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Linguistik: Das altägyptische Wörterbuch

Eine Dokumentation von rund 3500 Jahren ägyptischer Sprachgeschichte - die bislang umfassendste lexigraphische Auswertung von Texten aus dem Pharaonenreich - ist nun per Internet der Öffentlichkeit zugänglich


Manche wissenschaftlichen Projekte liefern Resultate, die den Rahmen herkömmlicher Zeitschriften- und Buchformate sprengen. Ihre Veröffentlichung war lange Zeit ein kaum lösbares Problem. Hier hat das Internet neue Wege geebnet – insbesondere in Gestalt des World Wide Web, das die Publikation größerer Materialmengen erleichtert und in einigen Fällen überhaupt erst ermöglicht. Wenn die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften dieser Tage die letzten Teile des Zettelarchivs des Berliner Altägyptischen Wörterbuchs zugänglich macht, geschieht das in einer Form, die sich die Initiatoren des Projektes mit Sicherheit nicht haben träumen lassen. Denn was da unter der Adresse http://aaew.bbaw.de ins Netz gestellt wird, kann auf eine über hundertjährige Geschichte zurückblicken.

Zu Projektbeginn Ende des 19. Jahrhunderts war die Erforschung der altägyptischen Schriften zwar bereits den Kinderschuhen entwachsen, und in den über achtzig Jahren seit den bahnbrechenden Arbeiten von Thomas Young und Jean François Champollion hatte das Sprachverständnis der Ägyptologen gewaltig zugenommen. Allerdings ging mit den Fortschritten auch ein verstärktes Problembewusstsein einher; der Pioniergeist der Entzifferer wich dem Ehrgeiz, die Erkenntnisse zur ägyptischen Sprache wissenschaftlich möglichst allgemein gültig und rigoros zu belegen und zu begründen. Das konnte nur gelingen, indem man alle vorhandenen Texte systematisch durchforstete und sich bemühte, Wortbedeutungen und grammatikalische Regeln aus dem Zusammenhang und dem Vergleich mit Parallelstellen zu erschließen. Dazu wiederum war es notwendig, das Material in einer Form aufzubereiten, die die systematische Suche nach bestimmten Wörtern überhaupt erst zuließ.

Dieser gewaltigen Aufgabe nahm sich der Berliner Ägyptologe Adolf Erman an – mit einem umfassenden Wörterbuch der ägyptischen Sprache als Ziel. Dabei war er sich sehr wohl bewusst, dass die Arbeit das Vermögen eines einzelnen Gelehrten bei weitem übersteigen würde, und plante entsprechend ausgreifend. Als sein Wörterbuchprojekt 1897 anlief, geschah dies mit Unterstützung der wissenschaftlichen Akademien von Berlin, Göttingen, Leipzig und München. Die Liste der über sechzig Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, deren Mitarbeit sich Erman versichern konnte, liest sich wie ein Who-is-who der damaligen Ägyptologie.

In Berlin stand dem Projekt bereits ein Grundstock an Material zur Verfügung: die umfangreiche Dokumentation der preußischen Ägypten-Expedition, die der Linguist und Archäologe Carl Richard Lepsius (1810-1884) in den Jahren 1842 bis 1845 durchgeführt hatte. Zudem besuchten Mitarbeiter sowohl Ägypten als auch alle ägyptischen Sammlungen europäischer Museen. Dort erstellten sie tausende Seiten genauer Abschriften aller zugänglichen Texte, glichen bereits veröffentlichte Texte mit den Originalen ab und fertigten hunderte und aberhunderte Abklatsche an: Blätter von Spezialpapier, die, in nassem Zustand auf ein Relief gedrückt und nach dem Trocknen abgenommen, dessen Aussehen plastisch wiedergeben.

Die Früchte dieser Arbeit, eine umfassende Dokumentation von rund 3500 Jahren ägyptischer Sprachgeschichte, wurden zur Auswertung nach Berlin verbracht. Dort begannen Projektmitarbeiter mit der Analyse des Textkorpus, indem sie jedes Wort der zusammengetragenen Texte samt Fundstelle und Kontext auf einem eigenen Karteizettel festhielten. Dabei notierten sie auch die (anfangs oft nur vermutete) Lautfolge, ausgedrückt in dem aus 25 Buchstaben bestehenden ägyptologischen Transkriptionsalphabet; sie bildete die Grundlage für die alphabetische Sortierung der Wörter.

Im Jahre 1909 wurde zudem mit der Feinordnung der ersten 900000 Zettel begonnen. Dabei erschlossen die Wissenschaftler aus dem Textzusammenhang und durch Vergleich mit den Parallelstellen die Bedeutungsspektren der Wörter und sortierten die Belege für jedes Wort nach Gebrauch, Vorkommen in bestimmten Sprachwendungen, grammatischer Form, aber auch verschiedenen Schreibweisen.

Schwer zugängliche Schätze

Welche Impulse Ermans Projekt der ägyptologischen Forschung gegeben hat, zeigen nicht zuletzt eine Reihe von Standardwerken. So entstanden viele Textausgaben ägyptischer Inschriften oder das "Lexikon der ägyptischen Personennamen" in Zusammenhang mit der Arbeit an dem Wörterbuch. Ermans ursprüngliches Vorhaben, die Ergebnisse des Projekts in Buchform zu veröffentlichen, ließ sich dagegen ob der enormen Materialfülle technisch wie finanziell nicht verwirklichen. Als Kompromisslösung wurde ein verschlanktes Wörterbuch erstellt, das lediglich auf einer Auswahl an Belegen beruhte. Erman und sein Schüler Hermann Grapow gaben zwischen 1925 und 1931 die grundlegenden ersten fünf Bände dieses Werkes heraus.

Nach Ermans Tod im Jahre 1937 führte Grapow auch die Veröffentlichung der Belegstellen- und Indexbände fort, die das "Wörterbuch der ägyptischen Sprache" bis 1963 ergänzten. Parallel wurden Aufbereitung und "Verzettelung" neuer Texte noch bis 1940 fortgesetzt. Obschon das gedruckte "Wörterbuch" nur einen Teil der in den Zettelarchiven vorhandenen Informationen enthält, ist es bis heute das vollständigste seiner Art: ein Standardwerk, das zu den wichtigsten Werkzeugen nicht nur der deutschsprachigen Ägyptologen zählt.

Doch wer über das gedruckte Lexikon hinaus das zusammengetragene Material in größerem Stile nutzen wollte, dem blieb nur der persönliche Weg in die Arbeitsstelle im Akademiegebäude "Unter den Linden", die Ermans Erbe sorgsam bewahrt. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten rückte die Entwicklung von Computern, Datenbanksystemen und erschwinglichen Massenspeichern eine Veröffentlichung des gesamten Zettelarchivs in den Bereich des Machbaren.

Segnungen der Elektronik

Angedacht hatten die Mitglieder der neu gegründeten Wörterbuchkommission ein "elektronisches Wörterbuch" bereits in den achtziger Jahren. Doch erst 1997 konnten sie – dank verbesserter finanzieller Möglichkeiten nach der Wiedervereinigung und einer Projektförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – zur Verwirklichung des "digitalisierten Zettelarchivs" schreiten. Freilich war es mit dem bloßen Scannen der 1,5 Millionen Karten beileibe nicht getan. Um das Material wirklich nutzbar zu machen, musste jede der Bilddateien mit einem zentralen Index verknüpft werden, der Übersetzung, Transkription und die Stellung des betreffenden Zettels in der systematischen Feinordnung erfasst (und zudem berücksichtigt, ob sich die Lesart des betreffenden Wortes im Lichte neuerer Forschung geändert hat). Erste Teile des Archivs sind seit 1999 online verfügbar; mit dem Abschluss der arbeitsintensiven Erfassung Ende Oktober dieses Jahres und der nachfolgenden Veröffentlichung im World Wide Web ist das vollständige Material jetzt weltweit per Mausklick zugänglich.

Für die Mitarbeiter der Arbeitsstelle bildet das digitale Zettelarchiv allerdings nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu einer noch weit umfassenderen Da-tenbank. Diese soll zum einen auch den umfangreichen Korpus jener Textquellen erfassen, die erst nach Abschluss der Verzettelungsarbeit für das Ermansche Wörterbuch bekannt wurden. Zum anderen soll sie das elektronisch erfasste Material in vielfältiger Weise recherchier- und analysierbar machen. Die bislang unveröffentlichte, vorläufige Version dieser Textdatenbank lässt erahnen, welche Möglichkeiten sie einmal bieten wird – von der Suchfunktion, die auf Tastendruck alle Belege für eine bestimmte Kombination grammatischer Elemente aufzeigt, bis zum topographischen Verzeichnisbaum, in dem sich der Benutzer mit der Maus zunächst zu einem Ortsnamen durchklicken kann, dann beispielsweise zu einem bestimmten Tempel, einem Tempelraum und schließlich einer Wand dieses Raumes, um endlich Transkription, Übersetzung, grammatikalische Aufschlüsselung und eine Faksimile-Abbildung des entsprechenden Wandtextes vor sich zu sehen.

Mag die Textdatenbank dem Zettelarchiv auch in technischer Hinsicht um Lichtjahre voraus sein, so gilt eines weiterhin: Bis zum Erreichen des Fernziels – einer erschöpfenden Datenbank aller bekannten ägyptischen Texte – wird noch viel Zeit, Arbeit und Geld investiert werden müssen.


Einmaliges Zettelarchiv


Die Belegzettel für das Vorkommen eines jeden Wortes in altägyptischen Texten, die nunmehr im Internet zugänglich sind, bilden ein unschätzbares Forschungswerkzeug für alle, die sich mit dem einstigen Pharaonenreich am Nil beschäftigen. So wird ein Ägyptologe, der im Rahmen einer Übersetzungsarbeit etwa das Bedeutungsspektrum des Verbs mit der Transkription "s´D" ("zerbrechen") ausloten möchte, neben rund 400 anderen Belegstellen für dieses Wort auch auf den hier abgebildeten Zettel stoßen.

In der rechten oberen Ecke steht die Transkription des Wortes, für das dieser Zettel den Beleg nennt ? in diesem Falle s´Dw. Sie repräsentiert den konsonantischen Teil des Lautinhaltes. Angegeben ist jeweils auch der Textzusammenhang, in dem das Wort auftritt. In unserem Beispiel handelt es sich um einen Ausschnitt aus der so genannten Semna-Stele: einem Grenzstein von Sesostris III., der sich heute mit der Inventarnummer 1157 im Ägyptischen Museum in Berlin befindet. Die hieroglyphische Schreibung des Wortes ist im Text rot unterstrichen, rechts daneben findet sich die Übersetzung des Textes, in dem Sesostris die unvorteilhaften Eigenschaften seiner nubischen Feinde beschreibt.

Außerdem erlauben die Zettel interessante Einblicke in die Arbeit des Wörterbuchprojekts. Das hier abgebildete Beispiel etwa lässt erkennen, dass sich die Lesung des betreffenden Wortes im Verlauf der Bearbeitung geändert hat. Dazu muss man wissen, dass die Ägypter in der Regel nicht nur den Lautinhalt ihrer Wörter niederschrieben, sondern zusätzlich ein oder mehrere Zeichen, die allgemeine Hinweise auf die Bedeutung des Wortes geben (etwa laufende Füße für Wörter des Bedeutungskreises "gehen, laufen" oder ein liegendes Kreuz für den Bedeutungskreis "brechen, teilen, überkreuzen").

Das hier gezeigte Wort s´Dw wurde ursprünglich auf Grund des Deutezeichens, das einen Rinderschenkel darstellt, fälschlich als "Schenkel" übersetzt. Doch dann machte eine Parallelstelle den Irrtum klar: Auf der so genannten Uronarti-Stele desselben Königs steht ein gleich lautender Text; dort ist das entsprechende Wort aber mit einem liegenden Kreuz als Deutezeichen geschrieben. Demnach handelt es sich um eine abweichende Schreibung des durch viele weitere Belege abgesicherten Verbs "s´D" für "zerbrechen". Der Rinderschenkel ist schlicht ein Flüchtigkeitsfehler des Schreibers, der den Text von einer Vorlage auf die Steinstele übertrug: In der hieratischen Alltagsschrift sehen sich der Rinderschenkel und der stilisierte schlagende Arm, mit dem "s´D" oft geschrieben wird, sehr ähnlich. Hieroglyphischer Text und Übersetzung der erhellenden Parallelstelle sind unten vermerkt worden. Das blaue Kreuz rechts oben zeigt an, dass der Zettel als besonders aufschlussreiche Belegstelle für das gedruckte Wörterbuch ausgewählt wurde; der Verweis trägt, wie in rot notiert, die Nummer 22 auf Seite 374 des entsprechenden (vierten) Wörterbuchbandes.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2001, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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  • Infos
Altägyptisches Wörterbuch -> http://aaew.bbaw.de/
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