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Collegium Budapest - ein wissenschaftliches Bindeglied für Europa

In der ungarischen Hauptstadt besteht seit kurzem eine Einrichtung, die als Modell der Zusammenarbeit von Wissenschaftsorganisationen eines ehemals sozialistischen Landes mit privaten und öffentlichen Institutionen im übrigen Europa dienen kann.

Touristenattraktionen umgeben das erste Institute for Advanced Study des östlichen Mitteleuropa, das seinen Sitz im ehemaligen Rathaus von Buda auf dem Burgberg westlich der Donau hat: im Osten die Matthiaskirche, in der sechs Jahrhunderte lang die ungarischen Könige gekrönt wurden, und die Fischer-Bastei, im Norden – direkt gegenüber an der Szentháromság utca (der früheren Krämergasse) – die Konditorei Ruszwurm und im Süden das Apothekenmuseum „Zum goldenen Adler“.

Das Reiterstandbild des András Hadik neben dem westlichen Erker des barocken Institutsgebäudes (Bild 1) könnte ein Symbol dafür sein, daß Geschichte sich nicht wiederholen muß, wenn man daraus die Lehre Kooperation statt Konfrontation zieht. Im Jahre 1757 eroberte der General der Habsburgerin Maria Theresia im dritten Schlesischen, dem Siebenjährigen Krieg Berlin, ließ es brandschatzen und verlangte für die Kaiserin zwei Dutzend mit dem Berliner Wappen verzierte Handschuhe; die preußischen Handwerker lieferten sie auch – aber lauter linke.

Das seit Oktober 1992 tätige, am 16. Juni 1993 in Anwesenheit der Präsidenten von Ungarn und Deutschland, Arpád Göncz und Richard von Weizsäcker, offiziell eröffnete Collegium Budapest ist eine tauglichere Gabe der deutschen für die ungarische Hauptstadt. Das Berliner Wissenschaftskolleg stand sozusagen Pate bei der Gründung; dessen Rektor Wolf Lepenies ist Vorsitzender des international besetzten leitenden Kuratoriums, dem auch der Berliner Wissenschaftssenator Manfred Erhardt angehört, und Programmkoordinator ist Fred Girod vom Wissenschaftskolleg. In den ersten fünf Jahren – bis eine Stiftung ungarischen Rechts gebildet ist – wird die neue Institution von der Berliner Wissenschaftsstiftung Ernst Reuter getragen. Der Linguist Manfred Bierwisch von der Humboldt-Universität zu Berlin gehört dem akademischen Beirat an, den der Historiker Georges Duby vom Collège de France in Paris leitet. Zudem ist Berlin zusammen mit Baden-Württemberg sowie Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Österreich nebst vielen Stiftungen an der Finanzierung – rund 2,4 Millionen Mark jährlich – beteiligt.

Vorbilder sind die amerikanischen Institutes for Advanced Study in Princeton (New Jersey) und Stanford (Kalifornien) sowie das Berliner Kolleg selbst, das diese Bezeichnung ebenfalls in seinem vollen Namen führt. Internationalität, Interdisziplinarität und Autonomie der Forschung kennzeichnen solche Einrichtungen.

In Budapest sollen vor allem die wis-senschaftlichen Beziehungen zwischen Ost und West neu geknüpft werden – eine Aufgabe, die viele westliche Stiftungen noch relativ zurückhaltend wahrnehmen. So ist – unter Leitung von János Kornai, einem Wirtschaftswissenschaftler an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und an der Harvard-Uni-versität in Cambridge (Massachusetts) – der ökonomische Transformationsprozeß in Osteuropa das Schwerpunktthema im akademischen Jahr 1993/94. Kornai ist einer der drei „Permanent Fellows“ des Collegiums. Die weiteren sind die Wiener Wissenschaftssoziologin Helga Nowotny und der erste Rektor des Collegiums, der Jurist Lajos Vékás, zuvor Rektor der Eötvös-Loránd-Universität in Bu-dapest, von der auch der Sekretär des Collegiums, der Romanist Vilmos Bárdosi, kommt.

Das Collegium lädt zudem jährlich bis zu 20 international herausragende Wissenschaftler als „Fellows“ ein, und einige Nachwuchsforscher sollen dort in der Regel für ein akademisches Jahr ihre Vorhaben verfolgen können und sich von Vertretern anderer Disziplinen, anderer Traditionen und anderer Sprachen anregen lassen. Dieser fächerübergreifenden Kommunikation dienen auch die jährlichen Schwerpunktthemen in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie den theoretischen Naturwissenschaften. Zusätzlich vermitteln kürzere Seminare und Workshops den Forschungsstand in verschiedenen Disziplinen; als Gäste werden insbesondere auch Künstler und Literaten für kurzfristige Aufenthalte eingeladen.

Die Fellows sind nur verpflichtet, ihre selbst gewählten Forschungsprojekte zu bearbeiten und einmal im Jahr Perspektiven und Ergebnisse vorzustellen. Sie können sich selbst bewerben, werden aber in der Regel von ehemaligen Fellows oder international angesehenen Kollegen vorgeschlagen. Sofern ihre Heimateinrichtungen den Unterhalt nicht tragen, erhalten sie ein Stipendium.

Eine zentrale Einrichtung ist die Bibliothek, eine breit gefächerte Referenzbücherei (Bild 2). Begleitend zu den Schwerpunkten wird sie weitere Fachliteratur anschaffen. Zudem wird eine so-genannte „geistige Tapete“ für die kommenden Fellows geschaffen: In der Vorbereitungsphase dürfen sie 30 bis 40 Bücher nennen, die ihnen unentbehrlich sind; die werden dann bei anderen Budapester Bibliotheken entliehen oder gekauft.

Das Collegium soll dazu beitragen, daß Budapest eines der regen Zentren der gesamteuropäischen Wissenschaftslandschaft wird. Sein Anspruch zielt sogar noch höher: Es könnte „ein Beispiel dafür werden, wie man durch den Ausbau von lokalen und regionalen Wissenschaftskulturen einen Anstoß zu Entwicklungen gibt, die weit über den Bereich der Wissenschaften hinausgehen“.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1993, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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