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Das Rätsel der 'unbekannten Frau'

Molekulare Genetik erschließt DNA aus archäologischen Funden – etwa für Verwandtschaftsanalysen; und diese bergen mitunter Überraschungen.


Noch vor wenigen Jahren erschien es so unwahrscheinlich, Erbsubstanz aus archäologischen Funden zu gewinnen, wie das Klonen von Dinosauriern in "Jurassic Park". Das änderte sich 1985 mit der Erfindung der Polymerase-Kettenreaktion, dem heute routinemäßig eingesetzten Kopierverfahren für ausgesuchte DNA-Abschnitte. Selbst sehr geringe Ausgangsmengen lassen sich damit für Analysen ausreichend vervielfältigen. Die möglichen Anwendungen in der Archäologie sind Legion: Fragmente von Schriftstücken lassen sich molekulargenetisch besser zuordnen, die Farben von Höhlenmalereien auf organische Pigmente untersuchen, Familienzugehörigkeiten in Gräbern aufstellen. Allerdings ist das Arbeiten mit alter Erbsubstanz (ancient DNA, aDNA) so anspruchsvoll, dass derzeit nur wenige spezialisierte Arbeitsgruppen über die nötigen Techniken und speziellen Kenntnisse verfügen.

Die DNA speichert den Bauplan und die physiologischen Prinzipien der Lebensabläufe für den gesamten Organismus. Sie kommt in jeder Zelle mehrfach vor: im Zellkern (nukleare DNA) und in ihren "Kraftwerken", den Mitochondrien des Zellplasmas (mitochondriale DNA). Erstere eignet sich beispielsweise, um ein Individuum zu identifizieren; man spricht vom genetischen Fingerabdruck. Der Grund: Bei der Verschmelzung von Ei und Samen werden die Erbanlagen der Eltern zu einem unverwechselbaren neuen genetischen Muster vermischt. Zugleich lässt sich auch die väterliche Linie rekonstruieren, denn Teile des Y-Chromosoms gelangen unverändert von Vätern zu den Söhnen. Dagegen wird die mitochondriale DNA nur über die Mutter vererbt – alle Nachkommen in ihrer Linie zeigen demnach gleichartige genetische Muster in dieser Erbsubstanz. Zudem charakterisieren bestimmte Abschnitte der mitochondrialen DNA die biologische Art, der ein Individuum angehört.

Ein Beispiel dazu: Anhand schriftlicher Quellen erstellten Genealogen einen Familienstammbaum der Grafen von Königsfeld (Bayern), eines Adelsgeschlechts, das zu Beginn des 16. Jahrhunderts seinen Anfang nahm und zwei Jahrhunderte andauerte. Skelette in der Familiengruft konnten über Inschriften der Grabtafeln diesem historischen Stammbaum zugeordnet werden, nur das einer Frau war nicht zu identifizieren. Zur Kontrolle wurde DNA aus den Knochen extrahiert und analysiert. Nun fand nicht nur die Unbekannte ihren Platz im Stammbaum, es gab auch einige Überraschungen: So waren offensichtlich zu einem unbekannten Zeitpunkt Grabplatten vertauscht und deshalb in der Genealogie einige Skelette falsch zugeordnet worden. Vor allem aber wurde eine bis dahin unbekannte Unterbrechung der väterlichen Linie im 17. Jahrhundert entdeckt. Offensichtlich hatte eine der Gräfinnen eine Liebschaft mit einem Unbekannten, aus der dann der offizielle Erbfolger entspross.

Für solche Untersuchungen muss zunächst die aDNA aus der Probe entnommen werden. Dabei bestimmt mehr die Qualität des Extrakts als seine absolute Menge über den Erfolg der anschließenden Vervielfältigung mittels Polymerasekettenreaktion (PCR, siehe dazu Spektrum der Wissenschaft 4/2000, S. 117). Diese basiert vor allem auf synthetisch hergestellten DNA-Abschnitten, so genannten Primern.

Deren Sequenz, also die Abfolge der Basen genannten Bausteine der DNA, entspricht bestimmten, für die jeweilige Fragestellung charakteristischen Abschnitten der Erbsubstanz. Kommen diese im Extrakt vor, werden die Primer da-ran ankoppeln. Sodann fungieren sie als Starter-Moleküle für die Vervielfältigung, an deren Ende – hoffentlich – eine ausreichende Menge der gesuchten aDNA-Sequenz für die folgenden Analysen zur Verfügung steht.

Scheitert dieses Vorhaben, enthielt das Extrakt vielleicht Substanzen, die eine PCR hemmen. Die häufigste Ursache dürfte aber ein schlechter Erhaltungszustand der aDNA sein. Während Erbsubstanz aus frisch gewonnenem Blut viele tausend Basenpaare lang sein kann, sind es bei archäologischen Funden je nach den Bedingungen der Fundsituation und Aufbewahrung – das absolute Alter hat einen geringeren Einfluss – meist nur noch wenige hundert. Unter Umständen finden die Primer dann keine intakte Zielsequenz mehr.

Umgekehrt bedeutet eine erfolgreiche Vervielfältigung keineswegs, dass die Probe die gesuchte aDNA enthielt. Das hochsensible Verfahren kopiert auch Verunreinigungen, also DNA an oder in der Probe, die nicht zum fraglichen Gewebe gehörte. Deren Quellen sind schnell genannt: Etwa im Boden lebende Mikroorganismen aus der unmittelbaren Umgebung des Fundortes, vor allem aber Archäologen, Restauratoren und Molekularbiologen selbst, die ja mit den Artefakten in Berührung kommen. Da sich solche Verunreinigungen an der Oberfläche des Probenmaterials befinden, müssen zunächst alle außen liegenden Flächen des Fundstücks entfernt werden. Um die Authentizität der Ergebnisse einer PCR-Analyse sicher zu stellen, werden außerdem mehrere Proben von verschiedenen Stellen eines Fundstückes untersucht.

Diese Technik erweitert die Möglichkeiten der Archäologen, findet aber auch andere Liebhaber: Mit den Verfahren lassen sich geringe Spuren gentechnisch veränderter Pflanzen nachweisen oder die Deklaration der in Nahrungsmitteln verarbeiteten Tiere und Pflanzen überprüfen. Die Biodiversitätsforschung sucht mittels aDNA-Analytik nach wirtschaftlich wertvollen genetischen Informationen in Exemplaren museal aufbewahrter alter Sorten oder Landrassen. Das weitere Spektrum der Anwendungen reicht von der Kriminaltechnik bis hin zu Brauch- und Abwasserkontrollen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2001, Seite 89
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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