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Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie


Wann immer es heißt, eine Frage sei so alt wie die Menschheit selbst, ist das eine rhetorische Floskel. Wie alt schon ist die Menschheit, und wann hat sie begonnen, Fragen zu stellen?

Und dennoch: Es gibt uralte Fragen. Eine davon ist zweifellos die nach dem Ursprung unseres Bewußtseins, dem Ort, wo unsere Seele ihr Zuhause hat. Daß es das Gehirn ist, mit dem wir uns und andere lieben, mit dem wir hassen, se-hen, hören, denken und verstehen und uns – bald mehr, bald weniger – selbst begreifen, gilt heute als trivial. Aber wo im Gehirn und auf welche Weise der Geist sich regt, ist durchaus nicht trivial gefragt. Vielmehr sind es die Kernfragen, mit denen sich die Neuropsychologie beschäftigt und, fast möchte man meinen auf ewig, zu beschäftigen hat.

Alexander R. Lurija (1902 bis 1977) gilt als ein Begründer der moderneren Neuropsychologie. Die jetzt erschienene deutsche Fassung seines 1973 auf russisch veröffentlichten Werks öffnet auch dem Nichtfachmann, freilich eher dem wissenschaftlich gebildeten, Einblicke in das Räderwerk seelischen Erlebens.

Lurija studierte in der frühen Sowjetunion Sozialwissenschaften und Medizin, widmete sich während des Zweiten Weltkriegs als Sanitätsoffizier insbesondere den Hirnverletzungen und war danach Arzt am Moskauer Institut für Neurochirurgie. Er hatte damit beste Voraussetzungen, um anhand von Verletzungsfolgen oder krankhaften inneren Störungen des Gehirns die ansonsten weitgehend verborgenen normalen Hirnvorgänge zu erschließen.

Lurija wurde bald zu einer auch im Westen anerkannten Kapazität. Als zeitlos gültig finden noch heute so manche Teile seines Werkes allgemeine Anerkennung. Den Leser des vorliegenden Buches erwartet denn auch eine Fülle interessanter Befunde und konzeptioneller Überlegungen zu Funktionen des menschlichen Gehirns und ihren materiellen Grundlagen, die des Nach-Lesens und Nach-Denkens wert sind. Selbst der Fachmann wird von der Lektüre profitieren, indem er hier eine recht ausgewogene Darstellung von Beiträgen der sowjetischen und der internationalen Neurologen- und Psychologengilde bis hin zum Beginn der siebziger Jahre vorfindet.

Freilich, zwei Jahrzehnte sind mittlerweile seit der Originalpublikation vergangen. Wer sich über Positronen-Emissionstomographie oder EEG-Mapping, Neurocomputer, Spinglas-Theorie oder neokonnektionistische Ideen kundig machen will, muß zu neueren Büchern greifen. Auch sind zum Beispiel die Angaben zu den zellulären oder gar die zu den molekularen Grundlagen des Gedächtnisses heute so nicht mehr zu akzeptieren. Dennoch: Die Überlegungen und Argumente zur „funktionellen Organisation und psychischen Tätigkeit“ (Teil I), zu „lokalen Gehirnsystemen und deren Funktionen“ (Teil II) sowie zu „synthetischen psychischen Tätigkeiten und deren zerebraler Organisation“ (Teil III) sind nicht nur historisch interessant, sondern verdienen größtenteils noch vollen Respekt.

Der Band ist systematisch aufgebaut und entspricht von der Diktion her weit mehr einem Lehrbuch als einem unterhaltsam geschriebenen Sachbuch. Die 74 Abbildungen, allesamt nüchtern wirkende Strichzeichnungen, erleichtern den Umgang mit dem Text. Das Literaturverzeichnis mit mehr als 500 zitierten Arbeiten sowie ein Glossar, ein Personen- und ein Sachregister machen aus dem Buch ein Nachschlagewerk.

Übrigens muß der Leser keine Bedenken haben, politisch indoktriniert zu werden. Als Querdenker geriet der Autor am Ende der Stalin-Ära aus ideologischen Gründen ins Abseits und hatte es später – nun Vorzeigewissenschaftler des Staates und besser dran als die meisten seiner östlichen Zeitgenossen – nicht mehr ganz so nötig, parteifromme Sprüche zu klopfen. Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin jedenfalls finden sich im vorliegenden Buch nirgendwo zitiert.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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