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Das Langschiff der Wikinger

Ungewöhnlich schmale Kriegsschiffe verhalfen den Nordmännern im Mittelalter drei Jahrhunderte lang zur Vormacht auf See.

Im September 1997 entdeckten dänische Archäologen bei Baggerarbeiten im verlandeten Teil des Roskilder Hafens, 40 Kilometer westlich von Kopenhagen, ein Langschiff der Wikinger (Bild 8). Ein geradezu unglaublich glücklicher Zufall, ist sein Fundort doch Teil des weltberühmten Wikingerschiffsmuseums, dessen Flotte historischer Replikate einen erweiterten Hafen bekommen sollte. Der ehemalige Museumsdirektor Ole Crumlin-Pedersen nimmt an, das seltene Stück habe dort einst vor Anker gelegen, sei aber bei einem Sturm untergegangen – auch einer der Nachbauten wurde bei ähnlicher Gelegenheit im Museumshafen schwer beschädigt.
Anhand der Jahrringfolge der Eichenplanken legten die Wissenschaftler das Baujahr auf etwa 1025 fest. Damals herrschte König Knut der Große (geboren um 995, gestorben 1035), der Dänemark, Norwegen, Südschweden und England in ein großes Wikingerreich vereinte. Mit 35 Metern übertraf dieses Langschiff alle bisher gefundenen – es gehörte damit zur Klasse der legendären "Drachen".
Der altnordische Begriff viking bezeichnet einen kriegerischen Streifzug auf See: Flotten solcher langen, schmalen Wasserfahrzeuge überfielen im Mittelalter die Küsten von Northumberland bis Nordafrika, brachten Pioniere zu den britischen Inseln und der Normandie und begründeten um 800 nach Christus die Seeherrschaft der Wikinger, die immerhin rund dreihundert Jahre währte.

Ein Meisterwerk der Schiffbaukunst

Seit 1751 wurden verschiedene Typen wikingischer Wasserfahrzeuge gefunden (Bild 5); die spektakulärsten Entdeckungen machte man in den königlichen Grabhügeln von Gokstad und Oseberg in Norwegen. Daß dieses Seefahrervolk etwas vom Schiffbau verstand, demonstrierte der norwegische Kapitän Magnus Andersson, der begeistert das 23 Meter lange Gokstadschiff nachbauen ließ und damit 1893 von Bergen nach Neufundland und von dort zur Weltausstellung nach Chicago segelte. Nicht nur bewältigte er diese Strecke von insgesamt 4800 Kilometer auf hoher See, er benötigte dafür auch nur 27 Tage und erreichte mehrfach eine Geschwindigkeit von gut 20 Kilometern pro Stunde.
Allerdings entsprach das Verhältnis von Schiffslänge zu -breite bei diesen Funden nicht den historischen Berichten, die von langen, schlanken Schiffen wußten (wie dieser Schiffstyp wohl auch eher als leichtes Kriegsschiff für küstennahe Gewässer gedacht war).
Das klassische Langschiff blieb im dunkeln, bis dänische Archäologen 1935 den Grabhügel eines Häuptlings bei Ladby untersuchten (Bild 5). Nur der Schatten eines Schiffes, das den Fürsten ins Totenreich führen sollte, hatte die Zeit überdauert: Dunkel verfärbte Erde zeichnete die Form des Rumpfs nach. Eiserne Spiralen markierten den Kamm eines Drachenkopfs am Bug, und sieben lange Reihen gleichfalls eiserner Nägel auf jeder Seite die Linien der vergangenen Planken. Das überschlanke Boot wirkte nach heutigen Maßstäben wenig seetüchtig: Bei einer Länge von 20,60 Metern war es mittschiffs nur 3,00 Meter breit, und der Abstand vom Kiel zur obersten Planke betrug gerade einen Meter. Nordische Sagen über bedeutend größere Langschiffe mit den gleichen extremen Proportionen galten deshalb als unglaubwürdig, bis 1953 entsprechende Schiffshölzer im Hafen von Haithabu gefunden wurden, dem einstigen Handelszentrum der Wikinger an der Grenze zum sächsischen und slawischen Siedlungsgebiet.
Der damals 18 Jahre alte Ole Crumlin-Pedersen lauschte fasziniert einer Radiosendung des fündigen Tauchers. Schon vier Jahre später war er in leitender Funktion an entsprechenden Unternehmungen beteiligt: der Bergung von zwei Langbooten und drei anderen Wikingerschiffen bei Skuldelev. Dort hatten dänische Stadtbewohner im 11. Jahrhundert die Fahrzeuge in einer Wasserstraße versenkt, um Angreifer zu behindern. Das mit 29 Metern größere der beiden Langschiffe hatte zuvor mindestens eine erfolgreiche Reise über die Nordsee absolviert: Sein Holz stammte von irischen Eichen, die um 1060 in der Nähe des Wikingerstützpunkts Dublin gefällt worden waren. Beide Schiffe wiesen zudem Verschleißspuren von mehreren Fahrten auf – ein Beleg ihrer Seetüchtigkeit. Crumlin-Pedersens war an der Bergung und Untersuchung jedes Langschiffs seit Ladby beteiligt, so auch 1979, als das 26 Jahre zuvor entdeckte Exemplar im Hafen von Haithabu gehoben wurde. Trotz seiner hervorragenden Bauweise aus makellosen Planken von zehn Metern Länge hatte man es dort um das Jahr 1000 als Brander benutzt, also während eines Angriffs auf die Stadt in Brand gesteckt und als Waffe verwendet. Auch hier wies das Holz eine Besonderheit auf: Es stammte von 300 Jahre alten Eichen der Umgebung, war also einstmals von Bewohnern Haithabus selbst gebaut worden. Ein Hinweis auf die wechselvolle Geschichte der in einem Grenzgebiet gelegenen Siedlung? Hatten die Wikinger versucht, ihre unter Fremdherrschaft geratene Stadt zurückzuerobern?

Genealogie eines Schifftyps

Die Funde seit 1935 zeigen das Spektrum damaliger Bauarten an Langschiffen. Kleine Mannschaftsboote mit bis zu 20 Ruderbänken (das Grabschiff von Ladby und das kleinere Kriegsschiff von Skuldelev) unterhielten die Gemeinden für den königlichen Kriegsdienst – wenn der König den symbolischen Kriegspfeil umhersandte, wurden sie zur Heerfolge rasch ausgerüstet. Langschiffe der Standardgröße mit bis zu 30 Ruderbänken zeugen von großer Kunstfertigkeit (das Exemplar von Haithabu und das größere Kriegsschiff von Skuldelev); sie waren der Stolz der Fürsten und Könige (Bild 1). Die sagenumwobenen großen Schiffe mit mehr als 30 Ruderbänken, wie das in Roskilde gefundene, erscheinen nur in den Kriegen der späten Wikingerdynastien.
Dem extremen Design all dieser Klassen liegt das Ideal einer optimalen Angriffsmaschine zugrunde. Der geringe Tiefgang ermöglichte über praktisch alle Wasserläufe weit landeinwärts vorzudringen, der flache Kiel erlaubte auf jedem Strand zu landen und sogar das Fahrzeug auf Rollhölzern über Land zu transportieren. Das Längen- zu Breitenverhältnis von oft mehr als 6:1 – sogar bis zu 11,4:1 beim Langschiff von Haithabu – gewährleistete einen geringen Wasserwiderstand und somit hohe Geschwindigkeit, ob das Boot gerudert oder gesegelt wurde.
Die Schiffbauer verringerten zudem das Gewicht. Davon zeugen die nur zwei Zentimeter starken Planken für den Rumpf sowie Spanten als quer verlaufende Strukturelemente, die auf größtmögliche Materialersparnis ausgelegt waren. Die gekonnte konstruktive Verwendung des Holzes gewährleistete Festigkeit und Elastizität (Bild 6). Im Streben nach technischer Vollkommenheit entstanden zugleich ästhetische Kurven von Vor- und Achtersteven. Ein Hofbarde rühmte den Drachen des Königs Harald des Harten (1046 bis 1066) so: "Wenn die Nordleute die Schlange, das klinkerbeplankte Schiff, den eisigen Fluß hinab rudern, so gleicht der Anblick dem von Adlerschwingen."
Diese Fahrzeuge waren der Höhepunkt einer 6000 Jahre währenden technischen Entwicklung, die vermutlich mit den an dänischen Küsten vielerorts gefundenen Einbäumen der Steinzeit einsetzte; die ältesten datieren auf etwa 5000 vor Christus (Bild 5a). Mit Feuerstein-Werkzeugen wurden bis zu zehn Meter lange Stämme des weichen, aber haltbaren Lindenholzes auf eine gleichmäßige Stärke von etwa zwei Zentimetern ausgehöhlt; eine solche schalenartige Konstruktion bedarf keiner weiteren Aussteifung. Damit paddelten Fischer offenbar aufs Meer, um Dorsch und Wal zu fangen, verwendeten sie aber auch für Raubzüge oder für die Überfahrt ins Totenreich. Solche Einbäume mögen das Ideal des leichten, offenen Wasserfahrzeugs mit geringem Tiefgang und einem langen, schmalen Rumpf geprägt haben. Etwa 2000 Jahre später bohrten Anrainer des Åmose-Flusses in Dänemark eine Reihe von Löchern in den oberen Rand ihrer Stammboote. Nun ließ sich eine gleichfalls gelochte Planke mittels Sehnen- oder Faserschnüren seitlich befestigen und somit die Bordwand erhöhen (Bild 5b). Beide überlappten einander; meines Erachtens hat sich daraus die charakteristische nordeuropäische Klinkertechnik entwickelt, bei der ein Plankengang – also eine Linie aus einer oder mehreren Planken hintereinander – dachziegelartig überlappend am anderen befestigt wurde. Die erhöhte Bordwand verbesserte die Seetüchtigkeit des Fahrzeugs; vom Wagemut der Besitzer zeugen Äxte aus dänischem Feuerstein, die weit im Norden Norwegens und Schwedens gefunden wurden.
Während der Bronzezeit (in Dänemark von 1800 bis 500 vor Christus) zeichnete sich die künftige Form allmählich ab, einschließlich der beiden hohen, mit Spiralen oder Tierköpfen gekrönten Steven. Die Krieger an Bord trugen oft jene gehörnten Helme, die nach wie vor in populären Darstellungen Wikinger kennzeichnen, obgleich sie zu deren Blütezeit längst aus der Mode waren.
Verzierungen auf Metallgeräten sowie Felsritzzeichnungen zeigen Boote mit schnabelförmigem Bugfortsatz (Bild 5 c). Er kommt sonst bei keinen europäischen Wasserfahrzeugen vor, sehr wohl aber bei Einbäumen des frühen 20. Jahrhunderts in Sibirien, Zentralafrika und dem Südpazifik, die ebenfalls durch Planken erhöht sind. Dem Schnabel, gebildet von der herausragenden Spitze des Bootsbodens, hat man einen gebogenen Ast angesetzt; er schützte den empfindlichen Vorsteven, an dem die Beplankung des vorderen Rumpfs abschloß. Im Laufe der Zeit könnte jenes Brustholz mit dem geschmückten Steven zu einem stark geschwungenen Bug verschmolzen sein.
Am Anfang der Eisenzeit entwickelte sich der Schnabel zum Wahrzeichen kriegerisch genutzter Boote (die Eisenzeit dauerte in Dänemark etwa von 500 vor bis 800 nach Christus). Zu hoch und zu schwach, um als Rammsporn zu dienen, schützte und stabilisierte er immerhin den Rumpf und wurde schließlich an beiden Enden angebracht. Die doppelendige Konstruktion erleichterte das Ablegen vom Strand, das Herausmanövrieren aus einem engen Wasserlauf – nach einem überraschenden Raubüberfall oder bei der Begegnung mit Feinden in einem engen Fjord konnte diese Wendigkeit über Tod und Leben entscheiden.
Ein solches Boot barg ein Moor in der Nähe von Hjortspring auf der dänischen Insel Ølsen – es wurde etwa 350 vor Christus gebaut (Bild 5d). Paddel, Waffen und andere Ausrüstung waren gemeinsam mit dem Fahrzeug in Stücke gehauen und im Moor geopfert worden. Das Boot hatte Schnäbel und große Steuerpaddel an beiden Enden. Für 1500 Jahre blieb diese Konstruktion an allen skandinavischen Kriegsschiffen erhalten, auch nachdem die Befestigung von Ruder, Mast und Segeln den Bug vom Heck unwiderruflich unterschied. Die Doppel-endigkeit war so auffällig, daß sie sogar in den wenigen römischen Kommentaren zu Skandinavien vermerkt wurde.
Das Hjortspring-Boot wies zwar noch Eigenarten steinzeitlicher Bauweise auf wie die Verwendung von Lindenholz für den Rumpf und das Anheften der überlappenden Planken mit Faserschnur. Aber der Einbaumuntersatz war auf eine schmale, leicht durchgebogene Bodenplanke reduziert, ein Schritt in Richtung des Wikingerkiels. Die sanfte Krümmung hatte zwei wesentliche Vorteile: Die höher gezogenen Enden boten einen Schutz vor Spritzwasser beim Durchschneiden von Wellen, und die tiefer liegende Schiffsmitte erleichterte das Wenden. Diese Absenkung mittschiffs betrug bei den Kielen der späteren Langschiffe nur 30 Zentimeter.
Die zwanzigköpfige Besatzung des Hjortspring-Bootes saß paarweise auf feingearbeiteten Spanten aus Linden-, Eschen- und Haselnußholz; ein Abstand von je 90 Zentimetern gab ausreichend Bewegungsfreiheit beim Paddeln. Diese Einteilung wurde in Skandinavien Standard, und man gab die Länge eines Fahrzeugs anhand der Leerräume zwischen den Spanten oder Bänken an. Diese großzügigen Abstände und die schmale Bodenplanke verliehen dem Rumpf des Hjortspring-Bootes eine bemerkenswerte Elastizität, während die Schalenbauweise Festigkeit gab.

Innovationen im Design

Die komplizierte Stevenkonstruktion wich schließlich einem eleganteren und einfacheren Rumpfabschluß. Crumlin-Pedersen vermutet den Ursprung dieser Technik im sogenannten gespreizten Einbaum (Bild e); die ältesten Exemplare dieses Bootstyps wurden auf der dänischen Insel Bornholm in Gräbern des ersten bis zweiten nachchristlichen Jahrhunderts gefunden. Das Problem, das diese Entwicklung motiviert hat, stellte sich freilich weltweit: Oft waren Baumstämme zu schmal für einen einfachen Einbaum. Unabhängig voneinander entstanden Techniken, den Stamm zu weiten: Dazu wurde er auf der Oberseite nicht abgetragen, sondern aufgeschlitzt und allmählich ausgehöhlt. Wenn man das meist noch frische Holz bis auf eine möglichst dünne Wand ausbeilte, ließen sich die Seiten durch Einsetzen von Spannstreben und mittels Erhitzen – also durch Dämpfen mit dem noch vorhandenen Wasser des Holzes – nach außen biegen. Gleichzeitig krümmten sich die Enden zu symmetrisch gebogenen Spitzen aufwärts.
In Nydam, einem nördlich von Haithabu gelegenen Moor, entdeckte man das bislang älteste Exemplar eines Bootes, das die Vorteile von Hjortspring-Typ und aufgespreiztem Einbaum verband; es wurde auf etwa 300 nach Christus datiert (Bild 5f). Die damaligen Schiffbauer hatten viel Neues eingebracht: Planken, Rippen und Steven waren aus Eichenholz, und vernietete Eisennägel statt Schnüre fixierten nun die Planken. Mehr noch: Die Besatzung saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und trieb das Boot mit langen Riemen vorwärts, die mit Schlaufen an Dollen auf dem Bordrand befestigt waren. Als wichtigste Neuerung jedoch erstreckten sich fünf breite Plankengänge auf jeder Seite bis zu den leicht geschwungenen Steven – dies leitete die klassische Heck-Bug-Gestaltung der Wikingerschiffe ein.
In der Zeit um 700, nur einhundert Jahre vor den ersten bedeutenden Streifzügen der Nordmänner, tauchten weitere Neuerungen auf. So ist ein Schiff aus Kvalsund im Westen von Norwegen überliefert, dessen Bodenplanke zu einem T-förmigen Kiel verschmälert war (Bilder 5g und 6). Es wurde überdies nicht mehr mit einem losen Paddel gesteuert, sondern mit einem fest angebrachten Seitenruder (Was allerdings auch schon für das Nydamschiff galt. Anmerkung der Redaktion). Weil das tiefer als der Rumpf eintauchte, wirkte es seitlicher Abdrift entgegen und verbesserte so die Kursstabilität. Schmalere Plankengänge, jetzt acht an der Zahl, ermöglichten eine anspruchsvollere Formgebung. Daß sich damit auch die Zahl der Nähte und demzufolge Leckagen vermehrte, wurde akzeptiert. Nach dem altnordischen Gesetz von Bjarkey war ein Boot erst dann seeuntauglich, wenn man es dreimal an zwei Tagen ausschöpfen mußte. Die Besatzung durfte die Fahrt mit einem solchen Boot aber nach eigenem Ermessen riskieren. Nordische Schiffe unter Segel sind ebenfalls erstmals um 700 belegt – als Darstellungen auf gotländischen Grabsteinen. Die frühesten erhaltenen Reste eines Masts stammen von einem königlichen Schiff, das erst etwa 815 gebaut und 835 in Oseberg als Totenfahrzeug begraben wurde. Das mag erstaunen, denn die Erfindung von Segeln lag bereits mehr als vier Jahrtausende zurück, und keltische Segler hatten Gewässer unweit von Skandinavien seit der Zeit des römischen Imperators Gaius Julius Cäsar (100 bis 44 vor Christus) befahren.
Nach Ansicht des norwegischen Experten Arne Emil Christensen hatte der Widerstand gegen Mast und Segel wohl eher kulturelle als technische Gründe: Harte Männer ruderten, Segeln mochte lange als faul und weichlich gegolten haben. Letztendlich obsiegten jedoch die damit verbundenen Vorteile: Energieersparnis und höhere Geschwindigkeit. Indem man eine untere Ecke des recht-eckigen Segels mit einer beweglichen Stange verband, ließ es sich in einen geeigneten Winkel zum Wind bringen, so daß die Seefahrer auch bis zu 60 Grad gegen den Wind kreuzen konnten.
Rudernd waren die Vorfahren der Wikinger über die Ostsee bis nach Finnland und Rußland sowie westwärts bis zu den britischen Inseln vorgedrungen. Aber mit dem Segel begann die wahre Expansion. Möglicherweise durch Überbevölkerung, soziale Spannungen infolge des Erstgeborenen-Erbrechts und einer Klimaverschlechterung in Skandinavien motiviert, zogen Wikinger von Dänemark und Norwegen west- und südwärts. Wenige Jahrzehnte nach dem brutalen Überfall auf das englische Kloster Lindisfarne 793 setzten größere Flotten Segel und legten in Buchten und Flußmündungen Britanniens und des Frankenreiches Brückenköpfe an, um von dort aus auch Städte im Landesinneren wie Aachen oder Metz zu überfallen (Bilder 3 und 4). Feste Siedlungen wurden gegründet, aber auch die Grenzen immer weiter nach Westen verschoben, beispielsweise erreichten Wikinger um 986 Grönland.
Ohne Segel wäre diese Expansion nicht möglich gewesen. Es bestimmte auch überwiegend die letzten technischen Entwicklungen wie tiefere Kiele, breitere Rümpfe und höhere Seiten. Für Raubzug, Entdeckungreisen, Kolonisation, Handel oder Repräsentation entstanden verschiedene mit den Langschiffen verwandte Schiffstypen, die das Entwicklungspotential von Mast und Segel nutzten. So trug der Knorr, ein fest gebautes Segelschiff mit tiefem Kielraum, Wikinger um die Jahrtausendwende über den Atlantik an die nordamerikanische Ostküste.
Kleinere, in dieser Schiffbautradition stehende Boote waren noch Jahrhunderte lang als Fracht- oder Kirchenboote in abgelegenen Regionen wie den westlichen Inseln von Norwegen oder den schwedischen Binnenseen in Gebrauch. Nach 1100 wurde jedoch die flachbodige Kogge zum Ahnherr der nächsten großen Entwicklungsreihe von Segelschiffen, einschließlich der Flaggschiffe skandinavischer Monarchen.
In einer Welt der befestigten Hafenstädte, der organisierten Kriegführung auf See, der Könige, die den Pomp und Komfort einer Bordkabine forderten, konnte sich das für Überfälle und Streifzüge konstruierte Wikingerlangboot nicht behaupten. Das letzte Aufgebot solcher Kriegsschiffe wurde 1429 einberufen, um Bergen (Norwegen) gegen einen Angriff von Hansepiraten zu verteidigen. Die Koggen siegten, vielleicht aufgrund eines Wandels der Waffentechnik: Ihre hohen Decks waren sehr effektive Plattformen, um flachere Schiffe unter Beschuß zu nehmen. Der Drache wurde Legende (Bild 2).

Originaltreue Nachbauten

Seitdem Andersen 1893 mit seinem Replikat des Gokstadschiffs, der "Viking", den Nordatlantik überquert hatte, stellten Nachbauten immer wieder die erstaunliche Seetauglichkeit und Elastizität wikingerscher Segelschiffe unter Beweis.
Ein Langboot war erstmals 1963 Vorbild, als dänische Pfadfinder das Schiff von Ladby rekonstruierten. Sie wollten praktisch überprüfen, ob – wie auf dem von 1066 stammenden Teppich von Bayeux dargestellt – solche Kriegsschiffe mitunter auch Pferde an Bord hatten (Bild 8). Tatsächlich hatte man die Skelette von zwölf Tieren in dem Grabschiff gefunden; doch war dies ein Ausdruck besonderer Macht des Verstorbenen oder ein Indiz für den Transport von Pferden zur See? Konnten die Tiere vom Strand an Bord gelangen und umgekehrt? Falls ja, wäre dies eine Erklärung dafür, daß die Wikinger an einer relativ niedrigen Bordwand festgehalten hatten, obwohl Erhöhen die Seetauglichkeit verbessert hätte. Pferde, Pfadfinder und Schiffsrumpf bestanden jede Prüfung; auf offener See erwies sich das Schiff als unerwartet schnell und leicht handhabbar.
Nach der Bergung der Skudelev-Schiffe 1962 wurde in Roskilde das erwähnte Wikingermuseum gebaut, um Funde rekonstruieren und ausstellen zu können. So entstand dort 1991 "Helge Ask", eine genaue Rekonstruktion des mit 17 Metern kleineren Langschiffs von Skuldelev. Mit nur der Hälfte der mittelalterlichen Besatzung von 24 Männern an den Riemen überholte es einen Nachbau des kleineren, breiteren Skuldelever Handelsschiffs mit Leichtigkeit – Beleg seiner Eignung für die Piraterie. Auch unter Segeln war das Langschiff mit durchschnittlich fast acht Knoten deutlich schneller.
Das Handelsschiff segelte zwar geschwinder gegen den Wind, aber die Besatzung der "Helge Ask" konnte es einholen, indem sie ihr Segel barg und weiter ruderte. Crumlin-Pedersen schätzt, daß ein Langschiff unter allen denkbaren Bedingungen außer heftigem Sturm sein Opfer einzuholen vermochte. So überliefern auch die Sagen, daß ein Wikinger namens Gauti Tofason mit seinem Langboot vier dänische Knorre enterte. Kurz bevor er auch den fünften erreichte, kam Sturm auf und beendete die Jagd.
In den letzten hundert Jahren wurden mehr als 30 Schiffe aller Klassen rekonstruiert, die oftmals ein Heer von Freizeit-Wikingern instand hält und nutzt. In Roskilde unternimmt der Bootsverein um "Helge Ask" Fahrproben und Vergnügungsfahrten im Sommer, verfrachtet das Boot über Land, um Beschreibungen von Schleppstellen zu prüfen (Bild 9), repariert es im Winter und berichtet über all diese Aktivitäten im Internet. Ein Jahrtausend nach dem Bau der Langschiffe expandieren Wikinger – allerdings friedlich – in ein neues Medium.

Literaturhinweise

– The Viking Ships. Von A. W. Brügger und Haakon Shetelig. Twayne Publishers, New York 1971, und C. Hurst, London 1971.
– Plank-Built in the Bronze Age. Von John R. Hale in: Antiquity, Band 54, Heft 211, Seiten 118 bis 126, 1980.
– Sailing into the Past: Proceedings of the International Seminar on Replicas of Ancient and Medieval Vessels. Herausgegeben von Ole Crumlin-Pedersen und Max Vinner. Wikingerschiffmuseum Ros-kilde 1986.
– The Earliest Ships: The Evolution of Boats into Ships. Herausgegeben von Robert Gardiner und Arne Emil Christensen. Naval Institute Press, Annapolis 1996.
– Viking-Age Ships and Shipbuilding in Hedeby/Haithabu and Schleswig. Von Ole Crumlin-Pedersen. Wikingerschiffmuseum Roskilde und Landesmuseum für Archäologie, Schleswig 1997.
– Eine Liste relevanter Links im World Wide Web – auch zu Abbildungen des Teppichs von Bayeux – finden Sie unter http://www.iau.dtu.dk/~lh/helge/helge.html#links


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1998, Seite 88
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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