ausführlichkeit der Wehrcharakter behandelt wird und der kulturelle Aspekt eine vollkommen untergeordnete Rolle spielt. Im folgenden bestätigt sich der Eindruck, daß die Inhalte der Beiträge wenig vereinheitlicht wurden; angesichts der Forschungslage ist das teilweise durchaus positiv zu bewerten, deutet sich hier doch die große Spannweite der Befunde und ihrer Interpretation an.

Ein bauhistorischer Abriß im ersten Band behandelt nicht nur die klassischen Epochen des Burgenbaus, das Hoch- und Spätmittelalter, sondern auch die frühen Formen seit der Völkerwanderungszeit und neuzeitliche Anlagen bis hin zur Behandlung der Burgen in der Gegenwart. Vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Archäologie enorme Erkenntnisse über den frühmittelalterlichen Burgenbau gewonnen. Im Bereich der klassischen Burgenepoche, dem 12. und 13. Jahrhundert, haben vor allem dendrochronologische Untersuchungen der letzten Jahre unser Bild völlig verändert. So sind die Wartburg bei Eisenach und Schloß Tirol bei Meran um Jahrzehnte älter als bisher angenommen.

Der zweite Abschnitt des ersten Bandes ist der Baugestalt der Burg gewidmet: Bauablauf, Baumaterialien, Wehrarchitektur und Wohnbauten bis hin zu Wirtschaftsbereichen, Folterkammern, Kapellen und Gärten. Hier wird viel Material des ersten Teils ausführlicher und mit anderen Schwerpunkten zusammengestellt.

Im zweiten Band wird die Burg in größeren Zusammenhängen untersucht, in ihren Rechtsverhältnissen und in ihrer Funktion in der Geschichte, so wie sich dies in Schrift- und Bildquellen widerspiegelt. Auch hier weitet sich unser Blick erheblich gegenüber früheren Forschungen.

Der abschließende Teil ist den Burgenlandschaften Mitteleuropas gewidmet, von den Niederlanden bis Preußen und von Südskandinavien bis Südtirol, den deutschen mittelalterlichen Sprachraum also im weiten Sinne umfassend. Die Schilderung folgt allerdings den modernen Verwaltungseinteilungen, wodurch die historischen Regionen kaum wahrgenommen werden können. Zudem steht wenig Platz zur Verfügung, so daß sich insgesamt meist einsilbige und sehr knappe Darstellungen ergeben.

Aufgrund des enormen Erkenntnisgewinns der letzten Jahre ist dieses Buch den alten, bekannten Handbüchern wie dem von Piper unbedingt vorzuziehen. Wenn man aber bedenkt, wie lange solche Handbücher den Buchmarkt und den Wissensstand der interessierten Laien beherrschen, ist es allerdings mehr als schade, daß diesem Produkt unter dem Zeitdruck des anstehenden Jubiläums offensichtlich nicht der erforderliche Reifeprozeß gegönnt wurde.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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