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Das Gehirn. Wege zum Begreifen


Dieses Buch ist nicht als Lehrbuch geschrieben worden. Vielmehr will der Magdeburger Mediziner Gerald Wolf dem Leser eine "Wegskizze" durch das vielfältige, detailreiche Gebiet der Gehirnforschung anbieten.

Unter diesem Gesichtspunkt stellt er eine beeindruckende Fülle von Ein- und Ansichten zusammen, die so verschiedenartige Aspekte des Gehirns wie Bau, Funktion, stammesgeschichtliche Entwicklung (Phylogenese), individuelle Entwicklung (Ontogenese) und Erkrankung (Pathogenese) betreffen. Auch ein Kapitel über die historische Entwicklung der Gehirnforschung fehlt nicht. Mit Fragen nach den Grundlagen für Bewußtsein, Gefühle oder gar für die Seele werden schwierige und kontrovers diskutierte Bereiche mit einbezogen.

Es versteht sich von selbst, daß eine derartige Betrachtung den übergeordneten Standpunkt des Generalisten verlangt und dann auch über die Grenzen der Neurowissenschaften hinausreicht, bis hin zu Philosophie und Theologie. Nach so langer praktischer Erfahrung in der Gehirnforschung wäre es für den Autor sicherlich viel leichter gewesen, weitere spezielle Abhandlungen auf seinem eigenen Gebiet zu verfassen, als sich auf so sehr verschiedene, ihm fremde Gebiete zu wagen. Um so mehr verdient sein Mut Anerkennung. Es sollte auch nicht vergessen werden, daß diese umfangreiche Arbeit unter den sehr erschwerenden Bedingungen der politischen Wende in Ostdeutschland fertiggestellt worden ist.

Zuviel Kritik am Detail würde dem Ziel und dem Wert dieses Buches nicht gerecht. Trotzdem sind einige Schwächen nicht zu verschweigen: Im Vergleich zu dem sehr reichhaltigen Text, der viele Einzelbeispiele aufregender Forschungsbefunde aufführt und mit mehr als 400 Literaturzitaten belegt, erscheinen die Graphiken weniger überzeugend. Strichstärken, Texturen und vor allem Beschriftungen hätten, mit mehr Bedacht gewählt, das Wesentliche besser herausstellen können. Auch wenn eine Übersicht niemals alle Einzelheiten aufführen kann, bleibt doch zu fordern, daß nicht wesentliche und bahnbrechende Arbeiten übersehen werden. Zur Phylogenese und zur vergleichenden Untersuchung höchster Hirnleistungen bei Menschen und verschiedenen Tierarten zum Beispiel liegen umfangreiche Arbeiten von Bernhard Rensch aus Münster und seiner Schule vor, die dem Autor entgangen zu sein scheinen.

Gleichwohl bleibt das Buch eine Bereicherung. Vor allem beschreibt Wolf nicht nur die immer schon und immer wieder begangenen Wege: So erinnert er in den Kapiteln zur stammesgeschichtlichen Entwicklung der höchsten Hirnleistungen bis hin zu jenen des Menschen an den fast vergessenen, kaum verfolgten Forschungsansatz der Psycho-Phylogenese, auf den bereits Charles Darwin aufmerksam gemacht hatte. Ähnliches gilt für die Frage nach genetischen Ursachen für bestimmte Lernfähigkeiten (Begabungen). Auch die Feststellungen, daß trotz aller Anstrengungen die Hypothese "ein Transmitter – ein Verhalten" nicht bestätigt werden konnte und daß sogar andere physiologische Botenstoffe, zum Beispiel Sexualhormone, viel spezifischere Wirkungen auf das Gehirn entfalten können, weisen auf neue Wege hin. Und sicherlich treten bei aller Forschung über Einzelheiten bestimmter Gehirnvorgänge oftmals die vom Autor angestellten Überlegungen nach deren Bedeutung für das Ganze, zum Beispiel für das Bewußtsein oder die Erkenntnistheorie, zu weit zurück. Gerade die ungewohnten und deshalb manchmal herausfordernden Ansichten vermögen den Blick des Lesers auf neue Fragen und auch Erkenntnisse zu lenken. Dabei reicht die Betrachtung immer wieder weit über das einzelne Fachgebiet hinaus.

Eben weil das Werk kein Lehrbuch sein will und kann, bleibt zu hoffen, daß es bei Lesern ohne bisherige Kenntnis der Gehirnforschung gründliches Nachlesen in entsprechenden Fachbüchern anregt. Die Neugierde dazu vermag es mit Sicherheit zu wecken. Besonders reizvoll aber dürfte die Lektüre für jene sein, die auf den angesprochenen Einzelgebieten schon eigene Erfahrung haben.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1994, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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