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Das Behandlungsdilemma bei Prostatakrebs

Überwiegen die Risiken aggressiver Behandlung im Frühstadium oder die Vorteile? Hat die Unsicherheit in dieser Frage Konsequenzen für Vorsorgemaßnahmen|? Welche Kranken sollen für experimentelle Verfahren ausgewählt werden oder neue, noch nicht zugelassene Medikamente erhalten|? Das sind einige der ungelösten Probleme, denen Ärzte und Patienten gegenüberstehen.

In diesem Jahr werden in den Vereinigten Staaten wohl 38000 Männer einem Karzinom der Vorsteherdrüse erliegen und allein 200000 neue Fälle erkannt werden. Das macht Prostatakrebs zu der am häufigsten diagnostizierten von den malignen Tumorarten, die nicht die Haut betreffen, und – nach Lungenkrebs – zur zweithäufigsten krebsbedingten Todesursache bei der männlichen US-Bevölkerung. In jüngster Zeit verloren Prominente wie der Musiker Frank Zappa (Bild 1), der Theaterproduzent Joseph Papp und der Schauspieler Telly Savalas ihren Kampf gegen das heimtückische Leiden. Das Endstadium ist kein sanftes Sterben; den meisten, die ihm erliegen, setzen in den letzten Lebensmonaten unerträgliche, schwer bekämpfbare Schmerzen zu.

Eine Krebserkrankung der Prostata tritt mit zunehmendem Alter häufiger auf; im typischen Falle wird sie erst diagnostiziert, wenn der Betroffene älter als 65 Jahre ist. Trotz ihrer Häufigkeit ist diese Krebsart vergleichsweise wenig erforscht worden. So vermögen die Ärzte bei vielen Patienten nicht sicher über die beste Behandlungsmethode zu entscheiden. Selbst wer sich derzeit führenden Experten anvertrauen kann, wird sehr wahrscheinlich die Erfahrung machen, daß sie über die beste Vorgehensweise in seinem speziellen Falle uneins sind. Mediziner und Entscheidungsträger im amerikanischen Gesundheitswesen befinden sich mitten in Auseinandersetzungen darüber, wie die Erkrankung – insbesondere in ihren frühen Stadien – anzugehen sei und ob viele anscheinend heilbare Fälle überhaupt therapiert werden sollten, weil die Patienten eventuell an Behandlungsnebenfolgen schwerer zu tragen haben als an dem Grundübel. Diese und andere Fragen sind dringlich zu klären, um Leid und Tod durch Prostatakrebs erheblich zu mindern.
Diagnose

Warum solche Unsicherheiten immer noch bestehen, läßt sich am ehesten mit einiger Kenntnis darüber verstehen, wie man die Erkrankung gegenwärtig zu erkennen und zu behandeln sucht. Entdeckt wird sie gewöhnlich durch eine Rektaluntersuchung: Dazu führt der Arzt einen Zeigefinger in den After ein, um die hinter der Mastdarmwand gelegene Vorsteherdrüse auf Veränderungen in Größe, Gestalt und Konsistenz – insbesondere auf Knoten – abzutasten. Eine solche Untersuchung (in Deutschland gehört sie zum Routine-Krebsvorsorgeprogramm) ist ganz speziell angezeigt, wenn innerhalb kurzer Zeit Beschwer-den beim Wasserlassen, ungewöhnlicher Harndrang oder auch Erektionsstörungen auftreten.

Die Symptome, die Männer zum Arzt führen, rühren nicht selten daher, daß die Prostata aufgrund einer Wucherung auf die umgebenden Strukturen drückt (Bild 2). Das normalerweise etwa walnußgroße Organ direkt unterhalb der Blase umschließt die Harnröhre an der Einmündung der Samenleiter – daher auch sein Name nach griechisch prostates, Vorsteher (es liefert den Hauptanteil der Samenflüssigkeit; das Sekret fördert die Beweglichkeit der Samenfäden). Wenn ein Tumor zum Beispiel gegen die Blase drückt oder die Harnröhre zusammenpreßt, müssen die Betroffenen häufig nachts zum Wasserlassen aufstehen – öfter oder dringlicher als sonst. Ebenso kann das Wasserlassen selbst Probleme bereiten; es fällt dann schwer, einen Harnstrahl zu produzieren oder die Blase völlig zu entleeren.

Ähnliche Symptome treten auch bei einer altersbedingten gutartigen Vergrößerung der Prostata auf, wenngleich allmählicher als bei Krebs. (Bei mehr als der Hälfte aller Männer über 45 Jahren ist diese benigne Hyperplasie der Prostata nachzuweisen, macht aber nur zu einem Teil Probleme.) Bei zu starken Beschwerden kann ein Chirurg sie durch eine transurethrale Prostataresektion zu lindern versuchen. Bei diesem Eingriff durch die Harnröhre werden Teile der Drüse mit verschiedenen Verfahren abgetragen. Das entfernte Gewebe durchmustert man sicherheitshalber immer mikroskopisch auf Anzeichen einer malignen Entartung, und gelegentlich wird dann erst eine entdeckt.

Die dritte diagnostische Möglichkeit bietet ein einfacher Bluttest: Er kann bei Männern, die keinerlei Symptome einer organischen Veränderung aufweisen, einen Verdacht auf Krebs anzeigen. Gemessen wird dazu der Gehalt an prostata-spezifischem Antigen (PSA) im Blut; dieses mit Zuckerseitenketten ausgestattete Protein gehört zu den zahlreichen Molekülarten, die von der Vorsteherdrüse erzeugt werden. Bei den meisten Versionen des Tests, der seit 1986 weithin verfügbar ist, deuten PSA-Konzentrationen von mehr als vier millionstel Gramm (Nanogramm) pro Milliliter Blut auf das mögliche Vorhandensein von Prostatakrebs hin, mehr als zehn sind schon stärker verdächtig. Die meisten derart entdeckten Tumoren sind noch mikroskopisch klein.

Ein erhöhter PSA-Wert beweist jedoch keinesfalls, daß eine Krebserkrankung vorliegt; Ursache können auch andere Faktoren sein, etwa eine beginnende gutartige Vergrößerung, eine Entzündung oder sogar lediglich mechanischer Druck auf die Drüse. Umgekehrt ist der PSA-Wert bei vielen bereits an Prostatakrebs erkrankten Männern zum Zeitpunkt der Diagnose normal. An Möglichkeiten, die Schwächen des Tests zu überwinden, wird derzeit geforscht.

Weil er jedoch leicht und relativ preiswert durchzuführen ist, wendet man ihn in den USA vielfach an, um bei symptomlosen Männern nach Prostatakrebs zu fahnden (in der Bundesrepublik gehört der Test noch nicht zum Vorsorgeprogramm; führende Fachleute empfehlen jedoch den Routineeinsatz). Wahrscheinlich erklärt sich damit zu einem guten Teil die seither frappierend gestiegene Anzahl alljährlich in den USA neu erkannter Erkrankungsfälle: Wie bereits erwähnt, werden für 1994 200000 erwartet – 1986 waren es erst 90000 (Bild 1 links).

Dies hat die Diskussion darüber verschärft, ob man überhaupt nach kleinen Karzinomen fahnden und die Betroffenen möglichst bald einer aggressiven, auf Heilung abzielenden Therapie unterziehen solle. Gegner führen unter anderem an, daß sich bei mikroskopisch kleinen Tumoren derzeit noch nicht definitiv vorab erkennen läßt, ob sie latent bleiben (also in der zu erwarteten Lebensspanne des ohnehin meist älteren Patienten keine Symptome erzeugen) oder klinisch bedeutsam werden (also auf eine stärkere Beschwerden machende Größe anwachsen oder gar lebensbedrohlich metastasieren). Nach Erfahrungswerten, die sich auf Kriterien wie Größe und Feinstruktur der Tumoren stützen, kann man zwar deren Gefährlichkeit abzuschätzen versuchen – aber eben nicht mit Sicherheit sagen, welche bereits im Frühstadium einer Behandlung bedürfen und welche nicht.

Die verbesserte Früherkennung von kleinen Tumoren hat möglicherweise zur Folge, daß zahlreiche Männer einer durchaus riskanten Therapie unterzogen werden, die sonst wohl mit, aber nicht an Prostatakrebs gestorben wären. Aus Autopsien von Männern, die aus anderen Ursachen starben, weiß man, daß etwa ein Drittel der männlichen Bevölkerung in der Altersgruppe über 50 Jahren zumindest einige Krebszellen in der Prostata hat und daß mit zunehmendem Alter der Anteil wächst – auf 90 Prozent in der Gruppe über 90 Jahren. Legt man diese Zahlen zugrunde, dann sterben die meisten Männer, die einen Prostatakrebs bekommen, nicht daran; etwa drei Prozent aller Todesfälle unter amerikanischen Männern dürften ihm anzulasten sein.

Einige Experten befürworten die Strategie, die unnötigen Behandlungen möglichst zu minimieren. Andere äußern Besorgnis, daß infolge nicht rechtzeitiger Erkennung und Therapie alljährlich Tausende, die vielleicht hätten gerettet werden können, einen grausamen, schmerzhaften Tod erleiden.
Klassifikation

Selbstverständlich wird niemand ausschließlich wegen eines erhöhten PSA-Wertes oder eines ertasteten Knotens gegen Krebs behandelt, nicht einmal, wenn beide Kriterien zusammenkommen. Der Verdacht muß erst weiter diagnostisch abgeklärt sein. In der Regel ist der nächste Schritt eine Ultraschalluntersuchung. Oft läßt sich damit ein mutmaßlicher Tumor genauer eingrenzen, was für die Entnahme von Gewebe hilfreich ist. Bestätigt die mikroskopische Analyse der Probe, daß es maligne entartet ist, folgt eine Klassifikation nach Stadien. Darauf basieren die gegenwärtigen Leitlinien zur Behandlung.

Ein weit verbreitetes Klassifikationsschema – es gibt mehrere – sieht vier mit den Buchstaben A, B, C und D bezeichnete Stadien vor (siehe Kasten Seite 41). Im Stadium A sind die bösartigen Herde noch mikroskopisch klein, also nicht als Knoten ertastbar. Dieser Typus wird herkömmlich beim Abschälen von Prostatagewebe durch die Harnröhre erfaßt. Er läßt sich weiter in zwei Unterklassen unterteilen. Im Stadium A1 beschränkt sich der Tumor auf einen einzelnen kleinen Bezirk der Prostata und besteht aus noch relativ gut differenziertem Gewebe – die Krebszellen sind, abgesehen von einigen offenkundigen abnormen Veränderungen (zum Beispiel vergrößerten Zellkernen), wie normale Zellen ihres Umfelds einheitlich groß und dicht gepackt (Bild 3). Ein Krebs im Stadium A2 ist diffuser verteilt und besteht aus mäßig bis schlecht differenziertem Gewebe oder weist zumindest eines dieser Charakteristika auf. Bei mehreren Tumorbezirken in der Drüse oder einer geringen Differenzierung handelt es sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit um eine aggressive Form.

Tumoren im Stadium B sind groß genug, daß sie rektal als Knoten ertastet werden können, verursachen aber nur selten bereits Beschwerden. Tumoren vom Stadium C haben sich zumindest über den größten Teil der Prostata ausgebreitet und sie steinhart gemacht; im typischen Falle haben sie auch die Drüsenkapsel durchbrochen und sind in umgebendes Gewebe vorgedrungen. Dieser Befund wird häufig bei Patienten erhoben, die erst ihrer Beschwerden wegen ärztliche Hilfe suchen.

Stadium D schließlich ist zu diagnostizieren, wenn sich bereits Metastasen gebildet haben, also Tochtergeschwülste durch Tumorzellen, die sich über die Lymph- oder Blutbahnen verbreitet und in anderen Geweben angesiedelt haben. Gewöhnlich finden sich die ersten die-ser Metastasen in Lymphknoten direkt stromabwärts der Prostata, weitere dann auch in Knochen und anderswo.

Für eine Klassifikation werden weitere bildgebende Verfahren hinzugezogen. Zum Beispiel kann der Arzt mit einer Computertomographie von Becken und Bauch nach Anzeichen für Absiedlungen in den Lymphknoten fahnden. Erfahrungsgemäß ist bei einem solchen Befall auch mit Metastasen in anderen Teilen des Körpers zu rechnen. Mit speziellen Verfahren wird eventuell des weiteren direkt nach Knochenmetastasen gesucht.

Auch aus all diesen klinischen Befunden ergibt sich nur eine vorläufige Zuordnung. Denn oft kann man es nicht bei diesen diagnostischen Schritten belassen: Immerhin 25 bis 50 Prozent der Tumoren, die zunächst unter Stadium A2, B oder C eingestuft werden, erweisen sich bei weiteren Untersuchungen dann doch als Stadium D, haben also schon Metastasen gebildet. (Bei Entartungen des Stadiums A1 ist der Anteil zweifelsohne viel geringer.)

Die richtige Zuordnung ist deshalb so wichtig, weil man gegen metastasierende Tumoren anders vorgehen muß als gegen weniger fortgeschrittene. Der Arzt kann zur genaueren Abklärung Lymphknoten des Beckens direkt auf einen möglichen Befall untersuchen – durch Entnahme einer Gewebeprobe oder gleich des ganzen Knotens. Doch lassen sich auf diese Weise wiederum keine verirrten Krebszellen entdecken, die in die Blutbahn übergetreten sind und sich gewöhnlich in Knochen absiedeln. Zwangsläufig leiden einige der Patienten, die so behandelt werden, als ob sie im Frühstadium erkrankt wären, in Wirklichkeit an bereits metastasierendem Krebs.


Standardtherapien

Gegenwärtig empfehlen die Standard-Behandlungsprotokolle in den USA, Patienten im Stadium A oder B – ausgenommen vielleicht ältere Personen mit Stadium A1 – meist sofort einer von zwei potentiell kurativen Therapien zu unterziehen: entweder die Drüse zu entfernen oder sie zu bestrahlen (siehe obigen Kasten). Beide Maßnahmen gelten, was die Erfolgschancen anbelangt, als etwa gleichwertig. Die Bestrahlung wird jedoch oft bei Männern bevorzugt, deren körperlicher Zustand für einen chirurgischen Eingriff zu schlecht ist.

Sie ist – so die Lehrbücher – auch die Therapie der Wahl im Stadium C, weil Tumoren, die in angrenzendes Gewebe vorgedrungen sind, operativ nicht vollständig zu entfernen sind. Im Stadium D besteht kaum mehr Aussicht auf Heilung, weder mit Operation noch mit Bestrahlung. Patienten mit Metastasen ist besser mit einer Therapie gedient, die darauf abzielt, das Krebswachstum zu verlangsamen sowie Schmerz und andere Symptome zu lindern.

Seit etwa 50 Jahren leitet man bei fortgeschrittenem Prostatakarzinom auch eine Hormonbehandlung ein. Sie basiert auf der Entdeckung von Charles B. Huggins von der Universität Chicago (Illinois), daß männliche Geschlechtshormone – Androgene – das Wachstum dieser Tumorart merklich beschleunigen können und umgekehrt ihr Entzug es zu verzögern vermag; der kanadische Mediziner erhielt dafür 1966 den Nobelpreis. Wirksam senken läßt sich der körpereigene Androgenspiegel durch eine operative oder eine chemische Kastration, also durch das Entfernen der Hoden (sie bilden 95 Prozent des Testosterons, des wichtigsten männlichen Geschlechtshormons) oder mittels verschiedener Medikamente, beispielsweise auf der Grundlage des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen; sie beeinflussen Wirkung oder Bildung von Androgenen. Allerdings werden fast alle metastasierenden Tumoren irgendwann resistent gegen die Hormontherapie – dann schreitet das Leiden schnell fort. Gewöhnlich sterben Patienten innerhalb von zwei bis fünf Jahren, nachdem bei ihnen Metastasen entdeckt worden waren.

Die meisten amerikanischen Ärzte betrachten die in den USA üblichen Standardstrategien gegen die Erkrankung in den Stadien C und D weiterhin als im Grundsatz zweckmäßig. Hingegen sind sich die Experten zunehmend uneins darüber, wie in den Stadien A und B am besten vorzugehen sei und ob Reihenuntersuchungen zur Früherkennung befürwortet werden dürften. Immerhin ist die radiologische wie auch die operati- ve Behandlung des Prostatakarzinoms selbst wieder mit Risiken verbunden: Impotenz, Harninkontinenz und Verletzungen der Blase können die Folge sein, im Extremfall der Tod. Die veröffentlichten Statistiken variieren, doch insgesamt sind Komplikationen bei älteren Patienten häufiger als bei jüngeren (siehe Kasten Seite 44).

In dieser Hinsicht bessere Ergebnisse kann eine spezielle Operationstechnik erzielen, sofern ein darin sehr erfahrenes Team sie praktiziert. Das Verfahren, in den frühen achtziger Jahren von Patrick C. Walsh an der Medizinischen Fakultät der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) entwickelt, wird inzwischen in vielen medizinischen Zentren angewandt. Dabei vermeidet der Chirurg das Durchtrennen zweier Bündel aus Nerven und Blutgefäßen, die der Oberfläche der Prostata anliegen und zur Erektion erforderlich sind (Bild 2). Dadurch wird auch die Blutungsgefahr verringert, und die Harnröhre läßt sich leichter wieder mit der Blase verbinden, wenn sie während der Operation durchtrennt wurde.


Operieren oder Abwarten?

Die Befürworter der Vorsorgeuntersuchung und der möglichst frühen Behandlung bei einem Krebsbefund sind sich der ernsten Risiken eines aggressiven, aber eventuell heilenden Vorgehens durchaus bewußt. Auch sie verkennen nicht, daß ein schmerzlos bleibender Tumor, der nicht unbedingt einer Behandlung bedarf, nicht vorab definitiv von einem künftig fortschreitenden zu unterscheiden ist. Aber sie sind der Ansicht, daß der Gruppe mit der besten Chance, dem schlimmen Leiden einer metastasierenden Krebserkrankung zu entgehen, auch die Gelegenheit dazu gegeben werden muß. Und das sind eben Patienten mit einer kleinen, auf die Vorsteherdrüse beschränkten Geschwulst, die keine Beschwerden macht. Um krankhafte Veränderungen dieses Stadiums zu finden, so wird argumentiert, bedarf es eben der Reihentests.

Doch selbst Befürworter einer aggressiven Frühtherapie sind sich wegen der Kosten und Risiken uneins, welche Altersgruppen in die Früherkennung und Sofortbehandlung einbezogen werden sollten. Einige würden Männer von mehr als 70 Jahren ausnehmen, weil sie der Statistik nach wahrscheinlich aus anderen Gründen sterben werden, bevor ihre Tumoren so weit gewachsen sind, daß sie ernsthafte Probleme verursachen. Andere wollen flexibler vorgehen und meinen, auch ältere Männer sollten getestet und behandelt werden, sofern sie ansonsten bei guter Gesundheit sind.

Die meisten Vertreter einer im Frühstadium ansetzenden invasiven Therapie (und sogar einige, die an ihrem Nutzen zweifeln) würden dagegen vorzugsweise Patienten zwischen 40 und 60 Jahren behandeln, einschließlich solcher mit noch gut differenzierten, mikroskopisch kleinen Krebsherden. Erstens sprechen einige statistische Befunde dafür, daß Prostatakrebs bei Jüngeren gefährlicher ist. Zweitens ist für diese Altersgruppe selbst bei einem langsam wachsenden Tumor das Risiko recht hoch, daß sie seine Fortentwicklung und Metastasierung noch erlebt.

Nun geht es aber nicht nur um generelle Strategien, sondern immer auch um individuelle Schicksale. Einer meiner Patienten am Dana-Farber-Krebsinstitut der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) würde wohl den Behandlungsbefürwortern beipflichten. Im Alter von 72 Jahren wurde bei ihm ein Prostatakarzinom diagnostiziert, nachdem sein PSA-Wert in zwei Tests in einjährigem Abstand leicht erhöht gewesen war. Die Gewebeprobe deutete auf eine einzelne Gruppe Krebszellen. Vielen ergänzenden Untersuchungen nach, darunter einer Lymphknotenbiopsie, gab es mutmaßlich keine Metastasen. Weil der Mann aber den Krebs loswerden wollte, wurde ihm die Prostata entfernt. Von der Operation erholte er sich im wesentlichen ohne Zwischenfälle. Obwohl er vorher noch im gewissen Maße sexuell aktiv gewesen und, als ich ihn zuletzt sah, nicht wieder potent war, blieb er mit seiner Entscheidung zufrieden.

Dennoch könnte man argumentieren, dieser Patient hätte niemals behandelt werden sollen. Gegner der Frühtherapie sind besorgt über die Zahl der Radikaloperationen (viele davon bei Männern über 70 Jahren), die sich in den USA zwischen 1984 und 1990 fast versechsfacht hat. Sie führen an, es sei noch immer nicht erwiesen, daß eine solch aggressive Behandlung im Frühstadium der Erkrankung die Entwicklung von Metastasen verhindere und insgesamt Leben rette. In vielen Fällen würden sich in der verbleibenden Lebenszeit auch ohne ein Eingreifen keine Metastasen in den Knochen bilden, so daß die Therapie zu viele Männer zu Impotenz, Harninkontinenz und anderen Behinderungen verurteile. Sie behaupten sogar, daß selbst bei Heilung die Nebenwirkungen der Behandlung oft den Vorteil gewonnener Lebensjahre zunichte machten. Deswegen sehen sie auch entsprechende Vorsorgeuntersuchungen bei symptomfreien Männern als unnötig und als Geldverschwendung an. (In der Bundesrepublik hatte vor etlichen Jahren der Chirurg Julius Hackethal eine andersgeartete, öffentlich ausgetragene Kontroverse mit der These ausgelöst, allein schon das druckvolle Abtasten bei Vorsorgeuntersuchungen sowie die Entnahme von Gewebeproben machten aus dem "Haustier-" leicht einen "Raubtierkrebs", indem die Manipulation die Absiedlung von Tumorzellen fördere.)

Besorgt sind die Skeptiker des weiteren wegen möglicher psychischer Probleme infolge von Komplikationen. Ein Beispiel bietet ein anderer meiner Patienten. Der Geschäftsmann, sexuell aktiv, unterzog sich mit 51 Jahren einer radikalen Prostatektomie, einer Ausschälung der eigentlichen Drüse unter Erhaltung der anliegenden Nerven, nachdem verschiedene Untersuchungen mikroskopische, über das ganze Organ verteilte Krebsherde ergeben hatten (Stadium A2). Nach dem Eingriff wartete er sehnlich darauf, die Erektionsfähigkeit wiederzuerlangen, denn er wußte daß bei dieser Operationstechnik ungefähr 70 Prozent der Männer seiner Altersklasse binnen eines Jahres wieder potent werden, die auch vorher aktiv waren.

Das aber war bei ihm selbst nach 18 Monaten nicht der Fall. Äußerst betroffen versuchte er es mit gefäßerweiternden Substanzen, die in den Penis injiziert werden – mit mäßigem Erfolg. Trotz Beratung erlitt er Anfälle schwerer Depression und verlor jeglichen Elan, seine Geschäftsinteressen weiter zu verfolgen. Er erwägt nun, sich eine versteifende Penisprothese einsetzen zu lassen, und zweifelt, ob es richtig war, sich für die Operation zu entscheiden.

Drei neuere wissenschaftliche Studien werden oft als Argument gegen die invasive Behandlung von Männern angeführt, bei denen nur ein lokales Prostatakarzinom vorliegt. Die eine, 1992 veröffentlicht, stammt von Jan-Erik Johansson und seinen Kollegen vom Hospital des Medizinischen Zentrums Örebro (Schweden), bezog 223 solcher Patienten (im wesentlichen im Stadium A oder B) ein, die zum Zeitpunkt der Diagnose im Schnitt 72 Jahre alt waren. Ihr Zustand wurde sorgsam überwacht, und nur beim Auftreten von Problemen mit dem Wasserlassen oder anderen Beschwerden wurde schonend therapiert (beispielsweise die Prostata über die Harnröhre verkleinert). Wenn die Tumoren metastasierten, begannen die Ärzte mit einer Hormontherapie. Nach zehn Jahren waren von den 223 Patienten 124 gestorben, aber nur 19 (8,5 Prozent der Ausgangsgruppe) an dem Krebs. Die Überlebensrate war vergleichbar denen, die für Gruppen aggressiv behandelter Patienten typisch sind.

Eine weitere Studie, die sich zugunsten einer solchen abwartenden Vorgehensweise anführen läßt, veröffentlichte 1993 das Team von Craig Fleming von der Gesundheitswissenschaftlichen Universität von Oregon in Portland, das speziell den Verlauf von Prostatakrebs verfolgt; die Mitglieder gehören verschiedenen medizinischen Zentren an. Als erstes sichteten die Forscher die Fachliteratur auf Angaben über Behandlungsergebnisse. Diese verglichen und analysierten sie, um Risiko und Nutzen einer Therapie von Männern über 60 Jahren abzuschätzen. Ihre Frage war gezielt, ob der Vorteil eventuell gewonnener Lebensjahre bei Behandlung von Tumoren in den Stadien A und B durch den Nachteil geminderter Lebensqualität zunichte gemacht würde.

Bei Patienten mit noch gut differenzierten Tumoren, so die Schlußfolgerung, ist eine Behandlung wenig vorteilhaft gegenüber der abwartenden Überwachung. Für Patienten mit mäßig oder schlecht differenzierten Tumoren könnte sie sich unter Umständen lohnen – in einigen Szenarios brachte sie bis zu dreieinhalb gute Lebensjahre, nach anderen hingegen keinerlei Nutzen. Männer ab Mitte 70 profitieren hingegen wahrscheinlich nicht von einer Bestrahlung oder einer radikalen Prostatektomie im Vergleich zur bloßen Überwachung.

Für die dritte, Anfang 1994 erschienene Studie hat Gerald W. Chodak von der Universität Chicago zusammen mit vielen Mitarbeitern Daten aus sechs Untersuchungen analysiert, bei denen Männer mit lokalem Prostatakrebs (wiederum vorwiegend der Stadien A und B) keine Soforttherapie erhalten hatten. Im Vergleich dazu kann zwar zehn Jahre nach einer aggressiven Behandlung die Mortalitätsrate niedriger ausfallen, doch scheint der Unterschied gering zu sein. Wie die Studie ferner vermerkt, kann eine aggressive Behandlung "eine beträchtliche unerwünschte Auswirkung auf die Lebensqualität haben".

Die Ergebnisse dieser drei Studien sind zwar provokant, aber ernstlicher Unzulänglichkeiten wegen noch längst nicht endgültig. Die schwedische Gruppe hat zum Beispiel nicht alle ihre Patienten rein zufällig ausgewählt. Viele wurden deshalb einbezogen, weil sie gut differenzierte Tumoren hatten. Überdies waren unverhältnismäßig viele Teilnehmer ältlich oder schon an anderen lebensbedrohlichen Leiden erkrankt. Deshalb können die Schlußfolgerungen nicht ohne weiteres auf Männer übertragen werden, die mäßig oder schlecht differenzierte Prostatakarzinome haben, die jung oder sonst – bis auf ihren Krebs – gesund sind. Auch die Chicagoer Studie wurde kritisiert, weil sie überwiegend ältere Patienten erfaßte, was an ihrer Übertragbarkeit auf jüngere zweifeln läßt.

Die Schlußfolgerungen von Flemings Team sind ebenfalls problematisch. Zumindest einige der Patienten, die abwartend überwacht werden sollten, blieben in Wirklichkeit nicht unbehandelt: Sie erhielten bereits im frühen Stadium ihrer Erkrankung Hormonpräparate. Das ist zwar keine Standardstrategie für die Stadien A und B, aber eben nicht dasselbe wie keine Therapie. Es gibt sogar Anhaltspunkte dafür, daß Patienten von derart frühen Hormongaben profitieren. Zudem wurden nur sexuell aktive Männer in die Studie einbezogen; werden sie impotent, mindert das ihre Lebensqualität mehr als die ohnehin inaktiver Männer. Somit beeinflußte diese Beschränkung wahrscheinlich die Ergebnisse zuungunsten einer Behandlung. Und entsprechend ist der Vorteil, den das Team dem beobachtenden Abwarten zuschreibt, möglicherweise geringer als angegeben. Mithin könnte eine unkritische Interpretation der in dieser und ähnlichen Studien vorgestellten Ergebnisse viele Männer, die einer Behandlung bedürfen, dazu verleiten, sich für das beobachtende Abwarten zu entscheiden und dadurch ihre Chance auf eine Heilung zu vertun.


Problem PSA-Test

Gegen Reihenuntersuchungen mit dem Ziel einer frühen Erkennung und anschließenden Behandlung von lokalen Prostatakarzinomen wird auch der finanzielle Aufwand angeführt. Derzeit haben mutmaßlich mehr als zehn Millionen Amerikaner mikroskopisch kleine, also noch nicht tastbare Tumoren. Angenommen, man würde alle diese Männer innerhalb eines Jahres finden und behandeln; dann würde das bei Kosten zwischen 8000 und 11000 Dollar allein für die Strahlentherapie und 10000 bis 18000 Dollar für die Operation gewaltige Summen erfordern. Freilich ist es aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich, daß man all diese Männer erfaßt; beispielsweise würden sich die Reihenuntersuchungen vermutlich auf gewisse Altersklassen beschränken. Möglicherweise werden auch die Kosten der frühen Erkennung und Behandlung eines Prostatakarzinoms durch Einsparungen aufgewogen, die sich daraus ergeben, daß man der Metastasierung vorbeugt.

Wohl am bedeutsamsten für die Diskussion über praktische Maßnahmen ist, daß einigen Analysen zufolge der PSA-Test schmerzfrei bleibende Tumoren nicht ohne weiteres erfaßt. Millionen von Männern, in deren Prostata sich schon mikroskopisch kleine Krebsherde gebildet haben, könnten also gar nicht als erkrankt erfaßt werden. Indes hat William J. Catalona von der Medizinischen Fakultät der Washington-Universität in St. Louis (Missouri) Hinweise gesammelt, denen zufolge es sich bei ungefähr 90 Prozent der durch den PSA-Test entdeckten Tumoren entweder um diffuse oder um mäßig bis schlecht differenzierte Karzinome handelt – mithin um solche, denen man eine gewisse Gefährlichkeit attestiert. Dieser Befund ist einer genaueren Untersuchung wert, denn er impliziert, daß der Test fast durchweg Karzinome aufdecken dürfte, die ein Arzt laufend kontrollieren muß.

Solange nicht schlüssig feststeht, daß eine abwartende Überwachung eine sichere Alternative zur Behandlung darstellt, kann ich nicht guten Gewissens einem Patienten mit potentiell heilbarem Prostatakrebs von einem Eingriff oder einer Bestrahlung abraten. Bei einem älteren Mann mit einem Tumor im Stadium A1 würde ich vielleicht zunächst eine Überwachung erwägen und erst dann eingreifen, wenn ich einige Indizien dafür hätte, daß der Krebs aktiver wird. Aber ich sehe keinerlei Beweis dafür, daß nicht zu behandeln bei anderen Patienten mit lokalem Herd das ideale Vorgehen wäre; und ich teile mit meinen Patienten die Furcht, daß sie Knochenmetastasen bekommen.

Darum gehöre ich zu den Ärzten, welche die Screening-Empfehlungen der Amerikanischen Krebs-Gesellschaft für derzeit vernünftig halten. Demnach sollen Männer über 40 Jahren, die keine Symptome von Prostatakrebs aufweisen, einmal im Jahr rektal untersucht, Männer über 50 zusätzlich auf PSA getestet und Männer mit hohem Erkrankungsrisiko (solche etwa, in deren Familie Prostatakrebs gehäuft aufgetreten ist) schon in jüngeren Jahren in die Vorsorge einbezogen werden.

Dabei möchte ich allerdings betonen, daß das Nationale Krebsinstitut der USA in Bethesda (Maryland) lediglich eine Rektaluntersuchung für Männer über 40 Jahren empfiehlt und den Wert des PSA-Tests für Reihenuntersuchungen gegenwärtig zu bewerten sucht. Viele europäische Kollegen setzen sich nicht sonderlich für Routine-Vorsorgemaßnahmen ein. (In der Bundesrepublik ist die Krebsvorsorge allerdings schon seit Jahren gesetzlich geregelt; dazu gehört, daß alle männlichen Versicherten Anspruch auf eine jährliche Rektaluntersuchung auf Prostatakrebs haben – nur nimmt lediglich ein geringer Teil sie auch wahr.)

Obwohl ich im Prinzip für das Testen bin, halte ich es für wichtig, vorab über Nutzen und Risiken einer Behandlung aufzuklären: Bei Patienten, die erklären, sie würden sich im Falle einer lokalen Erkrankung nicht einer aggressiven Therapie unterziehen, könnte man gleich auf den Test zur Früherkennung solcher Stadien verzichten.


Die letzte Chance – Lebensverlängerung

Eine weitere, wenn auch weniger heftige Debatte betrifft das Für und Wider experimenteller Therapien bei Erkrankungen im Stadium D. Das Problem wird am besten wiederum durch die Erfahrung eines meiner Patienten illustriert. Im Alter von 65 Jahren stellte man bei ihm einen weit ausgedehnten Prostatakrebs fest. Das war 1987, und damals bestand die empfohlene Standardtherapie darin, beide Hoden zu entfernen beziehungsweise entweder das synthetische Östrogen-Derivat Diethylstilbestrol (DES) zu verabreichen oder neuere Wirkstoffe – Analoga des Releasing-Hormons LHRH. Es wird in einer bestimmten Hirnregion gebildet und regt in einer weiteren unter anderem die Freisetzung (englisch release) des luteinisierenden Hormons (LH) an, das beim männlichen Geschlecht die Bildung von Testosteron in den Hoden stimuliert; Testosteron wie auch Östrogene drosseln die Ausschüttung von LHRH, während die verwendeten Analoga die Rezeptoren für LHRH hemmen (siehe Kasten auf Seite 46). Meine Mitarbeiter in verschiedenen Institutionen und ich hatten kurz zuvor nachgewiesen, daß LHRH-Analoga genauso effektiv sind wie DES, aber geringere unerwünschte Nebenwirkungen haben.

Ich konnte meinem Patienten sogar eine vielversprechende, allerdings zu der Zeit erst experimentelle Therapie anbieten; die Kombination eines LHRH-Analogons mit einem unter dem Namen Flutamid geführten Antiandrogen, das sich damals in der Erforschung befand. Es verhindert, daß die männlichen Keimdrüsenhormone (die Androgene) an ihren Zielorganen, also auch in der Prostata, ihre Wirkung entfalten; weil es aber über den Hirnregelkreis zugleich die Produktion von Testosteron anregt, sollte es nur in Kombination mit chemischer oder chirurgischer Kastration eingesetzt werden. Nach damals vorherrschender Meinung brachten Kombinationen verschiedener Hormontherapien zwar keinen Zusatznutzen. Vorläufige Ergebnisse, in die ich eingeweiht war, sprachen indes dafür, daß die experimentelle Kombination sehr wohl die Überlebenszeit verlängern könnte. Ich konnte auch Zugang zu der Substanz und die Erlaubnis, sie klinisch zu erproben, erhalten.

Mein Patient wollte sich nicht die Hoden entfernen lassen und setzte all seine Hoffnungen auf die Kombinationstherapie. Zwischen April 1987 und Mitte 1991 bildeten sich seine Krebsgeschwülste nahezu völlig zurück. Wie bei jeder anderen Behandlungsform, die der Mann hätte wählen können, wurde er impotent. Er verlor auch sonstige sexuelle Regungen und suchte seltener die körperliche Nähe seiner Frau. Aber er schien diese Einbußen zu akzeptieren und blieb in allen anderen Bereichen voll leistungsfähig und produktiv. Die eheliche emotionale Bindung verstärkte sich sogar.

Dann wurde der Krebs resistent gegen die Hormonbehandlung. In seinen vier letzten Lebensmonaten litt der Patient an vielen Folgen der Erkrankung: unerträglich quälenden Knochenschmerzen, Gewichtsverlust und Muskelschwäche; er konnte nicht mehr gehen, und wegen der Narkotika, die er zur Schmerzlinderung brauchte, hatte er mit Verstopfung zu kämpfen. Er starb 54 Monate nach der Diagnose Krebs. Aber er hatte somit viel länger überlebt als die 18 bis 24 Monate, die (angesichts seiner fortgeschrittenen Erkrankung) zu erwarten gewesen wären, wenn er sich einer Standardtherapie unterzogen hätte.

Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit war das der experimentellen Behandlung zuzuschreiben. Sollten also alle Patienten im Endstadium Zugang zu neuen, vielversprechenden Behandlungsformen erhalten, ähnlich wie oftmals HIV-Infizierte, die bereits an AIDS leiden? Diese Frage ist weiterhin unter Ärzten, Pharmaunternehmen, Gesundheits- und Zulassungsbehörden und Patienten-Organisationen heiß umstritten.

Im Falle meines Patienten haben sich die ermutigenden vorläufigen Ergebnisse der Kombinationstherapie später bestätigt. Inzwischen ist sie amtlich zugelassen und wird vielfach angewendet. Genauso oft passiert es jedoch, daß sich eine zunächst vielversprechende Behandlung schließlich als nutzlos oder sogar als schädigend erweist.

Es hat auch seine Nachteile, wenn einzelne Patienten frühzeitig Zugang zu experimentellen Therapien bekommen, nur weil der behandelnde Arzt ihnen unbedingt helfen möchte. Dies könnte große Studien verzögern oder erschweren, bei denen die Probanden aus einer großen Zahl von Kranken zufällig ausgewählt werden und dann entweder die experimentelle oder die Standardtherapie erhalten; nur auf diese Weise aber lassen sich Sicherheit und Wirksamkeit der Verfahren vergleichen.

Die Entscheidung im individuellen Falle ist also nicht leicht. Wenn Patienten sterben, weil die verfügbaren Therapien nicht ausreichen, kann ein Arzt schwerlich ohne Ungeduld die Ergebnisse perfekt durchgeführter Studien abwarten. Es muß irgendein Kompromiß gefunden werden – etwa derart, daß die Aufsichtsbehörden in Übergangszeiten flexibel reagieren und daß Ärzte wie auch Patienten über vorläufige Ergebnisse auf dem laufenden gehalten werden. Außerdem sollten Pharmafirmen ermutigt werden, neu entwickelte Medikamente Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen verfügbar zu machen; zugleich muß sichergestellt sein, daß sie ihrerseits kontinuierlich Rückmeldungen über Wirksamkeit und Nebenwirkungen des Präparats erhalten.

Die Weigerung meines Patienten, sich die Hoden entfernen zu lassen, unterstreicht zusammen mit der Verzweiflung des anderen über seine Impotenz einen weiteren Mangel der gegenwärtigen Behandlungsmethoden von Prostatakrebs. Wie Frauen mit Brustkrebs nur allzu schmerzlich erfahren, wird unser medizinisches System den psychischen Auswirkungen von Schicksalsschlägen nicht sonderlich gerecht, welche die Persönlichkeit zuinnerst treffen, weil die Integrität des Körpers verletzt und das sexuelle Zusammenleben bedroht ist. Männer, die erwägen müssen, ihre Potenz zu opfern, um Lebensjahre zu gewinnen, sollten bestmögliche seelische Unterstützung bekommen.


Mehr Mittel zur Klärung offener Fragen

Bei den drei erwähnten Patienten handelt es sich um Weiße. Für männliche Schwarze stellen sich im Zusammenhang mit der Behandlung weitere Fragen. Schwarze US-Bürger sind das Kollektiv, in dem weltweit gesehen vermutlich am häufigsten Prostatakrebs auftritt, und die Wahrscheinlichkeit, daß sie daran sterben, ist doppelt so hoch wie bei weißen Amerikanern.

Viele Erklärungen wurden dafür vorgeschlagen, aber keine bestätigte sich. Einiges deutet darauf hin, daß junge männliche Schwarze (im College-Alter) einen höheren Androgenspiegel haben. Könnte er die Entstehung von Prostatakrebs fördern? Sterben schwarze Amerikaner häufiger (und schneller) daran, weil sie als Bevölkerungsgruppe weniger Zugang zur Gesundheitsversorgung haben als Weiße oder weil sie später medizinische Hilfe suchen, wenn also ihre Erkrankung schon fortgeschritten ist? Oder ist bei ihnen das Prostatakarzinom einfach virulenter, beziehungsweise spricht es weniger auf eine Therapie an? Sollten diese Männer zudem seltener von ihrem Arzt angeboten bekommen, erst in der Erforschung befindliche Therapien auszuprobieren? Diese Fragen müssen beantwortet werden, und zwar bald.

Prostatakrebs stellt uns somit vor komplexe Probleme medizinischer Behandlung. Beinahe alle dürften noch geraume Zeit strittig bleiben, bis verläßliche Erkenntnisse zu ihrer Lösung zusammengetragen sind. Sowohl staatliche als auch private Fonds für die Gesundheitsfürsorge sollten deshalb der Erforschung von Prostatakrebs größere Priorität einräumen. Im Steuerjahr 1994 hat das Nationale Krebsinstitut der USA schätzungsweise etwa 40 Millionen Dollar für solche Projekte vorgesehen – 26 Millionen mehr, als 1991 ausgegeben wurden. Dennoch reicht der Betrag bei weitem nicht aus. (Zum Vergleich: Mehr als 250 Millionen Dollar werden voraussichtlich dieses Jahr in den Vereinigten Staaten für die Erforschung von Brustkrebs ausgegeben, der 1994 etwa 46000 Amerikanerinnen das Leben kosten dürfte.)

Auch die Ursachen von Prostatakrebs müssen viel eingehender erforscht werden, damit sich Methoden zu seiner Verhütung entwickeln lassen. Wichtig ist des weiteren, jene Faktoren zu identifizieren, die einen ruhenden Krebs nur bei einigen Individuen zu schnellem Wachstum anregen. Deren Kenntnis und die Identifizierung der molekularen Veränderungen, die den Übergang zu aggressivem Wachstum ankündigen und begleiten, könnten Ärzten bei der Erkennung von Patienten behilflich sein, die wohl von einer energischen Therapie profitieren würden.

Ferner benötigen die Ärzte Möglichkeiten, mikroskopische Metastasen aufzuspüren, damit sie die Behandlung bestmöglich am jeweiligen Stadium der Erkrankung ausrichten können. Auch die Ursachen für die sich entwickelnde Resistenz gegen eine Hormonbehandlung ist zu klären, damit man Patienten mit Metastasen länger und bei besserer Gesundheit am Leben halten kann.

Ebenso muß die klinische Forschung ausgedehnt werden. Die einzige Möglichkeit zu entscheiden, ob ein Massen-Screening auf Prostatakrebs sinnvoll ist, ob die Vorteile der aggressiven Therapie die Risiken überwiegen und ob Operation und Bestrahlung des Prostatakarzinoms gleichermaßen effektiv sind, bieten breit angelegte Langzeituntersuchungen, in denen vergleichbare Patienten nach Zufallskriterien (randomisiert) verschiedenen experimentellen Verfahren zugeteilt werden. Das Nationale Krebsinstitut der USA beginnt gerade mit klinischen Studien, um einige dieser Fragen anzugehen; aber weitergehende Forschungsarbeiten sind vonnöten.

Man sollte auch gewissen Hinweisen nachgehen, daß die Hormontherapie das Leben von Patienten verlängern kann, deren Prostatakrebs erst winzige, noch keine Symptome verursachenden Metastasen erzeugt hat. Parallel zu solchen Studien müssen neue Behandlungsansätze breiter erforscht werden.

Nur mit einer angemessenen Finanzierung wird ein wohlfundierter Konsens zu erreichen sein, der die anhaltenden Debatten besiegelt und letztlich dem allen gemeinsamen Ziel dient, Überlebenszeit und Lebensqualität für Männer mit Prostatakrebs spürbar zu verbessern.

Literaturhinweise

- Das Prostatakarzinom. Empfehlungen für eine standardisierte Diagnostik, Therapie und Nachsorge. Herausgegeben vom Onkologischen Arbeitskreis Heidelberg/Mannheim. Schriftenreihe des Tumorzentrums Heidelberg/Mannheim, 1. Auflage, November 1992.

– National Cancer Institute Roundtable on Prostate Cancer: Future Research Directions. Von Andrew Chiarodo und anderen in: Cancer Research, Band 51, Heft 9, Seiten 2498 bis 2505, Mai 1991.

– High 10-Year Survival Rate in Patients with Early, Untreated Prostatic Cancer. Von Jan-Erik Johansson und anderen in: Journal of the American Medical Association, Band 267, Heft 16, Seiten 2191 bis 2196, April 1992.

– Prostate Cancer: Screening, Diagnosis, and Management. Von Marc B. Garnick in: Annals of Internal Medicine, Band 118, Heft 10, Seiten 804 bis 818, Mai 1993.

– A Decision Analysis of Alternative Treatment Strategies for Clinically Localized Prostate Cancer. Von C. Fleming und anderen in: Journal of the American Medical Association, Band 269, Heft 20, Seiten 2650 bis 2658, Mai 1993.

– The Prostate-Cancer Dilemma. Von Charles C. Mann in: Atlantic Monthly, Band 272, Heft 5, Seiten 102 bis 118, November 1993.

– Results of Conservative Management of Clinically Localized Prostate Cancer. Von Gerald W. Chodak und anderen in: New England Journal of Medicine, Band 330, Heft 4, Seiten 242 bis 248, Januar 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 38
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