Direkt zum Inhalt

Das große Buch des Allgemeinwissens - Natur. Ein umfassendes Nachschlagewerk über das Leben auf der Erde

Aus dem Französischen
von Christine Brenner
und Matthias Laier.
Das Beste, Stuttgart 1996.
864 Seiten, DM 139,90.

Das Wort "Natur" ist so viel- wie nichtssagend, daß der Naturwissenschaftler zögert, es anzuwenden. Der Untertitel sagt uns, was gemeint ist: Biologie im weiteren Sinne. Sie läßt sich unter dem modischen Titel offenbar besser verkaufen.

Das Buch zerstreut aber alsbald Bedenken, es handele sich um ein Sammelwerk von nutzloser Beliebigkeit. Es ist den anonymen Autoren und der Redaktion gelungen, dem facettenreichen Begriff weitgehend gerecht zu werden. Wir haben hier auf fast drei Kilogramm Papier das bewundernswert reichhaltige und umfassende Kondensat einer ganzen Bibliothek zu nahezu allen Themen, die mit Biologie etwas zu tun haben.

Wie man es sich von einer Gesamtdarstellung erhofft, ist diese systematisch geordnet, übersichtlich und über ein umfangreiches Inhaltsverzeichnis sowie ein gutes Register leicht erschließbar. Didaktisch geschickt ist die Idee, die historischen, philosophischen, künstlerischen, mythologischen und literarischen Aspekte des Sammelbegriffs Natur – wie auch viele weitere – in Form von Essays dem Leser nahezubringen. Die Unzahl naturwissenschaftlicher Einzelheiten wird auf diese Weise eingeordnet und kommentiert; sie erscheinen so als Bestandteil unserer menschlichen Kultur. Schade nur, daß selbst hier die Autoren nicht genannt werden, wo doch Meinungen und Sichtweisen einzelnen Personen zuzuordnen wären.

Nicht nur die Essays verlocken zum Lesen. Die einzelnen Themen werden in Form von Artikeln behandelt, die einen Gegenstand – zum Beispiel die durch die Landwirtschaft hervorgerufenen Veränderungen – ausführlich darstellen, dabei eine geschichtliche Perspektive bieten und schließlich dem Leser ein Urteil über die heutige Lage nahebringen.

Neugierig machen auch die zahlreichen, sorgfältig ausgewählten Illustrationen. Da sind aufregende Photos wie das von einem über Seelöwen (nicht -hunde) herfallenden Schwertwal, stimmungsvolle wie das von Akazien vor dem Abendhimmel Tansanias, technisch bewundernswerte wie die vom Flug einer Fledermaus, vor allem aber buchstäblich Tausende informativer Bilder, von der elektronenmikroskopischen Vergrößerung bis zur verdeutlichenden Zeichnung, der Graphik, die einen Prozeß oder eine Statistik erfaßbar macht, und dem Holzschnitt, der darstellt, worüber sich schon die Leser des Schweizer Naturforschers Conrad Gesner (1516 bis 1565) gewundert haben.

Beim Umfang der einzelnen Artikel jedoch stellt sich die Frage: Wieviel darf es denn jeweils sein? Wie ausführlich soll man informieren über Aufbau und Funktion der Zelle (sechs Seiten), über die Genetik (vier), das Immunsystem (drei), die Evolutionstheorien (vier) oder das Verhalten der Tiere (vier)? Ist es angemessen, gegenüber dieser Knappheit einen Großteil der letzten 300 Seiten – auf durchaus lobenswerte Weise – der Systematik der Pflanzen und Tiere zu widmen? Zwangsläufig wird der Spezialist sein eigenes Gebiet als benachteiligt empfinden; doch für den allgemeinen Leser kann die gebotene Kürze dem Verständnis dienlich sein.

Als Biologielehrer, der ein Semester lang bei der Vorbereitung von Kursen in Evolution, Stammesgeschichte und Geschichte der Naturwissenschaft häufig Stichproben genommen hat, kann ich bestätigen, daß die wichtigsten Probleme unserer Biosphäre angesprochen werden, daß man sich deutlich bemüht hat, jeweils den Zusammenhang darzustellen, und daß die Fehlerquote gering ist.

Einige Kleinigkeiten wären gleichwohl zu korrigieren. So endet die Naturphilosophie (Seite 133) nicht bei den alten Ioniern, auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) und seine Zeitgenossen dachten über sie nach. Edward O. Wilson und William D. Hamilton werden zwar erwähnt, nicht aber die Soziobiologie – obgleich es sich dabei um mehr als ein Modewort handelt. Auf Seite 468 wird der Leser durch einen richtigen und einen unrichtigen Pfeil verunsichert, was ein Phylum sei. Auf dem Kladogramm Seite 469 fehlen die im Text erwähnten Trilobiten, und mit Auslassungen kann man jedes Schema dieser Art schönen. Ernst Mayr ist, wie auf Seite 473 richtig angegeben, Amerikaner, wenn auch deutscher Abstammung, und nicht, wie auf Seite 805 behauptet, Deutscher. Mir fehlt ein neutrales, unbelastetes Wort für "Rasse" (Seite 449); unstreitig gibt es Varianten menschlicher Erscheinungsform, beruhend auf Genhäufungen in bestimmten Populationen. Die damit zusammenhängenden Anpassungen des menschlichen Körpers wären ein interessantes Thema.

Einige der Essays habe ich an meine Studenten weitergereicht. Die auftauchenden Namen, Stichwörter und gelegentlichen Quellenangaben liefern Anhaltspunkte, weiter zu suchen. Vor allem aber ist es mit diesem Sammelwerk gelungen, eine Wissenschaft unterhaltsam darzustellen. Französische Tradition, amerikanische Didaktik und deutsche Überarbeitung im Detail sind eine gelungene Synthese eingegangen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.