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Teilchenphysik: Das Innenleben des Protons

Nach acht Jahren Laufzeit des Speicherrings Hera in Hamburg - einer Art "Super-Elektronenmikroskop" - hat sich das Gesamtbild von der Struktur des Protons und der Naturkräfte erheblich erweitert.


Vier fundamentale Naturkräfte regieren die Welt, in der wir leben: die Gravitation, die elektromagnetische, die schwache und die starke Kraft. Die Gravitation lässt den Apfel vom Baum fallen und die Erde um die Sonne kreisen. Die elektromagnetische Kraft verbindet negativ geladene Elektronen und positiv geladene Atomkerne zu Atomen und sorgt für Strom aus der Steckdose. Die schwache Kraft ermöglicht die Erzeugung von Strahlungs- und Wärmeenergie durch Kernfusion in der Sonne sowie den radioaktiven Zerfall von Atomkernen. Die starke Kraft schließlich hält die elementarsten Bausteine der Materie zusammen: Sie bindet punktförmige Partikel – die so genannten Quarks und Gluonen – innerhalb der Protonen und Neutronen und verhindert, dass die Atomkerne infolge der gegenseitigen Abstoßung der Protonen auseinander fliegen.

Im täglichen Leben nehmen wir die Gravitation am unmittelbarsten wahr. In der Teilchenphysik hingegen, in der die Wechselwirkungen subatomarer Partikel untersucht werden, spielt sie kaum eine Rolle, weil sie weitaus schwächer ist als die anderen drei Grundkräfte.

Die elektromagnetische und die schwache Kraft sind inzwischen bestens verstanden. Alle gesicherten experimentellen Daten werden durch ein Ordnungsschema, das so genannte Standardmodell der Teilchenphysik beschrieben, in dem die bekannten Elementarteilchen zusammengefasst sind (siehe Kasten Seite 68). Bisher hat es alle Überprüfungen durch Präzisionsmessungen bestanden – auch die in diesem Artikel beschriebenen. Wir Physiker sind allerdings überzeugt, dass diese Theorie noch erweitert werden muss, da sie zu viele grundlegende Fragen offen lässt.

Die starke Kraft gibt uns besonders viele Rätsel auf:

- Wie setzt sich das Proton aus Quarks und Gluonen zusammen?

- Wie verändert sich die starke Kraft mit dem Abstand der Wechselwirkungspartner?

- Warum sind Quarks und Gluonen stets in Teilchen wie Protonen oder Neutronen eingeschlossen und können nicht als freie Partikel beobachtet werden?

- Haben die vier fundamentalen Kräfte vielleicht einen gemeinsamen Ursprung, wie die meisten Physiker vermuten, und können sie durch eine vereinheitlichte Theorie beschrieben werden?

Experimente mit Teilchenbeschleunigern, wie sie etwa an dem Speicherring Hera in Hamburg in den letzten acht Jahren durchgeführt wurden, tragen wesentlich dazu bei, Antworten auf solche Fragen zu finden.

Hera (eine Abkürzung für Hadron-Elektron-Ring-Anlage) ist der größte Teilchenbeschleuniger am Deutschen Elektronen-Synchrotron Desy in Hamburg. Die Anlage besteht aus zwei Beschleunigerringen mit einem Umfang von jeweils 6336 Metern, die in etwa 30 Meter Tiefe in einem Tunnel unter den Stadtteilen Bahrenfeld und Lurup aufgebaut wurden. Der eine Ring beschleunigt Elektronen (wahlweise auch deren Antiteilchen, die Positronen) auf eine Energie von 27,5 Gigaelektronenvolt (GeV, Milliarden Elektronenvolt), der andere Protonen auf eine Energie von 920 GeV.

Im Hochvakuum der beiden Speicherringe kreisen Elektronen und Protonen stundenlang in entgegengesetzter Richtung. Fast mit Lichtgeschwindigkeit durchfliegen sie ihren Rundkurs, etwa 47000-mal in der Sekunde, und werden in zwei Experimentierhallen frontal aufeinander geschossen. Dort befinden sich die Experimente namens H1 und Zeus – haushohe und mehrere tausend Tonnen schwere Nachweisgeräte, welche die Zusammenstöße zwischen den Partikeln und die Spuren der in den Kollisionen erzeugten Sekundärteilchen minutiös aufzeichnen. Von den vielen Tausenden solcher "Ereignisse", die jede Sekunde stattfinden, werden die interessantesten für die anschließende Auswertung gespeichert.

An jedem der Experimente, die seit 1992 in Betrieb sind, arbeiten etwa 400 Physiker aus 50 Instituten in 12 Ländern. Die Forscherteams analysieren die gewaltigen Datenmengen von vielen Billionen Bytes, um den Geheimnissen des Protons und der fundamentalen Kräfte auf die Spur zu kommen. Gegenwärtig wird Hera umgebaut mit dem Ziel, die Ereignisraten um das Fünffache zu erhöhen, den Spin der Elektronen zum Experimentieren verwenden zu können und die Detektoren zu verbessern. Im Herbst 2001 soll der Messbetrieb wieder aufgenommen werden.

Hera ist der erste und einzige Speicherring, mit dem so verschiedene Teilchen wie Elektronen und Protonen aufeinandergeschossen werden. Elektronen sind nach heutigem Verständnis punktförmig und tatsächlich "elementar", also nicht aus noch kleineren Bausteinen aufgebaut; ihre Wechselwirkungen sind bestens verstanden. Sie dienen als Sonden, mit denen die Struktur des viel schwereren, etwa 10–15 Meter großen Protons und die fundamentalen Kräfte abgetastet werden. Somit ergänzt Hera das Physikprogramm zweier weiterer großer Beschleunigeranlagen: des Elektron-Positron-Speicherrings Lep bei Genf und des Proton-Antiproton-Speicherrings Tevatron im Fermilab in der Nähe von Chicago (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, 9/1990, S. 92, und 5/1991, S. 64).

Die mit Hera verfügbare Teilchenenergie ist etwa zehnmal größer als bei bisherigen ähnlichen Untersuchungen von Protonen mit Elektronen oder Myonen (den schweren "Verwandten" der Elektronen). Hera ist also gewissermaßen ein "Super-Elektronenmikroskop", das den weltweit schärfsten Blick ins Proton ermöglicht – bis hinunter zu Strukturen, die 2000-mal kleiner sind als das Proton selbst: das sind 0,000 000 000 000 000 000 5 Meter. Auf dieser Größenskala können die Physiker nun auch die Kräfte zwischen Elektronen und Quarks untersuchen sowie diejenigen zwischen den Bausteinen des Protons – also zwischen den einzelnen Quarks sowie zwischen Quarks und Gluonen. Dies ist von unschätzbarem Vorteil: Denn je kleiner die Abstände sind, bei denen die Naturkräfte untersucht werden, desto weiter können wir Teilchenphysiker in Richtung Urkraft vordringen und zurück in die Entstehungsgeschichte des Universums blicken.

Teilchen ohne nachweisbare Ausdehnung

Das Standardmodell fasst den gesamten gesicherten Wissensstand der Teilchenphysik zusammen. Es beschreibt die Grundbausteine der Materie und die Regeln, die sie befolgen. Aus den Quarks und Leptonen – zu Letzteren gehört auch das Elektron – ist alle Materie aufgebaut. Die vier fundamentalen Kräfte zwischen den Teilchen werden durch Boten- oder Austauschteilchen vermittelt. Alle diese Partikel sind "punktförmig", was hierbei nichts anderes heißt, als dass selbst bei Experimenten mit höchster Auflösung keine Effekte gemessen werden können, die auf eine Ausdehnung der Teilchen zurückzuführen sind.

Die Stärke jeder der vier fundamentalen Kräfte wird durch Eigenschaften der Teilchen bestimmt, die man als verallgemeinerte Ladungen bezeichnen kann. Im elektromagnetischen Fall ist es die wohl bekannte elektrische Ladung, bei der Gravitation die Masse. Für die schwache und die starke Kraft fehlt uns die Alltagserfahrung; die Begriffe "schwache Ladung" und "Farbladung", welche die Physiker für diese Eigenschaften gewählt haben, bleiben also etwas abstrakt.

Diese verschiedenartigen "Ladungen" werden in unterschiedlichen Einheiten gemessen: die Masse beispielsweise in Gramm, die elektrische Ladung in Coulomb. Um die Kräfte direkt vergleichen zu können, verwenden die Teilchenphysiker jedoch anstelle der Ladungen dimensionslose Kopplungskonstanten. Auch hier gilt: je größer die Kopplungskonstante, desto intensiver die Abstrahlung von Botenteilchen und desto stärker die Kraft. Wie wir gleich noch sehen werden, handelt es sich dabei nicht im Wortsinne um Konstanten, da die Größen der Ladungen vom Abstand abhängen, bei dem sie gemessen werden.

Die Kopplungskonstante der elektromagnetischen Kraft ist den Physikern als Sommerfeldsche Feinstrukturkonstante bekannt. Ihren Wert hat man experimentell zu etwa 1/137 bestimmt. Da diese Zahl viel kleiner als Eins ist, gelingt es, die Gleichungen der Quantentheorie des Elektromagnetismus, der Quantenelektrodynamik (QED), zu lösen und präzise Vorhersagen für die elektromagnetischen Eigenschaften der fundamentalen Teilchen und ihrer Reaktionen zu machen. Die experimentellen Daten stimmen bis auf die zwölfte Stelle nach dem Komma damit überein. Somit ist die QED die am genausten überprüfte physikalische Theorie und das Muster für die Beschreibung aller Kräfte zwischen den Elementarteilchen.

Die Masse der Botenteilchen bestimmt wesentlich, wie die Kraft vom Abstand abhängt: Ist die Masse null wie beim Photon und dem Graviton – den Austauschteilchen der elektromagnetischen Kraft und der Gravitation –, ist die Reichweite unendlich. Deshalb kennen wir diese Kräfte auch aus unserer makroskopischen Welt im täglichen Leben. Die so genannten W- und Z-Bosonen, die Botenteilchen der schwachen Kraft, weisen etwa das Hundertfache der Protonenmasse auf. Deshalb ist die Reichweite der schwachen Kraft auf den hundertsten Teil des Protonendurchmessers begrenzt, also auf 2x10E–18 Meter.

Für die starke Kraft ist die Situation gänzlich anders. Deren Botenteilchen – die Gluonen – sind masselos; dennoch beträgt die Reichweite der starken Kraft nur etwa einen Protonenradius (10E–15 Meter). Der Wert der starken Kopplungskonstanten ist nämlich nur bei Abständen, die viel kleiner sind als der Protonenradius, so klein, dass wir das Bild einzelner Botenteilchen anwenden und die Gleichungen der Quantenchromodynamik (QCD) wie in der QED lösen können. Für größere Abstände wird die Kopplungskonstante durch Wechselwirkungen mit den farbgeladenen Gluonen so groß, dass es zum Beispiel unmöglich ist, eines der drei Quarks, aus denen das Proton besteht, aus seinem Verband zu lösen. Hier versagen auch die Rechenmethoden der QCD, und es ist bisher nicht gelungen, theoretisch die Fragen nach der Struktur des Protons oder nach dem "Eingesperrtsein" (dem so genannten confinement) der Quarks und Gluonen im Proton befriedigend zu beantworten. Um hier weiter zu kommen, sind wir zunächst auf experimentelle Untersuchungen angewiesen, wie sie bei Hera durchgeführt werden.

Wenn im Hera-Ring ein Elektron mit hoher Energie frontal auf ein Proton trifft, sendet es ein Botenteilchen aus, das mit den Bestandteilen des Protons in Wechselwirkung tritt. Vom Impuls (dem Produkt aus Masse und Geschwindigkeit), den das Botenteilchen dabei überträgt, hängt es ab, bis zu welchem Abstand die Kräfte untersucht werden können: je größer der Impulsübertrag, desto besser die räumliche Auflösung des Hera-Mikroskops. Die Energien der Elektronen- und Protonenstrahlen werden so gewählt, dass ein maximaler Impulsübertrag von 320 GeV/c und eine Auflösung von 5x10E–19 Meter erreicht wird. Damit ist das Auflösungsvermögen von Hera etwa fünfmal genauer als die Reichweite der schwachen Kraft.

Für jedes einzelne Ereignis lässt sich aus Energie und Winkel des gestreuten Elektrons der Impuls der Botenteilchen bestimmen. So wird bei Hera die Stärke der Kräfte direkt als Funktion des Abstandes gemessen.

Aus Energie und Impuls des Botenteilchens kann außerdem der Bruchteil des Protonimpulses bestimmt werden, den das streuende Quark besaß. Wegen der hohen Energie der Hera-Teilchenstrahlen können selbst Quarks mit dem winzigen Impulsanteil von 10E-5 mit einer Auflösung von 5x10E-16 Metern untersucht werden. Zuvor war dies nur bis zu Anteilen oberhalb von 10E-3 möglich. Hera eröffnete also auch hier den Blick in einen gänzlich neuen physikalischen Bereich.

Suche nach der Urkraft

Eine wesentliche Erkenntnis ergibt sich aus der Stärke der elektromagnetischen und der schwachen Kraft, die Hera als Funktion des Abstandes gemessen hat. Hiermit konnte direkt bestätigt werden, dass bei Abständen, die kleiner sind als die Reichweite der schwachen Kraft, beide Kräfte die gleiche Stärke aufweisen, und dass der Grund für die unterschiedliche Stärke bei größeren Abständen in den verschiedenen Massen der Botenteilchen liegt. Schwache und elektromagnetische Kraft sind demnach nur verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben Grundkraft. Diese experimentelle Bestätigung ist ein wichtiger Schritt zur "großen Vereinheitlichung" aller vier fundamentalen Naturkräfte.

Für den nächsten Schritt auf dem Weg zu dieser Vereinheitlichung gibt es bereits erste Hinweise: Extrapoliert man die gemessenen Stärken der elektroschwachen und der starken Kraft zu winzigen Abständen, so sollten sie bei dem unvorstellbar kleinen Wert von etwa 10E-29 Meter gleich groß werden. Allerdings werden die Physiker zu solch kleinen Abständen niemals experimentell vordringen können: Der erforderliche Teilchenbeschleuniger müsste die Ausmaße unseres gesamten Milchstraßensystems haben.

Deshalb sind hier die Theoretiker gefordert. Deren vielversprechendster Ansatz ist die so genannte Supersymmetrie. Diese Theorie sagt neue Teilchenfamilien voraus, deren Spuren mit der nächsten Generation von Teilchenbeschleunigern zu finden sein sollten. Hier setzen die Physiker ihre Hoffnung in den Large Hadron Collider (LHC), einen Speicherring für Protonen, der gegenwärtig am Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik Cern in Genf gebaut wird, und in Tesla, den in Hamburg geplanten Linearbeschleuniger für Elektronen und Positronen.

Aus der außergewöhnlichen Übereinstimmung der mit Hera gewonnenen Messdaten mit den Vorhersagen des Standardmodells können wir bereits folgende Schlüsse ziehen:

- Quarks und Elektronen sind offenbar tatsächlich Materiepunkte. Zumindest ist ihr Durchmesser nicht größer als ein Tausendstel des Protonendurchmessers, also etwa 10E-18 Meter. Sind wir damit vielleicht am Ende der Kette aus immer weiter teilbaren Materieteilchen angelangt, die vom Kristall über das Molekül, das Atom, den Atomkern und das Proton und Neutron bis schließlich zum Quark und Elektron reicht?

- Tausendfache des Protonenradius sind.

- Über die uns vertrauten drei Raumdimensionen hinaus kann es nicht mehr als drei zusätzliche Dimensionen geben, deren Ausdehnung mehr als 10E-18 Meter beträgt. Nach dem Umbau von Hera wird es mit der dann noch besseren Auflösung möglich sein, die Suche nach unbekannten Raumdimensionen bei noch kleineren Abständen fortzusetzen.

Brodelnde Quark-Gluon-Suppe

Zwar wird auch dann die Energie von Hera ganz und gar nicht ausreichen, die Vereinigung der elektroschwachen mit der starken Kraft nachzuweisen. Doch der Blick ins Innere des Protons verrät einiges über die Natur der starken Kraft. So konnten die Hera-Experimente H1 und Zeus die Stärke dieser Kraft zwischen den Quarks mit hoher Präzision vermessen und dadurch die starke Kopplungskonstante als Funktion des Abstandes bestimmen. Das von der QCD vorhergesagte starke Anwachsen bei großen Abständen wurde dadurch eindrucksvoll bestätigt.

Hier sei nur eine der verwendeten Messmethoden kurz beschrieben: Neben den Ereignissen, in denen das gestreute Elektron und ein vom gestreuten Quark erzeugtes Teilchenbündel vom Kollisionsort wegfliegen, findet man auch Ereignisse mit einem zusätzlichen Teilchenbündel. Dieses stammt von einem Gluon, dem Botenteilchen der starken Kraft, das in der Wechselwirkung abgestrahlt wird. Die Wahrscheinlichkeit für eine solche Abstrahlung eines Gluons ist direkt proportional zur starken Kopplungskonstanten, also zur Kraft zwischen den Quarks. Aus der Anzahl der beobachteten Ereignisse mit einem Gluon als Funktion des Impulsübertrags lässt sich die Abstandsabhängigkeit der starken Kopplungskonstante messen. Die Ergebnisse bestätigen quantitativ die Vorhersage der Quantenchromodynamik für Abstände zwischen 10E-16 und 10E-18 Meter.

Die Werte, die andere Messmethoden sowie Messungen in verschiedenen Teilchenreaktionen sowohl bei Hera als auch bei anderen Beschleunigern ergeben haben, stimmen hiermit überein. Dies stärkt das Vertrauen, dass die QCD die starke Kraft tatsächlich korrekt beschreibt.

Die Struktur des Protons präzise messen zu können – das war eine wesentliche Motivation für den Bau von Hera. Dieses Ziel haben die beiden internationalen Forscherteams der Experimente H1 und Zeus inzwischen erreicht. Die Messfehler liegen lediglich zwischen zwei und fünf Prozent, und dies bei Impulsen der Botenteilchen, die viele Größenordnungen überstreichen. Diese Messungen sind auf der Welt einzigartig.

Eine erste große Überraschung gab es im Bereich kleiner Impulsanteile der Quarks, in den Hera neu vorgestoßen ist: Dort steigt die gemessene Anzahl der Quarks und Gluonen im Proton dramatisch an. Das bedeutet anschaulich: Betrachtet man das Proton mit einer Brille, durch die sich nur solche Bestandteile erkennen lassen, die mehr als ein Prozent des Impulses des Protons tragen, so sieht man vor allem nur die drei Valenzquarks, die für die Ladung des Protons verantwortlich sind. Benutzt man hingegen eine Brille, die nur Bestandteile zeigt, welche weit weniger als ein Prozent des Protonimpulses tragen, so sieht man plötzlich immens viele Quarks und Gluonen. Dies ergibt ein völlig neues Bild vom Innenleben des Protons.

Vor den Hera-Messungen war zwar bekannt, dass die Quarks im Proton Gluonen aussenden, und dass diese wiederum weitere Gluonen oder Quark-Antiquark-Paare erzeugen. Die meisten Physiker waren aber überzeugt, dass sich neben den drei Valenzquarks nur wenige Quark-Antiquark-Paare und Gluonen im Proton befinden, dieses also fast leer ist. Den neuen Messungen zufolge gleicht das Innere eines Protons jedoch eher einer dicken, brodelnden Suppe, in der Gluonen und Quark-Antiquark-Paare unaufhörlich abgestrahlt und wieder vernichtet werden. Diese hohe Dichte der Gluonenabstrahlung stellt einen gänzlich neuen, bisher nicht untersuchten Zustand der starken Kraft dar. Unserer Meinung nach ist dieser Zustand dafür verantwortlich, dass Quarks und Gluonen im Proton "eingesperrt" sind, also niemals als freie Teilchen beobachtet werden können.

Hera lieferte noch eine weitere große Überraschung: Die Experimentatoren hatten eigentlich erwartet, dass bei den gewaltigen Kollisionen im Beschleuniger mit hohen Impulsüberträgen die Protonen zumeist in eine Unzahl neuer Teilchen zerbersten. In etwa 15 Prozent der Stöße blieb das Proton jedoch unversehrt, obwohl eine heftige Wechselwirkung stattgefunden hatte. Wie aber kann ein Proton den Zusammenstoß überstehen, wenn mit aller Wucht ein Quark herausgeschlagen wird? Dies erscheint zunächst gänzlich unverständlich. Ursache ist offenbar eine außergewöhnliche Eigenschaft der starken Kraft, die uns helfen sollte zu verstehen, warum die Quarks und Gluonen im Proton "eingesperrt" bleiben.

Die Entdeckung solcher Ereignisse hat zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Theoretikern und Experimentalphysikern geführt. Beide Experimente an Hera, H1 und Zeus, wurden verändert, um die Messungen zu noch kleineren Impulsüberträgen ausdehnen und die gestreuten Protonen besser untersuchen zu können. Die Theoretiker versuchen zunächst mit Hilfe von Modellvorstellungen, die gefundene hohe Dichte der Gluonenabstrahlung im Streuprozess zu beschreiben. Dies ist inzwischen recht weit fortgeschritten. Und vielleicht wird man bald verstehen können, wie die starke Gluonenstrahlung dafür sorgt, dass Quarks und Gluonen nicht als freie Teilchen aus dem Streuprozess hervorgehen und die Protonen intakt bleiben.

Dem Geheimnis der Kräfte auf der Spur

Fassen wir noch einmal zusammen: Die Hera-Experimente haben mit Elektronen als Sonden die Struktur des Protons und die fundamentalen Naturkräfte mit bisher unerreichter Auflösung unter die Lupe genommen. In dem erstmals der Messung zugänglichen Bereich verhalten sich die schwache und die elektromagnetische Kraft genau so, wie vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagt: Bei großen Abständen sind ihre Stärken gänzlich verschieden, und dennoch haben sie einen gemeinsamen Ursprung – der Unterschied rührt vom großen Massenunterschied der Botenteilchen her. Die Theorie der starken Kraft (die Quantenchromodynamik) wurde bei kleinen Abständen genauestens bestätigt. Die Struktur des Protons erwies sich als sehr komplex, weil bei kleinen Impulsen die Dichte von Quarks und Gluonen sehr hoch ist. Auch gehen die Protonen aus dem Streuprozess unerwartet häufig unverändert hervor. Die beiden letzten Beobachtungen stellen die fundamentale Frage "Warum sind Quarks und Gluonen im Proton gefangen?" in einer gänzlich neuen Weise.

Schon einmal hat die Untersuchung der Abstrahlung von Botenteilchen zu völlig neuen Erkenntnissen in der Physik geführt. Im Jahre 1900 versuchte der Physiker Max Planck, die beobachtete Strahlungskurve eines so genannten Schwarzen Körpers mit einer einzigen Formel zu beschreiben. Dies gelang ihm erst, als er annahm, die Energie der elektromagnetischen Strahlung könne sich nur in diskreten Schritten erhöhen. Dieser Gedankengang markiert den Beginn der Quantenmechanik. Dann dauerte es noch mehr als ein halbes Jahrhundert, bis mit der Quantenelektrodynamik die elektromagnetische Strahlung geladener Teilchen quantenmechanisch berechnet werden konnte. Der gleiche Formalismus und die gleichen Rechenmethoden erlauben uns heute, im Rahmen der Quantenchromodynamik die Strahlung von Quarks und Gluonen bei kleinen Abständen zu berechnen. Die Ergebnisse von Hera könnten uns nun helfen, die QCD-Strahlung auch bei großen Abständen zu verstehen – und damit auch die Frage nach der Struktur des Protons und der Existenz freier Quarks zu beantworten.

Die Frage nach dem Verständnis der starken Kraft bei großen Abständen und dem Zusammenhalt der Quarks und Gluonen im Proton ist eine neue Facette der uralten Suche nach den kleinsten Bausteinen der Materie. Der Weg vom Kristall ins Innere der Atome bis hin zu den Quarks und Gluonen führt uns im bislang letzten Schritt zu elementaren Teilchen, an deren Existenz kein Zweifel besteht, die aber voraussichtlich nie isoliert beobachtet werden können.

Literaturhinweise


Vorstoß in den Mikrokosmos. Spektrum der Wissenschaft, Digest 1/2001.

Der geheimnisvolle Spin des Nukleons. Von Klaus Rith und Andreas Schäfer, Spektrum der Wissenschaft, September 1999, S. 28.

Reise ins Innerste der Materie. Mit Hera an die Grenzen des Wissens. Von Pedro Waloschek. Stuttgart 1991.


Vereinheitlichung der schwachen und elektromagnetischen Kräfte


Die Hera-Wissenschaftler konnten durch Kollisionen von Elektronen und Protonen experimentell bestätigen, dass die schwache und die elektromagnetische Kraft zwei Erscheinungsformen einer umfassenderen, der so genannten elektroschwachen Kraft sind. Dazu verglichen die Physiker die gemessenen Häufigkeiten zweier Teilchenreaktionen:

- Neutraler-Strom-Reaktion: "Elektron trifft auf Proton; daraus entsteht ein Elektron nebst anderen Teilchen." Bei dieser Teilchenreaktion erfolgt der Kräfteaustausch zwischen Elektron und einem der Quarks im Proton über neutrale Botenteilchen der elektromagnetischen (Photonen) oder der schwachen Kraft (Z0-Bosonen). Die Häufigkeit, mit der diese Reaktion auftritt, ist ein Maß für die Stärke der elektromagnetischen und der schwachen Kraft.

- Geladener-Strom-Reaktion: "Elektron trifft auf Proton; daraus entsteht ein Neutrino nebst anderen Teilchen." Bei dieser Teilchenreaktion erfolgt der Kräfteaustausch über die geladenen Botenteilchen der schwachen Kraft (W+- oder W–-Bosonen). Die Häufigkeit, mit der diese Reaktion auftritt, ist ein Maß für die Stärke der schwachen Kraft.

In beiden Reaktionen wird das Quark, welches das Botenteilchen aufgenommen hat, aus dem Proton herausgeschlagen. Dabei erzeugt es – unter einem großen Winkel zur Flugrichtung des Protons – ein Bündel von Teilchen. Die verbleibenden zwei Quarks des Protons fliegen in ihrer ursprünglichen Richtung weiter und erzeugen ebenfalls Teilchenbündel, welche die Apparatur aber größtenteils ungesehen verlassen. Entsendet das Elektron beim Stoß ein Photon oder Z-Boson (neutraler Strom), so misst man das abgelenkte Elektron im Detektor. Wird hingegen ein geladenes W-Boson ausgetauscht (geladener Strom), so verwandelt sich das Elektron in ein Neutrino, das die Nachweisapparatur spurlos durchquert.

Aus der gemessenen Häufigkeit dieser beiden Teilchenreaktionen als Funktion des Impulsübertrags lässt sich direkt die Vereinheitlichung der beiden wirkenden Kräfte ablesen: Bei kleinen Impulsüberträgen, also bei großen Abständen zwischen Elektron und Quark im Proton beim Zusammenstoß, tritt die "Neutraler-Strom-Reaktion" wesentlich häufiger auf als die "Geladener-Strom-Reaktion". In diesem Fall ist also die elektromagnetische Kraft wesentlich stärker als die schwache Kraft. Bei großen Impulsüberträgen und entsprechend kleinen Abständen – kleiner als die Reichweite der schwachen Kraft – sind beide Reaktionen gleich häufig, also beide Kräfte gleich stark: Sie vereinigen sich zur elektroschwachen Kraft.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2001, Seite 62
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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