Das Bewußtsein. Multidimensionale Entwürfe
Dieser Sammelband, in dem die Vorträge eines interdisziplinären Seminars an der Universität Wien zusammengefaßt sind, enthält eine begrifflich recht heterogene Reihe von Abhandlungen zum Thema Bewußtsein, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort freimütig zugestehen. Dies gründet in erster Linie darin, daß die Autoren den Problemkomplex von den verschiedensten Fächern her aufrollen.
In den einleitenden, mehr philosophisch orientierten Aufsätzen fühlt sich Erhard Oeser vom Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung zwar verpflichtet, auf das Rücksicht zu nehmen, was man heute im angelsächsischen Raum Neurophilosophie und Neuroepistemologie nennt und was durch die Arbeiten von Paul und Patricia Churchland auf ein hohes intellektuelles Niveau gehoben wurde (Spektrum der Wissenschaft, März 1990, Seite 47). Aber die übrigen Autoren schließen kaum an diese Vorgabe an, sondern vertreten so ziemlich das gesamte Spektrum der Positionen, die üblicherweise diskutiert werden, wenn es um das Verhältnis von Bewußtsein und materieller Welt geht.
Der Spielraum der Standpunkte reicht von einer spiritualistisch orientierten Physik, in der sogar die Dialektik zum Verständnis des Bewußtseins herangezogen wird (Herbert Pietschmann), bis zu dem eines Psychiaters, der die These des kosmischen Bewußtseins verteidigt, in dem die individuellen Bewußtheiten der einzelnen Menschen nur spezielle Ausprägungen seien (Gerhard Langer).
Die Beiträge sind von unterschiedlicher Lesbarkeit und Verständlichkeit. Rainer Maderthaner bemüht sich als Psychologe um eine begriffliche Klärung dieses molluskenartigen, schwer zu fassenden Terminus, und aus der Perspektive der Biologie versucht Rupert Riedl, die evolutionären Bedingungen der Entstehung von Bewußtsein zu fassen. Eine eindrucksvolle Dokumentation der Rekonstruktionsbemühungen der paläoanthropologischen und archäologischen Forschung liefert Eike-Meinrad Winkler, dessen Arbeit auch einen breiten Überblick über die heutige Literatur zur Entstehung von kulturellem Bewußtsein liefert. Franz Seitelberger gibt einen klaren Abriß der neuroanatomischen Grundlagen des Gehirnaufbaus, der dem Einsteiger in die philosophischen Reflexionen über das Bewußtsein sehr empfohlen werden kann.
Besonders beeindruckt hat mich die Abhandlung von Wolfgang M. Schleidt über das Bewußtsein von Tieren, ein wenig erforschtes und durch weltanschauliche Vorurteile lange tabuisiertes Thema. Einer Analyse der Entwicklung des Bewußtseins im magischen Denken (Elfriede Maria Bonet) folgt eine instruktive Darstellung der kognitiven Ontogenese des Menschen (Adolf Heschl), die an das Modell des Entwicklungspsychologen Jean Piaget anschließt. Überlegungen zum Verhältnis von Sozialsystem und Bewußtsein (Leopold Rosenmayr) sowie zum Einfluß der Medien auf die Bewußtseinsentwicklung (Alfred Payrleitner) beschließen den Band.
Rundherum betrachtet kann diese Studie zum Bewußtsein guten Gewissens dem Leser empfohlen werden. Daß man sich bei diesem Themenkomplex weder auf eine gemeinsame Terminologie noch auf eine Interpretationslinie einigen konnte, war wohl zu erwarten. Für denjenigen, der nur gezielte Einzelinformationen bei einigen Autoren abrufen möchte, haben die Herausgeber zwei ausführliche Register angefügt, die den Zugriff zu den Schlüsseltermen wesentlich erleichtern.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 125
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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