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Bildung: Das Lächeln der Medusa

Die Geschichte der Ideen und Menschen, die das moderne Denken geprägt haben
Bertelsmann, München 2001. 1183 Seiten, € 49,–


Bildung ist in. Wer heute auf dem Arbeitsmarkt bestehen will, muss Allgemeinbildung besitzen, nicht nur Spezialwissen. Im Fernsehen fragen Quiz-Shows Bildungsbrocken ab. Ein Bestseller verkauft sich mit dem patzigen Titel: "Bildung. Alles, was man wissen muss". Sein Autor, der Anglist und Romancier Dietrich Schwanitz, zählt freilich die Naturwissenschaften nicht zu dem, "was man wissen muss" – oder was er unter Bildung versteht. Darauf reagierte der Biologe Ernst Peter Fischer mit seinem Buch: "Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte". Damit ist die schlechte alte Trennung der "zwei Kulturen" wieder einmal zementiert: hier die musisch-literarisch-geisteswissenschaftlich Gebildeten, dort die empirisch-technisch-naturwissenschaftlichen Forscher.

Es gibt aber neuerdings einen interessanten Versuch, ein Panorama heutigen Wissens zu entwerfen, das dieser Trennung bewusst widerspricht und die Bedeutung der Naturwissenschaften für die moderne Kultur besonders hervorhebt. Der britische Publizist Peter Watson legt eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts vor, durch die sich als roter Faden der Einfluss der Naturforschung auf die Moderne zieht: "Viele Strömungen, sogar in der bildenden Kunst – Kubismus, Surrealismus, Futurismus, Konstruktivismus, selbst das Abstrakte –, waren Antworten auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse (oder das, was die Künstler dafür hielten). Und auch Schriftsteller wie Joseph Conrad, D.H. Lawrence, Marcel Proust, Thomas Mann, T.S. Eliot, Franz Kafka, Virginia Woolf oder James Joyce – um nur einige zu nennen – wussten, was sie Darwin, Einstein, Freud und all den anderen schuldeten. Die Musik und der moderne Tanz waren unübersehbar von Atomphysik und Anthropologie beeinflusst (was nicht zuletzt der Komponist Arnold Schönberg selbst eingestand). Der Ausdruck ‚elektronische Musik‘ spricht für sich. Ob in den Rechtswissenschaften, der Architektur, Religion, den Erziehungswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften oder bei der Organisation von Arbeit, überall haben sich die Erkenntnisse und Methodologien der empirischen Wissenschaften als unverzichtbar erwiesen."

Schon das Zitat aus der Einleitung lässt Stärken und Schwächen von Watsons Vorgehen ahnen. Immer wieder zieht Watson überraschende Verbindungslinien über die traditionellen Bildungsgrenzen hinweg und versetzt den Leser in einen Geschwindigkeitsrausch beim Überfliegen von Wiener Caféhäusern, Pariser Ateliers, amerikanischen Universitäten, britischen Labors, deutschen Filmateliers oder russischen Revolutionszirkeln. Ein Wimmelbild der Moderne entsteht, in dem der Autor und mit ihm der Leser vom Hundertsten ins Tausendste gerät – begeistert, neugierig, überrascht, oft auch nur verwirrt.

Denn allzu oft wird die Höchstgeschwindigkeit überschritten. Bei dem Tempo, mit dem Watson über Entdeckungen, Gedanken und Kunstwerke hinwegrast, sind manchmal nur vage Umrisse zu erkennen. Vor allem Philosophen erscheinen als Verrückte, wenn ihre Ideen im Telegrammstil auf ein paar Behauptungen reduziert werden. Watson bekennt freimütig, sich bei den dargestellten Denkern und Schriftstellern auf jeweils ein, zwei Werke der Sekundärliteratur gestützt zu haben. Natürlich konnte er nicht die Originalarbeiten aller Erwähnten studieren, aber bei Gedanken aus zweiter Hand ist das treffende Zusammenfassen von Zusammenfassungen Glückssache.

Um den Leser bei der Stange zu halten, greift Watson gern zu dem journalistischen Trick, handfeste Details einzustreuen. Sie sind oft erhellend und verblüffend, manchmal aber falsch. In einer sehr einfühlsamen Darstellung von Robert Musils Roman "Mann ohne Eigenschaften" heißt es: "Kaum hatte Musil sein großes Werk beendet, starb er 1942 vollständig erschöpft" – aber Musil beendete sein Werk nie, sondern hinterließ ein Romanfragment, an dem er noch am Tag vor seinem Tod arbeitete. Watson erwähnt, dass Franz Kafka keinen seiner Romane vollendete, streut aber die so anfechtbare wie überflüssige Bemerkung ein, das "Schloss" sei Kafkas "meist verkauftes Buch". In diesem Stil versucht er jeder seiner unzähligen Personen mehr oder weniger glücklich Profil zu verleihen.

Es ist eine großartige Idee, das 20. Jahrhundert im Rückblick als gigantisches Gedankenlabor zu beschreiben. Doch die Aufgabe überschreitet die Fähigkeit eines Einzelnen bei weitem. So musste Watsons Mammutwerk eine groß angelegte Skizze bleiben, der erste Entwurf einer recht eigenwillig kolorierten Landkarte, in der nicht jede Straßenkreuzung stimmt. Wer sich aber von Watsons unerschöpflichem Wissensdurst anstecken lässt und hier und da auf eigene Faust den Originalquellen nachgeht, wird dem Autor für seine vielen Wegweiser dankbar sein.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2002, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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