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Genetik: Das kleine Chromosom der Männlichkeit

Einst glichen die beiden Geschlechtschromosomen X und Y einander wie Zwillinge. Dann lenkte eine zufällige Veränderung das Y auf seltsame Wege.


Die menschlichen Geschlechtschromosomen X und Y sind ein seltsames Gespann. Alle anderen 22 Chromosomenpaare in unseren Zellen sehen wie Zwillinge aus: Beide Partner-Chromosomen – eines vom Vater und das andere von der Mutter – sind für gewöhnlich gleich groß und tragen einander entsprechende Gene. Das Y ist dagegen nicht nur viel kleiner als das X, es beherbergt mit ein paar Dutzend Genen auch deutlich weniger an brauchbarer Information als sein X-Partner – der bringt es auf immerhin 2000 bis 3000 Erbfaktoren. Dennoch existieren für einige Y-Gene keine Pendants auf dem X-Chromosom. Insgesamt enthält das Y ungewöhnlich viel an "nutzloser" Erbsubstanz: Zumindest trägt sie keine verschlüsselte Anweisung, nach der die Zelle brauchbare Moleküle – etwa bestimmte Proteine – herstellen könnte. Die Molekulargenetiker sprechen regelrecht von "Schrott"-DNA.

Bis vor kurzem vermochte niemand so recht zu erklären, wie das Y-Chromosom in diesen wenig schmeichelhaften Zustand geraten ist. Wohl existierten verschiedene Theorien darüber, aber kaum Möglichkeiten, sie zu überprüfen. Das hat sich mittlerweile geändert, und zwar großenteils dank des Human-Genom-Projekts und paralleler Bemühungen, das menschliche Erbgut vollständig zu entziffern. Die Reihenfolge der DNA-"Buchstaben" in den 22 "normalen" Sorten von Chromosomen sowie in X und Y ist nun weitgehend bekannt.

Ähnlich wie Paläontologen die Evolution einer Tierart nachvollziehen können, indem sie verwandte Skelette vergleichen, versuchen Molekularbiologen die Entwicklung von Chromosomen und Genen durch den Vergleich von DNA-Sequenzen zu rekonstruieren. Ihre Ergebnisse deuten nun auf eine erstaunlich bewegte Vergangenheit der Geschlechtschromosomen hin. Geprägt war sie von einer Reihe dramatischer struktureller Veränderungen im Y und ausgleichender Maßnahmen im X – einem Spiel, das sich zweifellos noch fortsetzt. Unerwartet für die meisten Biologen war auch, dass das menschliche Y-Chromosom deutlich mehr macht als nur den Mann zum Manne. Im Laufe seiner Jahrmillionen währenden Evolution hat das ziemlich geschrumpfte Gebilde sich eine Handvoll Gene bewahrt, die lebenswichtig sind für männliche Individuen. Mehr noch: Entgegen dem generellen Trend zum Schrumpfen hat es sogar Gene für die Fortpflanzungsfähigkeit des starken Geschlechts an sich gezogen.

Hinter solchen Forschungsarbeiten steckt zwar in erster Linie pure wissenschaftliche Neugier, aber auch der profane Wunsch, die Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit zu ergründen und zu beheben. Die Entdeckung von Fertilitätsgenen auf dem Y-Chromosom könnte einmal zu neuartigen Behandlungsmethoden für Männer führen, bei denen diese Erbfaktoren fehlen oder defekt sind.

Was wir heute über Geschlechtschromosomen wissen, ist aus rund hundert Jahren Forschung erwachsen. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Biologen der Ansicht, dass bei Säugetieren – einschließlich des Menschen – äußere Einflüsse auf den Embryo das Geschlecht bestimmen. Bei Schildkröten, Alligatoren und einigen anderen Reptilien ist das tatsächlich so. Hier lösen Temperatureinflüsse in einer frühen Phase der Embryonalentwicklung bislang nur unzureichend verstandene Abläufe aus, welche die Bildung von Männchen oder von Weibchen begünstigen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten Wissenschaftler jedoch, dass bei bestimmten Insektenarten Chromosomen über das Geschlecht entscheiden, und etwa zwanzig Jahre später konnten sie dann auch die Säugetiere in die Liste einreihen.

Was aber genau machte den Mann zum Mann? Theoretisch hätte es dem Y-Chromosom der Säuger beispielsweise bloß an "Weiblichkeit" fehlen können. Doch in den folgenden Jahrzehnten entpuppte es sich tatsächlich als "Männermacher". Auch wann es diese Eigenschaft erwarb, konnten die Forscher aus verschiedenen Indizien ableiten. X und Y mussten ursprünglich ein ganz normales Chromosomenpaar gewesen sein. Kurz bevor oder nachdem sich aber die ersten Säugetiere entwickelt hatten, kam es zu einer schicksalsträchtigen genetischen Veränderung in einem winzigen Abschnitt jenes Partners, der zum Y werden sollte. Von da an wurden Embryonen zu Männchen, wenn sie von einem Elternteil das künftige X und vom anderen das modifizierte Chromosom geerbt hatten. Zu Weibchen entwickelten sich dagegen jene, die zwei X-Vorläufer erhalten hatten.

Im Jahre 1990 lokalisierten Genetiker endlich exakt jenen Abschnitt auf dem menschlichen Y, der über die Ausprägung der männlichen Merkmale entscheidet. Es handelt sich um ein einziges Gen names SRY: für "sex-determining region Y", also "geschlechtsbestimmende Region Y". Wie Experimente mit Mäusen zeigten, trägt die Erbanlage den Bauplan für ein Protein, das im Embryo die Entwicklung der Hoden auslöst, indem es andere Gene auf verschiedenen Chromosomen aktiviert. Die Hoden bilden dann das Hormon Testosteron und andere Substanzen, welche die weitere Ausbildung der männlichen Geschlechtsmerkmale übernehmen.

Für die gemeinsame Herkunft der beiden Geschlechtschromosomen sprachen beispielsweise ihre übereinstimmenden Enden. Dort können sich X und Y noch wie alle anderen Chromosomenpaare parallel aneinanderlagern und passende Stücke austauschen. Dieser als "Rekombination" bezeichnete Vorgang tritt bei der so genannten Reifeteilung der Zellen auf, aus denen beim Mann Spermien hervorgehen. In den meisten anderen Bereichen allerdings gleichen sich die beiden Geschlechtschromosomen mittlerweile kaum mehr: Rund 95 Prozent von Y nehmen nicht am Tauschgeschäft teil. Viele der darunter fallenden Gene besitzen jedoch entsprechende Gegenstücke auf X – ein weiterer Hinweis auf einen gemeinsamen Ursprung.

Nun sind Chromosomenpaare aber auf den internen partnerschaftlichen Austausch angewiesen, um ihre Struktur und Identität zu wahren. In Bereichen, die sich nicht daran beteiligen, sammeln sich nämlich schädliche Veränderungen der Erbsubstanz an, und die betroffenen Gene degenerieren schließlich oder verschwinden sogar. Schon seit längerem sahen Biologen darin den Grund, warum das Y heute wie ein Schatten seines früheren Selbst wirkt. Fraglos musste etwas den Austausch von DNA mit dem X-Chromosom großräumig zum Erliegen gebracht haben, worauf die betroffenen Gene von Y "kollabierten". Die Frage war nur: Wie und wann kam es zu dem Stopp, nachdem das Ur-Y-Chromosom zum "Männermacher" mutiert war?

Schritt für Schritt in die Misere

Die Suche nach einer Antwort dauerte Jahrzehnte, und erst in den letzten Jahren gelang es Forschern, viele der Wissenslücken zu schließen. So zeigten 1999 einer von uns (Lahn) und David C. Page vom Whitehead-Institut für Biomedizinische Forschung in Cambridge (Massachusetts), dass das Y seine Fähigkeit zum Austausch mit X überraschenderweise in mehreren Etappen verlor: Anfangs war nur eine kurze Strecke DNA um das frühe SRY-Gen herum betroffen, später weitere zusammenhängende Blöcke und schließlich fast das gesamte Chromosom. Während das Y dadurch "abbaute", konnte das X weiter sein Erbgut mit Tauschgeschäften auffrischen; denn weibliche Individuen besitzen zwei X-Chromosomen, die bei der Reifeteilung ein passendes Paar bilden.

Ein Block DNA könnte auf einen Schlag seine Passung und damit seine Rekombinationsfähigkeit verlieren, wenn er sich beim Austausch dreht und dadurch falsch herum eingebaut wird. Ein solcher Fehler kommt gelegentlich vor und sollte schon sehr früh bei einem der ältesten Ahnen heutiger Säugetiere aufgetreten sein – als X und Y noch ziemlich gleich waren. Unserer Analyse nach entpuppte sich der postulierte Dreher aber eben nur als erster Streich. Wir verglichen dazu 19 Y-Gene – alle noch funktionierend, aber auf nicht mehr rekombinationsfähigen Regionen – mit ihren Gegenstücken auf dem X-Chromosom. Ohne ausgleichenden Austausch entwickeln sich die DNA-Sequenzen eines Genpaares für gewöhnlich auseinander: Je mehr Unterschiede zwischen ihnen bestehen, umso mehr Zeit ist demnach seit dem letzten Tauschhandel verstrichen. Ein solcher Vergleich liefert zunächst ein relatives Alter.

Die von uns untersuchten X-Y-Genpaare ließen sich im Wesentlichen in vier zeitliche Gruppen einteilen. Innerhalb jeder einzelnen waren die geprüften Differenzen zwischen den Gen-Sequenzen von X und Y etwa gleich groß – ein Hinweis, dass der Austausch für alle etwa zum gleichen Zeitpunkt aufhörte. Die Gruppen selber waren jedoch deutlich verschieden voneinander. Die älteste – die mit den größten Unterschieden zwischen X- und Y-Genen – musste auf einen Zeitraum zurückgehen, in dem auch das SRY-Gen entstand.

Wann ursprünglich gleichartige Gene getrennte Wege einschlugen, lässt sich oft durch Vergleich der DNA verschiedener Tierarten grob abschätzen. Dazu konnten wir auf Erkenntnisse anderer Wissenschaftler zurückgreifen. Bei Reptilien aus einer Zeit, bevor die Entwicklungslinie der Säugetiere sich reich verzweigte, glichen sich demnach die Vorläufer von X und Y noch. Doch schon die Kloakentiere, zu denen der Ameisenigel und das Schnabeltier gehören, besitzen das SRY-Gen sowie eine benachbarte, nicht mehr rekombinierende DNA-Sequenz. Da dieser Zweig sich als einer der ersten vom Ast der übrigen Säugetiere getrennt hatte, müssten das Gen wie auch seine "verdrehte" Nachbarschaft ungefähr mit dem Auftreten der Säugetiere entstanden sein, vor rund 300 Millionen Jahren also.

Auch die "molekulare Uhr" der DNA liefert Informationen über den Zeitpunkt, wann eine Veränderung des Erbguts stattgefunden hat. Dazu benutzen Biologen einen Schätzwert, mit welcher Basisgeschwindigkeit sich die Sequenz ändert, sofern kein bestimmter Evolutionsdruck einwirkt. Im Wesentlichen multipliziert man dann das gefundene Ausmaß der Unterschiede zweier DNA-Abschnitte mit dieser Rate und erhält so den wahrscheinlichen Zeitraum für das Ereignis. Auf diese Weise gelangten wir zu dem Ergebnis, dass sich vor 240 bis 320 Millionen Jahren der erste Dreher in das Y-Chromosom eingeschlichen hatte, der die Rekombination zwischen bestimmten X-Y-Genpaaren unterdrückte.

Der zweite derartige Fehler, in einem weiteren Bereich des Y, ereignete sich unseren Analysen zufolge vor 130 bis 170 Millionen Jahren: kurz bevor die Beuteltiere sich von der Entwicklungslinie abspalteten, die später zu allen Säugetieren mit hochentwickelter Plazenta führen sollte. Ein drittes Mal schlug das Schicksal vor 80 bis 130 Millionen Jahren zu, bevor die Plazentatiere sich in verschiedene Gruppen auffächerten. Die vorerst letzte DNA-Drehung auf Y liegt grob 30 bis 50 Millionen Jahre zurück, als die Tieraffen bereits eine eigenständige Linie, Menschenaffen und Hominiden aber noch nicht getrennt waren.

Um Ausgleich bemüht

Ganz gegen den Trend der meisten X-Y-Genpaare unterscheiden sich einige Proteine, welche die Zelle nach Anleitungen von Genen auf den verdrehten Y-Abschnitten produziert, erstaunlich wenig von den entsprechenden Produkten der X-Gene. Das trifft selbst auf jenen Bereich zu, der als erster falsch herum ins Y-Chromosom eingebaut wurde. Der Erhalt dieser Eiweißstoffe dürfte mit der einfachen Evolutionsregel zu begründen sein, dass überlebensnotwendige Gene gewöhnlich nur wenig Veränderung tolerieren. Tatsächlich haben sich auf dem Y hauptsächlich Gene des Grundstoffwechsels so konstant gehalten – sie sind unabdingbar für das korrekte Funktionieren fast jeder Körperzelle.

Nicht nur der gesunde Menschenverstand, auch eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen sprechen dafür, dass der fehlende DNA-Austausch zwischen X und Y sowie die dadurch bedingte Degeneration des Y-Chromosoms durch einen ausgleichenden dritten Prozess kompensiert werden mussten. Zwar sind nicht alle Gene in jeder einzelnen Zelle des Körpers aktiv. Aber wenn eine Zelle ein bestimmtes Protein benötigt, schaltet sie für gewöhnlich sowohl die mütterliche als auch die väterliche Version des entsprechenden Gens an. Deren Produktionskapazität ist sorgfältig auf eine optimale Entwicklung und den täglich wechselnden Bedarf des Organismus abgestimmt. Daher hätte das Verschwinden von Y-Genen bei den Männchen die jeweilige Proteinproduktion fatal halbiert, wenn die betroffene Spezies sich nicht mit kompensatorischen Tricks beholfen hätte.

Viele Tierarten, darunter die Taufliege, verdoppeln in Männchen einfach die Aktivität der X-Version des verlorenen Y-Gens. Bei anderen Arten ist es komplizierter. Sie erhöhen zunächst bei beiden Geschlechtern die Aktivität der X-Gene. Dadurch wird zwar der Proteinspiegel der Männchen wieder aufgefüllt, bei den Weibchen entsteht jedoch ein Überschuss. Manche Tiere, zum Beispiel Fadenwürmer, halbieren dann in den Weibchen die Aktivität der X-Gene. Andere, und dazu gehören auch die Säugetiere, verlegen sich auf die so genannte X-Inaktivierung. Dabei werden schon ganz früh in einem weiblichen Embryo fast alle Gene auf einem der beiden X-Chromosomen abgeschaltet. Welches X es trifft, entscheidet sich nach dem Zufallsprinzip. In benachbarten Embryonalzellen können durchaus verschiedene X-Chromosomen stillgelegt werden, bei Teilungen geben sie allerdings ihr X-Inaktivierungsmuster an die Tochterzellen weiter.

Obwohl Biologen schon lange die X-Inaktivierung als eine Antwort auf den Abbau der Y-Gene angesehen haben, fehlten ihnen doch bisher die Beweise dafür. Einem von uns (Jegalian) und Page gelang vor wenigen Jahren ein Schritt in diese Richtung. Wir drehten den Spieß einfach um: Wenn Gene auf der nicht-rekombinierenden Region von Y noch funktionierten, dann müssten ihre Gegenstücke bei weiblichen Tieren von der X-Inaktivierung verschont bleiben, damit die weibliche Proteinkonzentration nicht hinter die männliche zurückfällt. Unsere Analyse bei zwei Dutzend Säugetierarten bestätigte dies tatsächlich. Wie sie ferner ergab, hatte die X-Inaktivierung sich nicht auf einen Schlag entwickelt. Vielmehr breitete diese sich ursprünglich abschnittsweise aus, vielleicht sogar nur Gen für Gen innerhalb eines Abschnitts, jedenfalls nicht mit einem Male über die ganze Länge des Chromosoms, wie es heute im Embryo geschieht.

Seltsamerweise liegen auf den nicht-rekombinierenden Regionen des Y-Chromosoms auch ein Dutzend Gene für die Fruchtbarkeit des Mannes. Sie tragen die Bauanleitungen für Proteine, die nur in den Hoden hergestellt werden und vermutlich an der Spermaproduktion mitwirken. Einige dieser Gene sind anscheinend von anderen Chromosomen auf das Y übergesprungen. Andere waren offenbar schon immer dort angesiedelt, dienten ursprünglich aber einem anderen Zweck und haben erst im Laufe der Zeit die neue Aufgabe übernommen. Die Degeneration ist also nur eine – wenn auch besonders auffällige – Seite in der Evolutionsgeschichte des Y-Chromosoms. Eine andere, aber bis vor kurzem kaum wahrgenommene Seite ist eben dieser Erwerb von Fertilitätsgenen.

Warum sich das Y regelrecht zum Magneten für Fruchtbarkeitsgene entwickelt hat, also welche Selektionskräfte es dazu gemacht haben, ist unklar. Für die Art als Ganzes mag es von Vorteil sein, wenn Gene, die weiblichen Tieren schaden könnten oder ihnen zumindest nichts nützen, gesondert aufbewahrt werden. Möglicherweise bietet das Y auch einen gewissen Schutz für die Fertilitätsgene, weil sie damit sicher von Männchen zu Männchen weitergereicht werden und Umwege über weibliche Individuen entfallen – diese könnten sich ihrer ja entledigen, ohne selber Schaden zu nehmen.

Geschlecht auf vielerlei Art

Ein weiteres Rätsel bleibt, wie die Fruchtbarkeitsgene es schaffen, ohne den sonst so wichtigen DNA-Austausch mit anderen Chromosomen intakt zu bleiben; schließlich sind viele ihrer "Nachbarn" auf Y an diesem Problem zugrunde gegangen. Die Lösung mag in der Tatsache liegen, dass fast jedes männliche Fertilitätsgen auf Y in mehreren Kopien vorliegt. Sie wirken als Sicherheitspuffer, da schädliche Mutationen meist nie in mehr als einem Exemplar gleichzeitig auftreten. Während manche Kopien Schäden ansammeln und schließlich ihre Funktionstüchtigkeit einbüßen, erhalten die übrigen die Fortpflanzungsfähigkeit des Mannes aufrecht und dienen gleichzeitig als Vorlagen für neue Kopien ihrer selbst.

Die Evolution der Geschlechtschromosomen haben Wissenschaftler zwar am gründlichsten beim Menschen untersucht. Doch haben sich solche Chromosomen nicht nur bei Säugern entwickelt, sondern unabhängig davon auch bei anderen Tiergruppen. Vögel und Schmetterlinge zum Beispiel verwenden das sogenannte W-Z-System der Geschlechtsbestimmung. Wenn ein singulär auftretendes Geschlechtschromosom den männlichen Organismus "macht", bezeichnen Biologen es als Y, den dazugehörenden Partner als X. Das W-Chromosom als "Single" macht dagegen aus einem Tier ein Weibchen; sein Gegenstück ist das Z. Bei diesem System sind also die Weibchen das "ungleiche" Geschlecht: mit der Kombination WZ. Männchen dagegen tragen ZZ. Vergleichende Betrachtungen dieser Verhältnisse bei den verschiedensten Arten erlauben es, einige allgemeine Prinzipien der Evolution von Geschlechtschromosomen abzuleiten.

So entwickeln sich Geschlechtschromosomen bemerkenswerterweise immer aus einem gewöhnlichen Chromosomenpaar, keineswegs aber überall aus demselben. Die W- und Z-Chromosomen der Vögel entspringen zum Beispiel anderen Vorgängern als das X und Y der Säugetiere; nochmals andere Vorfahren besitzen das X und Y der Taufliegen.

Waren bei einer Art mit sexueller Fortpflanzung erst einmal Geschlechtschromosomen entstanden, lebte sich das Paar meist auseinander, wurde immer unähnlicher. Dabei durchliefen sie meist ein- oder mehrmals eine feste Abfolge von drei Entwicklungsschritten:
– Unterdrückung des DNA-Austausches,
– Degeneration der nicht-rekombinierenden Abschnitte des geschlechtsspezifischen Chromosoms Y oder W,
– Kompensation durch das andere Chromosom.


Damit einher ging oft eine zunehmende Bedeutung des geschlechtsspezifischen Chromosoms für die Fertilität, wie beim Y von Menschen und Insekten.

Welche Zukunft dem menschlichen Y-Chromosom beschieden ist, vermag niemand definitiv zu sagen. Theoretisch könnte der Zyklus sich fortsetzen, bis es eines fernen Tages ganz aus dem Erbgut verschwindet. Vielleicht baut das Y aber seine neu erkannte Rolle als Nische für spezielle Gene sogar noch aus. Wie auch immer, der Sonderling unter den Chromosomen wird weiterhin im Brennpunkt der biologischen und medizinischen Forschung stehen, wenn es darum geht, die Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit zu ergründen und möglichst zu beheben.

Literaturhinweise


The Human Y Chromosome, in Evolution’s Light. Von Bruce T. Lahn, Nathaniel M. Pearson und Karin Jegalian in: Nature Genetics, Bd. 27, S. 422, 2001.

Four Evolutionary Strata in the Human X Chromosome. Von Bruce T. Lahn und David C. Page in: Science, Bd. 286, S. 964, 1999.

A Proposed Path by Which Genes Common to Mammalian X and Y Chromosomes Evolve to Become X Inactivated. Von Karin Jegalian und David C. Page in: Nature, Bd. 394, S. 776, 1998.


STECKBRIEF


Das Problem
Das "männliche" Y-Chromosom ist um zwei Drittel kleiner als das "weibliche" X-Chromosom. Über weite Strecken gleicht es einer Genwüste. Zudem kann es sich nur noch auf 5 Prozent seiner Länge mit dem X-Partner überkreuz legen, um Stücke auszutauschen. Wann geriet es in diese missliche Lage?

Die Lösung
Eine Art molekulare Uhr liefern noch funktionsfähige Y-Gene, die zwar Pendants auf dem X-Chromosom besitzen, aber nicht mehr ausgetauscht werden. Je länger zwei Gene schon ihre eigenen Entwicklungswege gehen, desto stärker unterscheiden sie sich gewöhnlich. Mit zunehmender Entzifferung des menschlichen Erbguts sind inzwischen genügend vergleichbare Genpaare auf beiden Geschlechtschromosomen aufgetaucht – mit verblüffendem Ergebnis.


Unfruchtbarkeit und die Pille für den Mann


Genetische Untersuchungen am Y-Chromosom tragen dazu bei, bestimmte Arten von Unfruchtbarkeit zu erklären. Bei etwa der Hälfte aller ungewollt kinderlosen Paare liegt das Problem ganz oder teilweise beim Mann. Bisweilen bildet er zu wenige oder gar keine Spermien – oft aus unklaren Gründen. Neuere Forschungsergebnisse lassen jedoch vermuten, dass in etwa zehn Prozent dieser Fälle ein oder mehrere Fertilitätsgene auf dem Y-Chromosom geschädigt sind.

Seit den siebziger Jahren vermuten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen dem Y-Chromosom und männlicher Unfruchtbarkeit. Damals beobachteten sie in mikroskopischen Präparaten, dass vielen sterilen Männern kleine Stücke des Y-Chromosoms fehlten. Heute kennt man drei dafür spezifische Y-Regionen. Sie erhielten die Bezeichnung AZF a, b und c (das Kürzel steht für Azoospermie-Faktor). Der Verlust von DNA in einer dieser Regionen kann bereits zu Unfruchtbarkeit führen. Jede enthält mehrere Gene; die meisten davon sind in den Hoden hoch aktiv. Nach ihren Bauanleitungen produzieren die Zellen große Mengen von Eiweißstoffen. Es sieht daher ganz so aus, als spielten diese Gene irgendeine wichtige Rolle bei der Produktion der Spermien. Ihre Funktionen und ihr Zusammenspiel mit Fertilitätsgenen auf anderen Chromosomen müssen die Forscher allerdings noch genauer ergründen.

Einige Reproduktionsmediziner untersuchen inzwischen routinemäßig das Y-Chromosom auf fehlende Abschnitte. Hat ein Mann dieses Problem, produziert aber zumindest noch ein wenig Sperma, kann dem Paar mit der so genannten ICSI, der intracytoplasmatischen Spermien-Injektion, geholfen werden. Bei dieser Variante der Reagenzglas-Befruchtung entnimmt der Mediziner Spermien direkt aus den Hoden und injiziert sie in Eizellen der Frau. Wird auf diese Weise ein Sohn gezeugt, erbt er jedoch das geschädigte Y-Chromosom des Vaters und wird daher wahrscheinlich mit den gleichen Unfruchtbarkeitsproblemen zu kämpfen haben.

Vielleicht lässt sich eines Tages aber die Unfruchtbarkeit mancher Männer beheben, indem man die fehlenden AZF-Proteine zuführt oder sogar die zerstörten Gene wieder herstellt. Auf der anderen Seite sollte dieses Wissen auch die Entwicklung von Wirkstoffen ermöglichen, die gezielt die biochemische Maschinerie zur Spermienproduktion lahmlegen und damit als neue Verhütungsmittel für den Mann in Frage kämen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2001, Seite 60
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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