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Chemie der Zukunft - Magie oder Design?

Aus dem Englischen von Martin Reinecke, Annette Gabriel-Reinecke, Michael Bär, Thomas Kellersohn
und Peter Ripplinger.
VCH, Weinheim 1996.
416 Seiten, DM 68,-.

In ihren "News and Views" kommentiert die Wissenschaftszeitschrift "Nature" aktuelle Ergebnisse und Trends und ordnet sie in größere Zusammenhänge ein. Wer regelmäßig diese Rubrik liest, kennt die Beiträge des Redakteurs Philip Ball, eines britischen Chemikers und Physikers, der auch für "New Scientist" und andere Blätter schreibt. Supramolekulare Chemie, molekulare Erkennung, nanostrukturierte Werkstoffe – Themen, die zukunftsträchtig und im weiteren Sinne chemisch sind, hat er in "Nature" sachkundig und wortgewandt der wissenschaftsinternen Öffentlichkeit dargestellt. Mit dem vorliegenden Sachbuch wagt er sich an eine breitere Leserschaft.

Es gibt, grob gesprochen, zwei Möglichkeiten, die Distanz zwischen schwer verständlicher Wissenschaft und einem Publikum ohne Fachausbildung zu überbrücken: Der Prophet kann zum Berg gehen oder diesen zu sich bitten. Ball hat den zweiten Weg gewählt, und deswegen ist sein Buch so lang geworden. Er bietet dem, der nicht Chemie studiert hat, einen Nachholkurs an. Rund drei Viertel der mehr als 400 Seiten sind Lehrbuchstoff, den man kennen muß, wenn man das restliche Viertel – spannend, aber auch anspruchsvoll präsentierte Ergebnisse aktueller Forschung – verstehen will.

Zwei Zielgruppen werden von dieser Kombination von Grundwissen und Report profitieren: Zum einen können Studierende der Chemie (oder angrenzender Naturwissenschaften) Arbeit und Vergnügen verbinden und die oftmals sehr an der Vergangenheit orientierten Lehrinhalte mit ersten Einblicken in das laufende Geschehen ergänzen; zum anderen vermögen diejenigen, die mit der Disziplin kaum oder gar nicht mehr zu tun haben, ihr allzuschnell veraltetes oder in Vergessenheit geratenes Studienwissen auf den neuesten Stand zu bringen.

Nun habe ich als aktiver Forscher – wie vermutlich viele andere – das Problem, das Neue zwischen all dem staubigen Grundlagenwissen aufzufinden. Vielleicht hätte der Verlag mir das erleichtern können, wenn er aus einer seniorenfeindlich kleinen Schrift wenigstens die aktuellen Teile hervorgehoben hätte.

Als schwierigste Zielgruppe bleiben die vielbeschworenen gebildeten Laien, die – vermutlich aus gutem Grund – nicht Chemie studiert haben und das auch nicht in einem Crash-Kurs nachholen wollen. Deren Bedürfnisse erfüllt das Buch nicht. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer es ist, die Chemie an der Schwelle zur Zukunft in verständlicher Sprache zu erklären, und werde den Autor nicht länger dafür rügen, daß er das gar nicht erst versucht hat. Aber der Verlag sollte es unterlassen, das Buch als "Lesevergnügen für... [den] interessierten Laien" anzupreisen. Interesse allein reicht nicht, um die Lektüre durchzuhalten; es muß schon ein kräftiger Bildungshunger dazukommen.

Was also bekommen die Zielgruppen eins und zwei für ihr Geld geboten? Einen soliden Grundkurs in allgemeiner Chemie, vom Atom-Modell bis zur Struktur der Nucleinsäuren, von der Spektroskopie bis zur makromolekularen Chemie. Und Berichte über Fullerene, Quasikristalle, Supramoleküle, Femtosekunden-Kinetik, Supraleiter, Selbstorganisation, Ursprung des Lebens – über alles, was die Chemie der letzten Jahre so spannend gemacht hat.

Na ja, fast alles. Die aus selbst-assemblierenden Peptid-Nanoröhren aufgebauten Ionenkanäle der Gruppe von M. Reza Ghadiri vom Scripps-Forschungsinstitut in La Jolla (Kalifornien) haben offenbar den Redaktionsschluß der englischen Originalausgabe 1994 knapp verpaßt, hätten aber in der Übersetzung leicht in Abbildung 5.20 eingefügt werden können (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 18). In Abbildung 5.10 hat sich das seit mehr als zehn Jahren obsolete Zweistellenmodell der Proteinbiosynthese erhalten. Und daß die tRNA nach einmaligem Gebrauch zerstört wird, wie die Bildunterschrift behauptet, das glaube, wer will – Proteine wären ein teurer Luxus für Zellen, die pro eingebauter Aminosäure eine tRNA verheizten. Aber das sind Ausnahmen; im allgemeinen ist der hochaktuelle Stoff sehr sorgfältig aufbereitet. Auch das Übersetzerteam hat saubere Arbeit geleistet – nur an dem angelsächsisch (wenngleich nicht übertrieben) lockeren Stil merkt man, daß es sich nicht um ein originäres Buch handelt.

Die zahlreichen und meist instruktiven Abbildungen sind lobenswert. Auch die elf Seiten mit Angaben weiterführender Literatur sprechen für die Sorgfalt des Autors – indes nicht für die des deutschen Verlags. Denn der hat in dem Verzeichnis nur die Hinweise auf seine eigenen Lehrbücher und seine Zeitschrift "Angewandte Chemie" eingedeutscht, doch etwa die zu Dutzenden aufgeführten Artikel in "Scientific American" nicht durch die entsprechenden deutschen Versionen in "Spektrum der Wissenschaft" ersetzt. Viele der zitierten Bücher liegen ebenfalls in deutscher Übersetzung vor, und man hätte ergänzend manches deutsche Originalwerk nennen können (zum Beispiel "Fullerene" von Joachim Dettmann, erschienen 1994 bei Birkhäuser). Damit wurde eine Chance vertan, den Nutzwert des Buches von Philip Ball zu steigern.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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