Direkt zum Inhalt

Das frühe Nordamerika. Archäologie eines Kontinents


Daß Wikinger, von Grönland kommend, 500 Jahre vor Christoph Kolumbus Amerika entdeckten, ist längst nicht mehr nur umstrittene Überlieferung der isländischen Heldensagas; man kann heute sogar ihre Überwinterungsstation L'Anse aux Meadows im unwirtlichen Neufundland als Beleg vorweisen. Die frühen spanischen Eroberer, die sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Florida, Georgia und ins Mississippi-Tal vorwagten, sind zwar ebenfalls jämmerlich zugrunde gegangen, aber spurlos verschwunden sind auch sie nicht: Ein Kettenhemd, ein Helm, Indianerskelette mit Verletzungen von spanischen Schwerthieben sind Zeugen ihrer dortigen Anwesenheit und ihrer Kämpfe mit Ansässigen.

Ein bisher wenig beachteter Fortschritt der Archäologie Nordamerikas wird hier sichtbar: Nicht nur die indianische Vorgeschichte, sondern auch die Frühgeschichte der europäischen Landnahme ist Gegenstand der Bodenforschung geworden und ergänzt unser Wissen aus schriftlichen Quellen aufs glücklichste.

Den Kern von Brian M. Fagans Buch macht aber die fast 15000jährige Geschichte indianischer Besiedlung aus. Sinnvoll gliedert er seine Darstellung nach den großen Zeitabschnitten: paläoindianische Periode, Archaikum, prähistorische Periode und protohistorische Periode – Ausdrücke, die inhaltlich ungeschickt gewählt sind, sich aber in der Forschung durchgesetzt haben. Der Paläoindianer, zunächst unsteter Großwildjäger der abklingenden Eiszeit, begegnet uns fast nur durch die Steinspitzen seiner Jagd- und Angriffswaffen und gelegentlich in den Schlachtplätzen des erlegten Großwildes: Altbison und Mammut. Seine Kultur war noch über den ganzen Kontinent einheitlich, und so gilt das von Fagan ausgebreitete Panorama für ganz Nordamerika bis nach Mexiko.

Der Autor, Anthropologe an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, ergänzt diese Zeitdimension für die späteren Perioden mit einer natur- und kulturräumlichen Gliederung, die freilich zur Vereinfachung etwas von der in Fachkreisen üblichen abweicht. In der archaischen Periode entstehen in enger Anpassung an die Naturgegebenheiten verschiedene Kulturräume: die großen kontinentalen Grassteppen, der arktische, baumlose Norden, die zerklüftete und fjorddurchzogene pazifische Westküste, der aride und von kontinentalem Klima gekennzeichnete intermontane Raum zwischen westlicher Kordillere und den Rocky Mountains sowie das östliche Waldland. Für jeden dieser Großräume schildert Fagan die Kulturentwicklung für die anschließenden Perioden bis zur europäischen Landnahme. Diese Gliederung leuchtet ein, da wir heute (gewiß durch unsere eigenen Umweltprobleme beeinflußt) dazu neigen, der natürlichen Umwelt eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung von Kulturen zuzuweisen.

Kulturelle Höhepunkte allerdings und erklärungsheischende Kulturverläufe bilden sich vermehrt erst in den späten Phasen ab 500 heraus. Das zeigt eindringlich, wie der amerikanische Mensch, spät zwar im Vergleich zu dem der Alten Welt, sich schließlich zunehmend von Umweltzwängen freigemacht und selbst – nicht immer zu seinem eigenen langfristigen Vorteil – gestaltend in die Natur eingegriffen hat.

Das Chaco-Phänomen ist da ein immer noch unbegreiflicher Fall: Mitten im ariden, durch unsichere Wasserversorgung charakterisierten und winters erbärmlich kalten Hochland von New Mexico bildete sich um 1300 auf einem bescheidenen Bevölkerungssubstrat eine dicht siedelnde Großgemeinschaft mit kompakten Dörfern (Pueblo Bonito) und rätselhaften Fernstraßensystemen heraus. Man holzte rigoros die Bergwälder ab, um für den Hausbau Deckenbalken zu gewinnen. Knapp 200 Jahre später machte eine Dürreperiode diesem Siedlungsraum bereits ein rasches Ende. Die Bevölkerung wanderte in günstigere Habitate nach Süden aus. Dort sind die uns heute vertrauten Pueblo-Kulturen der Hopi und der Zuni ihre Nachkommen.

Interessant, doch weniger wegen der Verständnisprobleme als wegen der vorzüglichen Erhaltung, ist auch die Walfangsiedlung Ozette an der pazifischen Nordwestküste. Sie ist ähnlich gut erhalten wie Pompeji und Herculaneum, nur wurde sie nicht durch Bedeckung mit Vulkanasche, sondern durch einen Bergsturz konserviert. Man hat sie erst vor wenigen Jahren ausgegraben und kam zu dem Schluß, daß sie den Alltag und das Dorfleben dieser Küsten-Indianer im Jahre 1510 dokumentiert. Dadurch gewann die Forschung eine einmalige Chance, die Kultur dieser Küstenregion, die ethnographisch erst im 19. Jahrhundert nach tiefgreifenden Verformungen durch europäische Händler und Fischer dokumentiert wurde, in einem unverfälschten Zustand zu erfassen und somit besser abzuschätzen, was tradiert und was durch europäischen Einfluß verändert, erzeugt oder stimuliert wurde. Hier sehen wir ein hervorstechendes Merkmal der amerikanischen Archäologie, das sich durch das ganze Buch zieht: die gegenseitige Erhellung von Ethnographie und Archäologie, um eine lückenlose und inhaltsreiche Kulturgeschichte des Kontinentes zu rekonstruieren.

Im östlichen Waldland fasziniert dann wieder eine verschwundene Großkulturtradition im Gebiet der östlichen Mississippi-Zuflüsse. Sie erreichte in Hopewell ihre erste Blüte und ist wegen ihrer phänomenalen, gelegentlich tierförmigen Erdbauten (Cahokia bei Saint Louis ist der größte), ihrer komplexen Rituale und ihrer hohen technischen Fähigkeiten (chemische Ätzung als Gravierverfahren) sowie der exotischen Materialien ein Höhepunkt der nordamerikanischen Kulturentwicklung – und ein Rätsel, das immer wieder intensiven Handel und Kulturkontakt mit den Hochkulturen Mexikos anzunehmen nahelegt.

Fagan schildert diese bedeutenden Ergebnisse der amerikanischen Archäologie so lebhaft und bringt sie sachlich auf den Punkt, daß er sich der Anekdoten über Ausgrabungen und Ausgräber enthalten kann. Er hat damit und auch, weil er sich nicht zum Vorreiter einer Theorie macht, ein Sachbuch im besten Sinne des Wortes geschrieben: Es dient der Sache und nicht der Profilierung ihres Autors. Die sorgfältige Ausstattung mit Photos, Graphiken, Rekonstruktionszeichnungen, Literaturverzeichnis und Register und nicht zuletzt die traditionelle Fadenheftung und der Leineneinband tun ein übriges, den Preis des Buches vergessen zu lassen. Wolfgang Müller, selbst Fachmann für amerikanische Indianerkulturen, hat eine vorzügliche und flüssige Übersetzung vorgelegt und auch die Bibliographie deutschen Bedürfnissen angepaßt. Niemand, weder interessierter Laie noch Fachstudent, ist entschuldigt, wenn er diese Einführung nicht liest!



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.