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Bildartikel: Computergraphik für die Kunstgeschichte

Historische Analysen im Verein mit elektronischen Erkundungsmethoden helfen, Gemälde alter Meister zu enträtseln.


Vor acht Jahren testeten mein Kollege Gerald Holzmann und ich ein Programm, mit dem man Computergraphiken auf vielfältige Weise manipulieren kann; wir wählten dazu zwei mittels Scanners digitalisierte Gemälde von Leonardo da Vinci (1452 bis 1519 ) – die "Mona Lisa" und das einzige bekannte Selbstporträt. (Dem Vergleich von Gesichtern gilt seit langem mein Interesse, und manchmal kombiniere ich Porträts, um besondere Effekte zu erzielen. ) Beide zeigen Dreiviertel-Ansichten, blicken aber in entgegengesetzte Richtungen. Deshalb spiegelten wir das Selbstporträt und skalierten die Bilder, bis die Abstände der Pupillenzentren übereinstimmten. Anschließend halbierten wir sie, brachten die Nasenspitzen auf gleiche Koordinaten und fügten jeweils eine linke und eine rechte Hälfte zusammen (Bild 1 rechts).

Als sich diese Komposition von oben nach unten auf dem Monitor aufbaute, schienen die Haaransätze miteinander zu verschmelzen. Dann wurden die Stirnen und die kräftigen Augenbrauenwülste sichtbar, die eine deutliche Ähnlichkeit aufwiesen. Es erschienen die Augen die Pupillen lagen auf gleicher Höhe. Schließlich paßten auch die Wangenknochen, Nasen und Münder zusammen.

Weitere Detailuntersuchungen bestätigten die Entsprechung der Proportionen beider Porträts. Der Abstand zwischen den inneren Augenwinkeln – ein ganz individuelles Gesichtsmerkmal – stimmte bis auf zwei Prozent überein. Ausgeprägte Augenbrauenwülste, die man bei mehr als 90 Prozent aller Männer findet, sind auch beim Mona-Lisa-Bildnis markant. Allerdings paßt keines dieser Merkmale zu denen einer früheren Zeichnung, die gemeinhin als Entwurf des Gemäldes angesehen wird und wiederum einer Skizze ähnelt, die sich unter den Farbschichten befindet – sie wurde mittels Röntgenanalyse sichtbar gemacht (Bild 1 unten).

Ein Blick auf die Biographie des Künstlers vermag das Rätsel zu lösen. Nach zehnjähriger Tätigkeit am Mailänder Hof mußte Leonardo nach dem Sturz des Herzogs 1499 fliehen. Im Gepäck hatte er möglicherweise die erste Skizze zur "Mona Lisa". Das geheimnisvolle Porträt, das nun im Pariser Louvre hängt, befand sich noch in seinem Besitz, als er 1519 starb. Leonardo vollendete das Werk also vielleicht ohne sein ursprüngliches Modell. Demnach könnte er es nach seinen eigenen Zügen verändert haben. Seine neuentwickelte, Sfumato (nach italienisch sfumare, abtönen) genannte Mal- und Schattierungstechnik mit verschwimmenden Umrissen und gedämpfter Farbigkeit, befähigte ihn, Partien zu überdecken oder mit seinen eigenen Zügen zu vereinen.

Mit seiner Vorliebe für Rätsel hat Leonardo selbst einen weiteren Anhaltspunkt für meine These geliefert: das endlos verknotete Kleeblatt-Ornament des Oberteils von Mona Lisas Kleidung. Solch verschlungenes Werk faszinierte ihn; er entwarf sogar ein Flechtmuster, mit dem er seinen Namen verzierte. Nun heißt der Zweig der Korbweide, den man zum Flechten verwendet, italienisch vinco und umwinden oder knoten vinciere. Die "Mona Lisa", so scheint es mir, ist ein Selbstporträt des Malers aus Vinci in der Toskana (Bild 2).

(Diese These steht allerdings im Widerspruch zur geltenden Lehrmeinung; demnach wird das Gemälde zwischen 1503 und 1513 datiert; als Leonardo im Winter 1516 nach Frankreich zog, führte er also das fertige Bild mit sich. Nach der Biographie des florentinischen Schriftstellers, Architekten und Malers Giorgio Vasari (1511 bis 1574) porträtierte der Künstler die Florentinerin Lisa, Gattin des Edelmanns Francesco del Giocondo, weswegen das Gemälde auch "La Gioconda" betitelt wird. Zwischen 1500,und 1515 war Leonardo immer wieder für einige Monate in Florenz und hatte also ausreichend Gelegenheit, dieses Modell zu treffen. Die Redaktion.)

Eine Frage der Perspektive

Einige Jahre später wurde mein Interesse auf ein anderes Rätsel aus Leonardos Werk gelenkt: Von welcher Stelle aus soll man das "Letzte Abendmahl", ein Wandbild im Refektorium (Speisesaal) des Klosters Santa Maria della Grazie in Mailand, betrachten?

Das Fresko zeigt an den Wänden hängende Gobelins, auf die angrenzenden beiden realen Seitenwände hatte Leonardo Bänder mit schmückenden Mustern gemalt (Bild 3). Vermutlich sollte das Bild als eine Erweiterung des Refektoriums erscheinen, doch die Linienführungen dieser Elemente passen nicht zusammen – es sei denn, man betrachtet das Fresko aus etwa viereinhalb Metern Höhe. Nur dann, so glaubte maWhislang, stimme die Perspektive: Linien, die im realen Raum beginnen, gehen von diesem Standpunkt aus gesehen ungebrochen in den dargestellten über, parallele Geraden und deren bildlichen Fortsetzungen laufen mit scheinbar zunehmender Entfernung vom Betrachter in einem Punkt zusammen.

Um beliebige Positionen einnehmen zu können, konstruierte ich auf dem Computer ein dreidimensionales Modell des dargestellten Raumes. Dabei war zu berücksichtigen, daß Leonardo sich statt einer linearen Perspektive einer beschleunigten bediente, bei der sich perspektivische Effekte mit der Entfernung verstärken. Eine solche Technik ver wendete man damals auch für Bühnenbilder. Er baute das Fresko also wie eine Theaterszene auf mit Jesus und den Aposteln im Vordergrund. Dazu neigte er Fußboden und Tisch, zeichnete die Seitenwände ungleich lang und malte die Wandbehänge in verschiedenen Größen und mit unterschiedlichen Abständen.

Ich fand noch andere Positionen, von denen aus die Perspektive stimmt, also die Linien des Girlandendekors glatt in die der Gobelins übergehen. Fünfeinhalb Meter vor dem Fresko befand sich auf der einen Seitenwand der inzwischen zugemauerte Haupteingang. Wer dort eintrat, hatte den Eindruck, das Abendmahl fände im wirklichen Refektorium statt und Jesus hieße ihn mit ausgestreckter Hand willkommen. Von den Seiten des Saales aus mußten auch die an längs aufgestellten Tischen sitzenden Mönche das Gefühl haben, ihre Mahlzeiten in Gegenwart des Herrn einzunehmen.

In der Computer-Rekonstruktion sind auch Jesu Füße wiedergegeben (sie sind auf einer frühen Kopie des Bildes zu sehen, wurden aber von einer Tür zerstört, die später durch das Fresko geschnitten wurde; leider hatte der experimentierfreudige Künstler wenig haltbare Farben und Techniken verwendet, so daß das Bild schon bald unscheinbar und wenig erhaltenswert gewirkt haben mag). Die Füße scheinen über dem Fußboden zu schweben – das weist auf die Erhöhung Christi am Kreuz voraus.

Vor kurzem hat mich Patricia Trutty-Coohill von der Universität von Western Kentucky in Bowling Green wieder auf etwas Besonderes bei diesem großen Meister der Renaissance aufmerksam gemacht: auf die 700 Zeichnungen von grotesken Gesichtern (Bild 6). Hat er sie einfach frei erfunden oder nach dem Leben skizziert? Diese bizarren Bildnisse haben schon manchen Kunsthistoriker irritiert, weil sie sich weit von Leonardos Proportionslehre zu entfernen scheinen, die er selbst für Menschendarstellungen entwickelt hatte.

Nachdem ich die Merkmale im Bezug zueinander vermessen hatte, stellte ich überrascht fest, daß diese Karikaturen nach da Vincis Maßstäben durchaus normal sind. Er hatte lediglich den Spielraum ausgenutzt, den seine Regeln erlauben, nämlich Kinn, Nase, Mund und Stirn zu übertreiben. Gleichwohl war den Anforderungen Genüge getan, daß "die Linie von den Augenbrauen zu der Stelle, wo die Lippe sich mit dem Kinn vereint ...zum hinteren Winkel des Kiefers ... zum oberen Rand des Ohres ... ein perfektes Quadrat (ergibt), dessen Seiten die halbe Kopfgröße messen". Die Grotesken wirken wohl deshalb so lebendig, weil sie eben doch die richtigen Proportionen haben. Ich bin mir sicher, daß sie nach dem Leben gezeichnet sind.

Computergestützte Restaurationen

Beeindruckt von den analytischen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung, hatte mir der Kunsthistoriker Eugenio Battisti vorgeschlagen, die Fresken eines italienischen Künstlers der Frührenaissance, Piero della Francesca (zwischen 1415 und 1420 bis 1492), zu untersuchen. Dessen "Auferstehung Christi", heute in der Pinakothek von Sansepolcro (Italien), war im 17. Jahrhundert überputzt worden. Inzwischen wurde ein Teil der Deckschicht entfernt, aber war die Restaurierung vollständig? Es galt, die ursprünglichen Farben herauszufinden (Bild 4).

Dafür wählte ich ein Hochleistungssystem, das Ton, Helligkeit und Sättigung einer Farbe Bildpunkt für Bildpunkt (bezogen auf den Monitor) bestimmt. Ich subtrahierte in einer Simulation das Weiß des Gipsputzes und konnte auf diese Weise feststellen, daß Piero in den Farben des Sonnenuntergangs gemalt hatte. Battisti wies außerdem darauf hin, daß die Nachmittagssonne in der ursprünglichen Architektur durch ein Fenster hoch oben in der Westwand einfallen und diese Palette noch betonen konnte.

Die elektronische Verstärkung auf dem Bildschirm enthüllte auch einen symbolischen Dornenbaum, der bislang kaum zu sehen war. Außerdem kam eine Kuriosität zum Vorschein – Christus hat auf dem Fresko ein mißgestaltetes Ohr, wie man es bei Boxern findet, wohl ein Merkmal des Modells.

Shakespeare oder nicht Shakespeare ?

Mangels Dokumenten wurde so viel über den englischen Dramatiker, Schauspieler und Dichter William Shakespeare (1564 bis 1616) gerätselt und spekuliert, daß ein Witzbold behauptet hat, keines der ihm zugeschriebenen Werke stamme von ihm; verfaßt habe sie ein völlig unbekannter Autor gleichen Namens. Es gibt auch keine Porträts, die einen gewissen Anspruch auf Authentizität erheben könnten, weil sie etwa von Freunden und Familienmitgliedern akzeptiert worden wären.

Ich hatte 1990 begonnen, solche Bildnisse mit denen von Zeitgenossen zu vergleichen, um die Identität Shakespeares zu klären. Bald darauf wurde ich nach England eingeladen, um diese Arbeiten fortzusetzen.

Von der Büste des Grabmals abgesehen, ist das Porträt der ersten Gesamtausgabe seiner Stücke, herausgegeben 1623, wohl das wichtigste. Anderthalb Jahrhunderte später wurde aber gerade dieser Kupferstich eines jungen Künstlers namens Martin Droeshout (l601 bis 1650), der bei Shakespeares Tode erst halbwüchsig war, von dem englischen Rokoko-Maler Thomas Gainsborough (1727 bis 1788) mit den Worten angeprangert, er habe noch nie "ein dümmeres Gesicht gesehen ... Es ist unmöglich, daß ein solcher Geist und ein so seltenes Talent aus einem solchen Antlitz erstrahlen könnten". Und wirklich, die birnenförmige Stirn dieses Porträts ist anatomisch unsinnig. Manche vertraten zudem die Ansicht, die vom Ohransatz unter das Kinn laufende Linie deute eine Maske an (Bild 5).

Ich hatte erfolglos diese Gesichtszüge mit denen des Grafen von Oxford und vieler anderer Notabler jener Zeit verglichen und besuchte am letzten Tag meines Aufenthalts die Nationale Porträtgalerie in London. Da schauten mich aus einem Bildnis Elisabeths I. (1533 bis 1603; Königin seit 1558) dieselben Augen an, die ich seit Wochen so intensiv studiert hatte.

Ein detaillierter Computervergleich erbrachte, daß die meisten Linien in Droeshouts Stich tatsächlich mit denen von George Gowers Porträt der Königin zusammenpassen (die genauen Lebensdaten Gowers sind nicht bekannt; er wurde 1581 Hofmaler der Königin und ist vermutlich 1596 gestorben). Augen, Nase und Umrißlinien der Gesichter stimmen perfekt überein.

Aber es gibt bei einigen Merkmalen eine eigenartige Verschiebung. Ich vermute, daß Droeshout auf der Suche nach irgendeiner brauchbaren Vorlage einen der leicht erhältlichen Drucke mit dem Bildnis der Königin nahm, die alle auf autorisierten Porträts basieren mußten. Doch weil das Stechen von Bildern mühsam ist, unterbrach er wohl die Arbeit gelegentlich – so vielleicht auch, nachdem er die rechte Hälfte des Gesichts beendet hatte. Bevor er das Phantasieporträt Shakespeares beendete, verrückte er unbemerkt oder absichtlich die Shzze der Königin und damit die vorgegebene Kontur, so daß der Kopf länglich und birnenförmig sowie der Kiefer zu breit für das jetzt schmalere Gesicht wurde. Diesen Fehler versuchte der junge Künstler zu korrigieren, und es entstand die doppelte Unterkiefer-Linie.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 78
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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