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Computeralgebra im industriellen Einsatz - ein konkretes Problem


Ein Personenwagen fährt mit konstanter Geschwindigkeit über eine Straße. Durch deren Unebenheiten gerät er in Schwingungen: Einerseits hüpft er auf und ab, andererseits rotiert er um eine horizontale Achse quer zur Fahrtrichtung. Dieses Nicken ist bei weitem unangenehmer als das Hüpfen.

Sind nun sämtliche Daten eines Fahrzeugs bekannt, läßt sich sein Verhalten bei einer gegebenen Unebenheit vorhersagen. Dafür ist die numerische Simulation das Mittel der Wahl. Man erarbeitet ein mathematisches Modell der Fahrzeugbewegung in Form einer Differentialgleichung und löst sie in guter Näherung mit einem handelsüblichen numerischen Softwaresystem.

Solche Programmpakete sind sehr leistungsfähig. Sie verbergen ihre zum Teil hochkomplexen Algorithmen unter einer angenehmen Benutzungsoberfläche und haben sich gerade auch wegen ihrer graphischen Visualisierungsmöglichkeiten durchgesetzt.

Was aber, wenn die Eigenschaften des Fahrzeugs nicht bekannt sind, weil es erst konstruiert werden soll? Eine typische Forderung an einen Entwicklungsingenieur ist es, die Stoßdämpfer so auszulegen, daß der Wagen nach einer Störung möglichst schnell in die Ruheposition zurückkehrt (der aperiodische Grenzfall der gedämpften Schwingung) und die Nickschwingungen nicht bei brechreizerzeugenden Frequenzen zwischen 0,5 und 50 Hertz auftreten.

Numerische Verfahren sind mittlerweile so schnell, daß man das Verhalten eines hypothetischen Fahrzeugs für etliche denkbare Stoßdämpfer durchspielen kann. Wenn jedoch sehr viele Varianten durchzurechnen sind, ist die – im Prinzip langsamere und umständlichere – Berechnung mittels Computeralgebra vorteilhafter. Alle Modellparameter liegen in allgemeiner Form vor; für die Berechnung muß man ihre Werte nicht kennen: Eine Dämpfungskonstante geht beispielsweise als d und nicht mit irgendeinem Zahlenwert in die Berechnung ein.

Diese allgemeine Parametervariation ist die beste Methode, sich tieferen Einblick in die physikalische Funktionsweise technischer Prozesse zu verschaffen. Die effizienteste Strategie besteht in einer Kombination symbolischer und numerischer Simulationen: Man treibt mit algebraischen Mitteln die Analyse so weit, daß man für das gewünschte Ergebnis nur noch wenige Detailvarianten numerisch durchrechnen muß.

Was der Ingenieur früher mit Bleistift und Papier betreiben mußte, erledigen heute moderne Computeralgebra-Systeme. Ihre grundsätzlichen Vorteile sind schnell aufgezählt: Sie beherrschen nicht nur die Darstellung von Formeln im gewohnten mathematischen Zeichensatz, sondern auch deren Manipulation, und zwar im Umfang einer üblichen Formelsammlung wie etwa des "Taschenbuchs der Mathematik" von Ilja Bronstein und Konstantin Semendjajew (Teubner-Verlag). Flüchtigkeitsfehler wie ein vergessenes Vorzeichen gehören der Vergangenheit an; die Größe der Ausdrücke wird nur durch die Hardware begrenzt. Die Berechnungsergebnisse können sofort graphisch zwei- und dreidimensional dargestellt und dank moderner Softwarekonzepte auch ansprechend dokumentiert werden. Selbst die Animation mit variablen Parametern ist kein Problem. Bei Bedarf kann die ganze Berechnung auch automatisiert werden.

Alles in allem weisen moderne Computeralgebra-Systeme genau die Merkmale auf, die den numerischen Simulationswerkzeugen zum Durchbruch verholfen haben – nur eben auf einem anderen Gebiet. Da sie genau die Arbeitsmethoden unterstützen und beherrschen, die alle Ingenieure in der Schule und im Studium erlernt haben, werden sie in zehn Jahren so selbstverständlich verwendet werden wie heute der Taschenrechner.

Im nebenstehenden Kasten finden Sie ein kleines Beispiel aus dem Bereich der Schwingungsanalyse durchgerechnet. Auch wenn die Formeln nicht übermäßig kompliziert aussehen – wenn Sie sich die Mühe machen und die Aufgabe selbst mit Papier und Bleistift durchzurechnen versuchen, werden Sie auf Ausdrücke stoßen, die Sie bei der besten Motivation zum Aufgeben veranlassen werden. Es gibt genügend Aufgaben aus der industriellen Praxis, die wegen des hohen Rechenaufwandes bisher gar nicht lösbar waren. Dagegen ist die Zeit, die ein Computeralgebra-System für die Mechanik der Mathematik benötigt, fast vernachlässigbar.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 93
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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