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Chaos und Kosmos. Prinzipien der Evolution

Spektrum Akademischer Verlag,
Heidelberg 1994. 258 Seiten, DM 68,-.

Kann die Wissenschaft den Weg vom Chaos des Urzustandes zum heutigen Bild des Kosmos und der Strukturen auf der uns umgebenden Erde beschreiben? Die Antwort ist ja. Werner Ebeling, theoretischer Physiker an der Humboldt-Universität Berlin, und Rainer Feistel vom Institut für Ostseeforschung in Warnemünde stellten sich die "Aufgabe, ein dem modernen Stand der Wissenschaften entsprechendes Bild dieses Prozesses [zu] geben" und "den Weg zum heutigen Zustand der Welt als Resultat einer Kette von Zyklen der Selbstorganisation zu deuten" (Seite 7/8).

Die Autoren behandeln die Evolution vom Urknall bis zur Herausbildung menschlicher Gesellschaften auf der Erde einheitlich nach wissenschaftlichen Grundsätzen, wobei sie dem Systembegriff herausragende Bedeutung beimessen. Daß bei einer so umfassenden Perspektive Fragen der Erkenntnistheorie, der Prinzipien der Modellbildung, der mathematischen Axiomatik, des Zusammenhangs zwischen fundamentalen Erkenntnissen und der beobachteten Komplexität, von Chaos und Ordnung, von Reversibilität und irreversiblen Vorgängen zur Sprache kommen müssen (Kapitel 1 und 2, Seiten 9 bis 34), ist nicht verwunderlich.

Produkte der Evolution kann man nur aus ihrer Vorgeschichte verstehen – für die Arbeitsweise eines Physikers ein untypischer Standpunkt. Gleichwohl muß dieser entschieden darauf achten, daß bei der Formulierung evolutionstheoretischer Erkenntnisse grundlegende physikalische Gesetze nicht verletzt werden. Dazu zählt insbesondere der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Die "Prinzipien der Selbstorganisation" (Seiten 39 bis 44) erhalten somit als Arbeitsgrundlagen hervorragende Bedeutung.

Die Evolution des Kosmos und der Erde wird ab Kapitel 5 dargestellt. Den "acht Epochen des Urplasmas" folgen drei Epochen "Selbststrukturierung der stofflichen Materie". Unter Verwendung der neuesten Hypothesen und Erkenntnisse ist es den Autoren gelungen, auf nur 22 Seiten eine fesselnde "Story vom heißen Urknall" (Seite 80) zu schreiben, welche die Grundzüge unserer heutigen Vorstellungen in Übereinstimmung mit experimentellen Befunden wiedergibt.

In Kapitel 6 wird die Evolution des Klimas behandelt. Auf die Erde als geschlossenes System – gemeint ist: ohne nennenswerten Austausch von Materie mit dem Weltall – wenden die Verfasser das Modell der "Photonenmühle" an und leiten daraus eine Energiebilanz für unseren Planeten ab, die zu einem grundsätzlichen Verständnis für die Mechanismen der Klimaentwicklung verhilft. Das irdische Leben benötigt eben nicht nur "die heiße Sonne als Energiequelle", sondern auch "den kalten Kosmos als Halde für den Entropie-Müll" (Seite 95).

Die gegenwärtig viel diskutierte Erwärmung der Atmosphäre durch den ansteigenden Kohlendioxidgehalt in der Luft, den sogenannten Treibhauseffekt, beurteilen Ebeling und Feistel auffallend zurückhaltend. Sie verweisen auf den komplexen Charakter unseres rückgekoppelten Klimasystems (Seite 109) und warnen vor einer unzulässigen "linearen Extrapolation von Wirkungsketten". Aus unserem Mangel an Kenntnissen sei jedoch kein Freibrief für sorgloses Verhalten herzuleiten. Vielmehr sei "die prophylaktische Reduzierung aller anthropogenen Veränderungen auf ein notwendiges Minimum vorerst wohl die einzige Devise, der man bedenkenlos zustimmen kann" (Seite 110).

Mit der Darstellung der Evolution des Lebens und der Vielzeller in den Kapiteln 7 und 8 erreicht das Buch seinen Höhepunkt. Lebewesen sind, thermodynamisch betrachtet, offene Systeme, die Strukturbildung, Selbstorganisation und Informationsverarbeitung ermöglichen. Unter konsequenter Anwendung dieses Prinzips rekonstruieren die Verfasser in überzeugender Weise die – in zwölf Phasen unterteilte – Stufenleiter der Biogenese. Sie umfaßt in ihrer Komplexität nacheinander chemische, biologische und soziale Phänomene.

Die ersten vier Phasen sind dem Übergang von der Chemie zur Biologie gewidmet. Eine besondere Bedeutung schreiben Ebeling und Feistel der Bildung von Koazervaten zu, kugelförmigen Tropfen homogen suspendierter organischer Moleküle, die der russische Biochemiker Alexander Iwanowitsch Oparin 1924 in die Diskussion eingeführt hat. In die Darstellung fließen sowohl Vorstellungen der Chemie-Nobelpreisträger Manfred Eigen (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1992) und Ilya Prigogine als auch abweichende Standpunkte der Autoren ein.

Selektionsprozesse sorgten für eine Auswahl besonders geeigneter Strukturen. Autokatalytische Vorgänge, das Auftreten von Proteinen und DNA-Molekülen, die Ausbildung eines genetischen Codes und die Entstehung von Zellen setzten die Evolution des Lebens auf der Erde fort. Die Morphogenese vielzelliger Lebewesen ist in weiteren drei Phasen beschrieben, in denen es um die Zellteilung, die Ausbildung von Nervenzellen und Sinnesorganen sowie die Reproduktion geht. Schließlich sind die Voraussetzungen für lernfähige Lebewesen geschaffen.

Im Kapitel 9 "Evolution und Gesellschaft" versuchen Ebeling und Feistel, die physikalischen Gesetzmäßigkeiten auf gesellschaftliche Ereignisse zu übertragen. So vergleichen sie die Wende in der DDR 1989/90 mit einem kinetischen Phasenübergang (Seite 175). Obwohl ich den allgemeinen Schlußfolgerungen der Verfasser durchaus zustimmen kann, beschleicht mich ein leiser Zweifel, ob das Vorgehen gerechtfertigt ist. Immerhin haben gesellschaftliche Systeme zusätzliche Freiheitsgrade: das bewußte Handeln von Einzelpersonen, Gruppen oder ganzen Völkern. Vielleicht sollte man zur Klärung dieser Frage die Stellungnahmen von Wissenschaftlern anderer Disziplinen abwarten.

Das Werk klingt aus mit Geboten zur Gestaltung der Zukunft. In einer Zeit allgemeiner Zurückhaltung bei der Abgabe von Prognosen gehören zu diesem Vorgehen zweifellos Selbstbewußtsein und Mut. Allerdings reichen physikalische Gesetzmäßigkeiten allein nicht aus, "um Wege zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft der Menschheit zu weisen" (Seite 230). Deshalb fordern die Autoren auch zu Recht, daß als Vorbedingung für "eine Strategie der Rettung der Zukunft" (Seite 230) die Prinzipien von "Toleranz und Weitblick" allgemeine Anerkennung und Geltung erlangen müßten. Mit Sicherheit verlassen sie damit das Gebiet der Physik und führen in die soziale Evolution des Menschen Prinzipien gesellschaftlichen Charakters ein.

Das Buch ist flüssig und spannend geschrieben. Die Autoren behalten die konsequent wissenschaftliche Darstellungsweise bis zum letzten Absatz bei. Der Text setzt beim Leser keine besonderen naturwissenschaftlichen oder mathematischen Kenntnisse voraus. Dem nach Wahrheit suchenden Laien wird das Werk ebenso gute Dienste leisten wie dem Studenten oder Schüler; auch der Wissenschaftler wird die übersichtliche Darstellung begrüßen. Dem Verlag ist es gelungen, die Ausstattung des Buches trotz des relativ niedrigen Verkaufspreises auf ein sehr ansprechendes Niveau zu bringen: klare Schrifttypen, übersichtliche Anordnung, kaum Druckfehler.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 123
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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