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Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens.

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel.
Hoffmann und Campe, Hamburg 1997. 784 Seiten, DM 78,–.

Bekanntlich läßt sich die von Charles Darwin (1809 bis 1882) formulierte Evolutionstheorie auf drei axiomatische Sätze reduzieren: 1) Biologische Einheiten vermehren sich, das heißt, sie sind imstande, (mehr oder minder genaue) Kopien von sich selbst herzustellen. 2) Innerhalb jeder Population solcher Einheiten sind Varianten in großer Zahl vorhanden. 3) Von diesen Varianten werden unterschiedlich viele Kopien hergestellt, und zwar in Abhängigkeit vom Erfolg ihrer Auseinandersetzungen mit der Umwelt. Das umfangreiche Werk Darwins besteht zum allergrößten Teil aus Beschreibungen von Fallbeispielen sowie Schlußfolgerungen, die dieses abstrakte Gerüst mit Leben erfüllen. Darwin ahnte natürlich, daß es zahlreicher und schwerwiegender Indizien bedürfe, um sein Publikum davon zu überzeugen, daß die Evolution der Lebewesen sowie die exquisite Abstimmung ihrer Merkmale auf die Anforderungen der Umwelt tatsächlich durch ein so abstraktes Prinzip wie „natürliche Selektion“ erklärbar seien.

Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett bezeichnet die natürliche Selektion als einen algorithmischen – also regelhaften – Prozeß. In seinem neuen Buch beschreibt er unter anderem, wie dieses Grundkonzept der Evolutionstheorie auch in andere Wissenschaften einzudringen beginnt, in Medizin, Soziologie, Psychologie, Wirtschaftstheorie, Ingenieurwissenschaften, ja sogar in die mit Computern geschaffene virtuelle Wirklichkeit. Daraus läßt sich folgern, daß die genannten axiomatischen Sätze ein generelles Rezept für Evolution enthalten: Wo immer es Einheiten gibt, die sich vermehren können, die variieren und Merkmale in Abhängigkeit vom Grad ihres Erfolges in der Umwelt vererben können, wird Evolution stattfinden. Daß dieser Prozeß unabhängig von dem Medium ist, in dem er sich abspielt, beweisen Computersimulationen wie „Life“ oder „Tierra“, in denen Programmelemente tatsächlich eine virtuelle Evolution mit erstaunlichen Parallelen zur biologischen durchlaufen. Nach Dennett ist es gerade der Erfolg dieser Idee, die sie „gefährlich“ macht: Sie ist imstande, die Barrieren der menschlichen Ideenwelt mit derselben Leichtigkeit zu durchdringen wie eine starke Säure eine Behälterwand.

Andererseits ist es gerade dieser Mangel an Spezifität, der die Frage nahelegt, ob die „gefährliche Idee“ nicht vielleicht doch nur eine grundsätzliche, wenig aussagende Randbedingung für Evolution definiert. Es sind Evolutionen in verschiedenen (virtuellen und nichtvirtuellen) Wirklichkeiten denkbar, die je nach den Randbedingungen sehr unterschiedliche Verläufe nehmen und sehr unterschiedliche Produkte hervorbringen.

Was die Randbedingungen der biologischen Evolution angeht, ist zu bedenken, daß sich seit Darwins klassischem Entwurf vor rund 150 Jahren das Gesicht der Biologie dramatisch gewandelt hat. Zwischen 1900 und etwa 1940 fand die Integration der Genetik in die Evolutionsbiologie statt, und ab etwa 1950 setzte die molekularbiologische Revolution ein, die das Fundament genetischer und entwicklungsbiologischer Prozesse freigelegt und Einblicke in zahllose neue Abhängigkeiten und Wechselwirkungen unter den Beteiligten am Spiel der biologischen Evolution – Makromolekülen, Genen, Zellen und Individuen – eröffnet hat. Diese Wechselwirkungen könnten die biologische Evolution derart dominieren, daß der Verweis auf den „Algorithmus der natürlichen Selektion“ etwa denselben Stellenwert hat wie die zwar fundamentale, aber ebenfalls unspezifische Erkenntnis, daß Lebewesen offene Systeme sind, die fern vom thermodynamischen Gleichgewicht einen dynamischen Zustand aufrechterhalten.

Dennett stellt sich der Diskussion über die Evolution und den Sinn des Lebens, indem er die zwischen Evolutionisten und ihren Feinden sowie die innerhalb der Biologie ablaufenden Auseinandersetzungen über Begriffe und Normen, Randbedingungen und Gesetze aus der Distanz eines klugen und kritischen Rationalisten analysiert. Er unterscheidet zwischen zwei prinzipiellen Versuchen zur Erklärung von Lebensvorgängen, die er „Himmelshaken“ und „Kräne“ nennt.

In ersterem Fall werden gewisse biologische Phänomene als grundsätzlich der rationalen Analyse unzugänglich deklariert und auf irgendein nicht weiter definierbares, „im Himmel verankertes“ Prinzip zurückgeführt. Zu den Anhängern dieser Interpretation gehören vor allem – laut Dennett (Seite 726) – jene 48 Prozent aller Amerikaner, die das erste Buch Mose im wörtlichen Sinne für wahr halten, sowie jene 70 Prozent, die der Ansicht sind, der Kreationismus – der Versuch, die biblische Schöpfungsgeschichte wissenschaftlich zu interpretieren – solle in den Schulen gleichberechtigt mit der Evolutionstheorie gelehrt werden.

Diesen Gläubigen diametral gegenüber stehen Reduktionisten, und zwar jene, die Dennett als „gierig“ (greedy) bezeichnet. Nach deren Meinung bedarf es nicht nur keiner Himmelshaken, um die Evolution von Komplexität zu erklären, es sind nicht einmal Kräne vonnöten, denn die Merkmale komplexer Systeme lassen sich restlos auf die Eigenschaften der Elemente dieser Systeme zurückführen. Unter Kränen versteht Dennett Theorien über Mechanismen für den Zusammenbau komplexer Maschinen (Systeme) aus einfachen Bauteilen (Elementen). Im Unterschied zu den Himmelshaken sind Kräne ohne Schwierigkeit in den logischen Formalismus des neuen Darwinismus integrierbar. Den „gierigen“ stellt Dennett die „guten“ Reduktionisten gegenüber, welche die Notwendigkeit von Kränen zur Erzeugung von Komplexität durchaus akzeptieren.

Fruchtbarer als Auseinandersetzungen zwischen Evolutionisten und ihren erklärten Feinden sind die zwischen Evolutionsbiologen unterschiedlicher Denkrichtung. Auch unter Biologen gibt es nach Himmelshaken suchende Kritiker der herrschenden Theorie, zum Beispiel jene, die es ablehnen, im Prinzip der Anpassung durch natürliche Selektion die ausschließliche oder auch nur dominierende Erklärung für den Verlauf der Evolution zu sehen. Diese Kritiker halten es für notwendig, dem äußeren Prinzip (der natürlichen Selektion) ein innerorganismisches entgegenzusetzen, zum Beispiel das der Selbstorganisation. Nach Dennetts Meinung ist so eine Alternative in Ordnung, wenn sie als konstruktiver Mechanismus – eben als „Kran“ – gedacht wird, der etwa die Stabilität des Systems fördert, indem er dessen Variabilität einengt und kanalisiert, nicht jedoch, wenn sie als verkappter Himmelshaken eingeführt wird, wie dies zum Beispiel der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould im Sinne hat. Diesem Renegaten widmet Dennett ein ganzes langes Kapitel, an dessen Ende er hochbefriedigt feststellt, es sei ihm gelungen, Goulds „angebliche Revolutionen gegen Adaptionismus, Gradualismus und Extrapolationismus“ in Luft aufzulösen (Seite 434).

Dennett ist ein Aufklärer, der die Konflikte im Umfeld der Evolutionsbiologie beeinflussen (vielleicht sogar entscheiden) möchte, indem er die als Waffen verwendeten Begriffe auf ihre wahren Bedeutungsinhalte abklopft. Meist stellt sich dabei heraus, daß gerade die gebräuchlichsten (oft zu Schlagworten degenerierten) Begriffe untauglich sind, die von ihren Nutzern erwünschte Wirkung zu entfalten. So pulverisiert Dennett die von seiten Goulds und Richard Lewontins in Gang gesetzte Inszenierung einer Attacke gegen sogenannte „Adaptionisten“, indem er zeigt, daß das propagierte Prinzip des „konstruktiven Zwanges“ nicht nur keine Alternative und schon gar nicht ein Gegensatz zum Prinzip des durch natürliche Selektion entstandenen adaptiven Merkmals ist, sondern ganz im Gegenteil ein zum Verständnis von dessen Entwicklung unentbehrlicher Begriff.

Trotzdem führt uns Dennett vor Augen, daß sich auch ein kritischer Philosoph im Begriffsgestrüpp einer vielseitigen Wissenschaft wie der Biologie verirren kann. Wie viele vor ihm hat auch er auf dem Weg vom Gen zum Genom eine Abzweigung übersehen, und zwar dort, wo er das komplizierte Verhältnis zwischen Genom und Organismus behandelt. Um das Genom zu definieren, stellt sich Dennett ganz auf die Seite von Richard Dawkins, zitiert ausführlich und voller Zustimmung (Seite 157/158) eine von dessen eher exaltierten Formulierungen, wonach die Existenz eines Gens für irgendeine komplexe Eigenschaft oder Leistung, wie zum Beispiel für Lesen, nachgewiesen wäre, würde man einem Gen für „Nichtlesen“ auf die Spur kommen („das beispielsweise einen Gehirnschaden und damit … Leseunfähigkeit … herbeiführt“). Daß so eine Formulierung unakzeptabel, ja eigentlich unsinnig ist, hat einer der Pioniere der modernen Genetik, Alfred Harry Sturtevant, bereits vor mehr als 80 Jahren aufgezeigt. Die Konfusion entsteht, wenn die komplexe Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp mit dem Unterschied zwischen zwei Genotypen verwechselt wird. Sturtevant hatte sich auf den Unterschied zwischen roten und farblosen Augen bei der Taufliege Drosophila bezogen, der tatsächlich auf die Mutation eines einzigen, den Mendelschen Verteilungsregeln folgenden Gens zurückgeführt werden kann. Es war ihm jedoch völlig klar, daß die „Fähigkeit zu sehen“ in den Verschaltungen zahlreicher Gene wurzelt, von denen keines als „das“ Gen für Sehen bezeichnet werden kann. Die oben zitierte Formulierung von Dawkins über Lesefähigkeit ist dementsprechend ebenso irreführend, wie es etwa die Behauptung wäre, der Vergaser sei „das“ Bauteil für Autofahren, weil seine Entfernung die Fahrunfähigkeit des Vehikels zur Folge hat.

Über weite Strecken ist Dennett ein kritischer und ausgleichender Interpret einer oft unübersichtlichen Szene, auf der Apologeten, Kritiker und Feinde der Evolutionstheorie ein Verwirrspiel mit unklar definierten Begriffen spielen (die Wissenschaftsphilosophin Marjorie Grene meinte einmal, hinter dem von Biologen oft verwendeten Begriff „Hierarchie“ 22 verschiedene Konzepte entdecken zu können). Daß selbst ein so scharfsinnig biologisierender Philosoph wie Daniel Dennett in diesem Verwirrspiel manchmal die Übersicht verliert, halte ich als philosophierender Biologe für ausgleichende Gerechtigkeit.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1998, Seite 160
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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