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Mathematik: Das Rätsel der Schneeflocke

Die Mathematik der Natur
Aus dem Englischen von Andrea Kamphuis, Brigitte Post, Regina Schneider und Sebastian Vogel. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002. 224 Seiten, € 29,95


Schneeflocken haben, unter der Lupe betrachtet, eine filigrane, baumartig verzweigte Struktur von großer Regelmäßigkeit – sechszählig dreh- und spiegelsymmetrisch – und zugleich enormem Formenreichtum: Keine zwei Flocken scheinen sich zu gleichen. Wie lässt sich diese rätselhafte Kombination von Eigenschaften erklären?

Diese Frage nimmt Ian Stewart zum Anlass, einen viel größeren Bogen zu spannen. Schneeflocken sind Paradebeispiele, die viele wichtige Phänomene der natürlichen Strukturbildung zeigen: Symmetrie und Symmetriebrechung, Bifurkationen, Phasenübergänge, Komplexität, Chaos und fraktale Geometrie.

Etwa die Symmetrie der Blüten: Eine winzige chemische Änderung, die Methylierung eines Gens, macht den Unterschied zwischen der fünfzählig drehsymmetrischen und der nur spiegelsymmetrischen Variante aus. Auch anderswo können winzige Abweichungen in den Ursachen gewaltige Folgen haben, wie bei Wasser, das plötzlich gefriert, wenn die Temperatur den Nullpunkt unterschreitet, oder in der Evolutionsbiologie, wo kleine Veränderungen der Umweltbedingungen zur Aufspaltung von Arten führen können. Man sagt, das System durchläuft einen Phasenübergang oder eine Bifurkation (Verzweigung).

Solche Phänomene wirken noch ordentlich und vorhersagbar. Wenn man dagegen Eiweiß schlägt, beschreibt der Schneebesen in der Schüssel zwar einfache Bahnen, aber das Eiweiß wird auf so komplizierte Weise verquirlt, dass die einzelnen Partikel praktisch unvorhersagbare, chaotische Bahnen einschlagen. Auch sehr dicht benachbarte Partikel gehen irgendwann getrennte Wege und landen in ganz unterschiedlichen Regionen der Schüssel. Diese intensive Vermischung der Eiweißpartikel miteinander und mit Luft hat zwei diametral verschiedene Folgen: Die Position eines einzelnen Eiweißpartikels ist nicht vorhersagbar, aber das Gesamtergebnis Eischnee dafür um so mehr.

Und was hat das alles mit Schneeflocken zu tun? Die Auflösung dieses Rätsels kommt erst ganz am Schluss des Buches, nachdem alle Zutaten dafür schon bereitstehen. Ihre sechszählige Symmetrie hat die Schneeflocke vom Kristallgitter des Wassers geerbt. Physikalische Faktoren wie Temperatur und Übersättigung der Luft mit Wasserdampf legen nun die allgemeine Gestalt der Kristallkeime fest. Bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt und relativ niedriger Übersättigung entstehen hexagonale Plättchen, einfache Sechsecke, deren gerade Kanten beim Wachstum stets gerade bleiben. Bei ansteigender Übersättigung sind nicht mehr alle Punkte entlang der Kante gleichberechtigt, und die Dynamik des Flockenwachstums durchläuft eine Bifurkation. Winzige Unregelmäßigkeiten werden jetzt verstärkt, auf den Kanten wuchern spitze Auswüchse (wobei allerdings nicht klar wird, wieso dabei die sechszählige Symmetrie erhalten bleibt) und auf diesen sekundäre Auswüchse. So kommt es zu fraktalem Wachstum, das farnartige Gebilde entstehen lässt. Und dieser Vergleich ist kein Zufall, denn Farnwedel und viele andere Strukturen im Pflanzen- und Tierreich wachsen gemäß ganz ähnlichen Mechanismen (womit wir wieder beim Thema wären). Die Formenvielfalt der Schneeflocken kommt nun dadurch zu Stande, dass es im Innern der Wolke, wo sie entstehen, so chaotisch zugeht wie im entstehenden Eischnee.

Spektrum-Leser kennen viele der einzelnen Bausteine des Buchs schon aus den "Mathematischen Unterhaltungen". Sie sind hier nun, aufgehängt an der zentralen Frage "Wie bekommt die Schneeflocke ihre Form?", in einem Werk zusammengestellt. Anders als in den "Mathematischen Unterhaltungen" verzichtet Stewart weitgehend auf mathematische Formeln und Begriffe; trotzdem gelingt es ihm, alles hinreichend genau zu erklären. Einige Phänomene wirken dabei allerdings klarer, als sie tatsächlich sind. So ist etwa die Kristallstruktur von Eis – die Grundlage für die Schneeflockengeschichte – in der Physik noch gar nicht abschließend geklärt.

Gut schreiben kann Stewart bekanntermaßen, unterhaltsam und eben doch mathematisch präzise. Alles ist klar und gut lesbar, man hat nicht das Gefühl, dass etwas erklärt wird, eher, dass man etwas erzählt bekommt. Immer wieder kommt der Autor dem nicht mathematisch vorgebildeten Leser entgegen, sei es dass er etwas durch Alltagsbeispiele veranschaulicht, Anekdoten erzählt oder sich für Merkwürdigkeiten des mathematischen Denkens entschuldigt.

Das Buch ist sorgfältig übersetzt und liebevoll bebildert. Ein paar kleine sachliche Fehler haben sich eingeschlichen, und das eine oder andere Argument ist bei näherem Hinschauen nicht vollkommen schlüssig. Aber das ist bei der Breite der behandelten Themen kaum zu vermeiden und schmälert die Qualität dieses Buches in keiner Weise.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 93
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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