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Oktober 1985: Das Raster-Tunnelmikroskop

Mit einem neuartigen Mikroskop kann man Oberflächenstrukturen Atom für Atom sichtbar machen. Die Vielseitigkeit des Instruments wird sich wahrscheinlich für Forscher in Physik, Chemie und Biologie als nützlich erweisen.
Strukturdetail

»Die Oberfläche hat der Teufel erfunden«, sagte einmal der berühmte Physiker Wolfgang Pauli. Grund seiner Verzweiflung war die einfache Tatsache, daß die Oberfläche eines Festkörpers nichts anderes als eine Grenze zwischen ihm und der äußeren Welt ist. Während ein Atom im Innern eines Festkörpers ganz von anderen Atomen umgeben ist, kann ein Atom an der Oberfläche nur mit anderen Oberflächenatomen und Atomen gerade unter der Oberfläche wechselwirken. Die Eigenschaften einer Oberfläche unterscheiden sich deshalb sehr stark von denen im Innern eines Festkörpers. Die Oberflächenatome können sich beispielsweise, um ihre Energie zu verkleinern, ganz anders ordnen als die Atome im Innern des Festkörpers. Dadurch entstehen Verflechtungen in der Ordnung der Oberflächenstrukturen, die man bisher weder experimentell noch theoretisch präzise beschreiben konnte.

Im IBM-Forschungszentrum in Zürich haben wir ein Gerät entwickelt, mit dem wir diese Verflechtungen auf quantitative Weise studieren können: das Raster-Tunnelmikroskop (englisch Scanning Tunneling Microscope, kurz STM). Dieses Mikroskop macht es möglich, jedes einzelne Atom einer Oberfläche zu »sehen«. Es kann sogar Merkmale in der Größe eines hunderstel Atomdurchmessers auflösen.

Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen— beispielsweise für die Mikroelektronik. Die immer kleiner werdenden Siliciumchips, die eine Schlüsselrolle in der Computerindustrie spielen, haben im Verhältnis zu ihrem Volumen eine immer größer werdende Oberfläche; für die Funktion des Chips und seine Wechselwirkung mit anderen logischen Bausteinen wird sie immer wichtiger. Das Raster-Tunnelmikroskop wird sicherlich auch Beiträge zum Verständnis anderer physikalischer, chemischer und biologischer Phänomene leisten.

Das Raster-Tunnelmikroskop ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. Die Mikroskopie scheint ihren Anfang im 15. Jahrhundert genommen zu haben, als man begann, einfache Vergrößerungsgläser zur Beobachtung von Insekten herzustellen. Im späten 17. Jahrhundert entwickelte dann Anton van Leeuwenhoek das optische Mikroskop, das die Existenz von Zellen, Krankheitserregern und Bakterien offenbarte.

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Obwohl sich das optische Mikroskop in ein hochentwickeltes und vielseitiges Werkzeug entwickelt hat, stößt es an eine physikalische Grenze: Es kann keine atomaren Strukturen auflösen. Der Grund liegt darin, daß die durchschnittliche Wellenlänge des Lichts rund 2000mal größer ist als der Durchmesser eines normalen Atoms, der etwa 3 Angström beträgt. (Ein Ängström ist ein zehnmillionstel Millimeter.) Der Versuch, atomare Strukturen mit Lichtwellen zu untersuchen, kommt deshalb dem Versuch gleich, Haarrisse in einem Tennisplatz zu finden, indem man Tennisbälle gegen seine Oberfläche schlägt.

Auflösung atomarer Strukturen

Die ersten erfolgreichen Untersuchungen atomarer .Strukturen waren eine direkte Folge einer fundamentalen Entdeckung der Quantenmechanik : Licht und andere Formen der Energie können sowohl Wellen- als auch Teilcheneigenschaften haben. Im Jahre 1927 bestätigten Clinton J. Davisson und Lester H. Germer von den Bell Telephone-Laboratorien in den USA die Welleneigenschaft des Elektrons. Sie entdeckten außerdem, daß ein Elektron mit hoher Energie eine kürzere Wellenlänge hat als ein Elektron mit niedriger Energie.

Falls das Elektron nun eine genügend hohe Energie hat, so ist seine Wellenlänge vergleichbar mit dem Durchmesser eines Atoms. Diese Tatsache ermöglichte die Erfindung des Elektronenmikroskops. Mit diesem Mikroskop konnte man in dünnen Kristallfilmen Projektionen von Atomreihen und sogar Atomorbitale beobachten.

Warum war es nötig, eine neue Art von Mikroskop zu entwickeln, wenn das Elektronenmikroskop bereits eine derart große Auflösung hat? Obwohl die Elektronenmikroskopie sich für die Beobachtung von Volumeneigenschaften als sehr erfolgreich erwiesen hat, kann sie — mit Ausnahme spezieller Situationen — keine Oberflächenstrukturen auflösen.

Ein Hochenergie-Elektron dringt sehr tief in die Materie ein und sagt deshalb wenig über die Oberflächenstruktur aus. Ein Niederenergie-Elektron aber kann sehr leicht von Ladungen und von den elektrischen und magnetischen Feldern der Probe abgelenkt werden.

Im Jahre 1955 machte Erwin W. Müller einen beachtlichen Fortschritt: Er erfand das sehr oberflächenempfindliche Feldionen-Mikroskop. Leider ist sein Anwendungsbereich klein: Die Probe muß auf einer Nadelspitze sitzen, die nur einige Ängström breit ist, und sie muß gegenüber den hohen elektrischen Feldern, die ein Merkmal dieser Technik sind, stabil sein.

Durch das Prinzip, auf dem die Funktion des Raster-Tunnelmikroskops beruht, lassen sich alle diese Schwierigkeiten umgehen. Es unterscheidet sich von allen anderen Mikroskopen dadurch, daß es keine freien Teilchen verwendet: Darum bedarf es keiner Linsen und besonderen Licht- und Elektronenquellen. Statt dessen dienen die in der Probe gebundenen Elektronen als einzige Quelle zur Erforschung der Oberfläche.

Stellen Sie sich, um dieses Prinzip zu verstehen, einmal vor, daß die Elektronen, die an die Oberfläche gebunden sind, dem Wasser entsprechen, das vom Ufer eines Sees eingeschlossen ist. Ein Teil des Seewassers sickert ins angrenzende Land und bildet dort Grundwasser; ganz ähnlich gelangen die Elektronen der Oberfläche in die Umgebung und bilden dort eine Elektronenwolke.

Folgt man der klassischen Physik, könnte eine solche Elektronenwolke nicht existieren: Die Elektronen würden am scharfen Rand des Festkörpers reflektiert. In der Quantenmechanik aber verhält sich ein Elektron wie eine Welle: Sein Aufenthaltsort ist »verschmiert« ; Elektronen können demnach auch außerhalb der Oberfläche existieren.

Die Wahrscheinlichkeit, ein Elektron außerhalb des Festkörpers zu finden, verkleinert sich sehr stark — exponentiell — mit zunehmendem Abstand. Da es scheint, als grüben sich die Elektronen einen Tunnel aus dem Festkörper hinaus, bezeichnet man diesen Effekt als »Tunneln«.

Experimentell hat Ivar Giaever von der General Electric Company diesen Tunnel-Effekt von Elektronen bereits vor etwa 25 Jahren bestätigt. Er trennte zwei Metallplatten — Elektroden —durch eine dünne, starre und isolierende Schicht. Der Abstand zwischen den Platten war so klein, daß die jeweiligen Elektronenwolken leicht überlappten.

Eine von außen angelegte Spannung erzeugte eine Potentialdifferenz zwischen den Elektroden; daraufhin flossen Elektronen durch die überlappenden Elektronenwolken hindurch von einer Platte zur anderen. Dieser Fluß ähnelt dem Grundwasserfluß zwischen zwei benachbarten Seen, die auf unterschiedlicher Höhe liegen.

Eine modifizierte Tunnelanordnung

Im Vergleich zur normalen Tunnelanordnung machten wir bei unserem Raster-Tunnelmikroskop einige Änderungen. Zuerst ersetzten wir eine der Elektroden durch die Probe, die wir eigentlich untersuchen wollten. Dann ersetzten wir die andere Elektrode durch eine scharfe, nadelähnliche Spitze und schließlich die starre isolierende Schicht durch einen nachgebenden Isolator —beispielsweise eine Flüssigkeit, ein Gas oder das Vakuum —, damit wir mit der Spitze den Umriß der Probe abrastern konnten.

Um die Oberfläche abzurastern, bewegen wir die Spitze in Richtung Oberfläche, bis sich die Elektronenwolken von Spitze und Probe sanft berühren. Beim Anlegen einer Spannung zwischen Probe und Spitze fließen Elektronen innerhalb der Elektronenwolken durch einen engen Kanal. Diesen Strom nennt man den Tunnelstrom. Da die Dichte einer Elektronenwolke experimentell mit der Distanz zur Oberfläche abfällt, ist der Tunnelstrom sehr empfindlich auf Änderungen der Entfernung zwischen Spitze und Probe. Wenn man beispielsweise die Distanz zwischen Spitze und Oberfläche der Probe um den Durchmesser eines Atoms vergrößert, wird der Tunnelstrom bis zu tausendmal verkleinert.

Wir nutzen nun diese Empfindlichkeit des Tunnelstroms gegenüber Distanzänderungen, um die vertikale Position von Atomen auf der Oberfläche äußerst präzise zu bestimmen. Während die Spitze über die Oberfläche fährt, mißt ein Regler den Tunnelstrom und hält die Spitze auf gleichbleibendem Abstand zu den Oberflächenatomen; sie folgt also der äußeren Form der Oberfläche.

Ein Computer registriert und verarbeitet die Bewegung der Spitze und stellt sie auf einem Bildschirm oder Schreiber dar. Fährt man immer in parallelen Linien über die Oberfläche, erhält man dadurch ein dreidimensionales Oberflächenbild. Ein Abstand von 10 Zentimetern auf dem Bild entspricht einem Abstand von 10 Ängström auf der Oberfläche, also einer hundertmillionenfachen Vergrößerung.

Wie ist es möglich, mit der Spitze über die Oberfläche zu fahren und gleichzeitig einen Abstand von 10 Ängström mit einer Genauigkeit von weniger als 0,1 Ängström einzuhalten? Zuerst muß man das Mikroskop gegen Erschütterungen, die zum Beispiel durch Schall in der Luft oder durch Schritte in einem Gebäude entstehen, abschirmen. Zweitens muß die Führung der Spitze sehr genau sein. Schließlich muß die Spitze so scharf sein, wie es von den Grenzen der Steifheit und Stabilität her möglich ist.

Zwei Dämpfungsstufen sind innerhalb eines zylindrischen rostfreien Stahlrahmens an Federn aufgehängt und schützen so den Tunnelabstand vor Erschütterungen. Beide Stufen sind aus Glasstangen mit dreieckigem Querschnitt aufgebaut. Die innere Stufe ist innerhalb der äußeren Stufe an drei Federn aufgehängt. Die äußere Stufe wiederum hängt an drei Federn am Stahlrahmen. Die innere Stufe trägt das Herz des Mikroskops: Sie enthält sowohl die Probe als auch die Spitze.

Befindet sich das ganze Mikroskop im Vakuum, ist der Luftwiderstand sehr klein; dadurch federn die äußere und innere Stufe nahezu unendlich lange auf und ab, wenn sie einmal gestört werden. Um diese Bewegung der beiden Stufen abzubremsen, verwenden wir das Phänomen der Wirbelstromdämpfung. Wir lassen Kupferplatten, die am Boden des Stahlrahmens und an der inneren Stufe befestigt sind, und Magnete, die an der äußeren Stufe befestigt sind, sich gegeneinander bewegen. Während sich nun jede Platte relativ zu den Magneten bewegt, bewirkt das Magnetfeld eine Bewegung der Leitungselektronen im Kupfer: Ein sogenannter Wirbelstrom fließt. Die Wechselwirkung zwischen Wirbelstrom und Magnetfeld bremst die Bewegung der Platten und schützt dadurch das Mikroskop vor den kleinsten Erschütterungen.

Wenn einmal die größten Erschütterungen abgeklungen sind, kann man die Probe positionieren. Speziell dazu wurde eine Art Fahrzeug entwickelt, das die Probe an einer horizontalen Metallplatte auf der inneren Stufe herumfahren kann. Der Körper des Fahrzeugs besteht aus einem Stück piezoelektrischen Materials, das sich beim Anlegen einer Spannung ausdehnt oder zusammenzieht.

Das Fahrzeug hat drei im Dreieck angeordnete Metallfüße, die mit einem dünnen Isolator überzogen sind. Jeder Fuß läßt sich an die Metallplatte anklammern, indem man zwischen ihn und die Metallplatte eine Spannung anlegt.

Wir bewegen das Fahrzeug folgendermaßen : Wir klammern einen Fuß an die Metallplatte an und legen eine Spannung an den Körper, so daß er sich zusammenzieht. Dadurch werden sich die beiden anderen Füße leicht bewegen. Dann klammern wir die beiden anderen Füße an, lösen den dritten Fuß und nehmen die Spannung vom Körper weg, der sich dadurch wieder auf seine normale Größe ausdehnt : Das Fahrzeug hat einen Schritt getan. Die Schrittweite läßt sich zwischen 100 und 1000 Ängström variieren. Da das Fahrzeug um jeden Fuß drehbar ist, kann es sich auf der Metallplatte in jede gewünschte Richtung bewegen.

Abrasterung von Oberflächen

Wenn nun das Fahrzeug die Probe in die gewünschte Tunnelposition gebracht hat, fangen wir an, die Oberfläche der Probe abzurastern. Wir gebrauchen ein starres, aus drei piezoelektrischen Stäben gefertigtes Dreibein, um die Spitze der Abtastnadel zu bewegen. Sobald wir eine Spannung an einen der Stäbe anlegen, um ihn auszudehnen oder zusammenzuziehen, verbiegen sich die beiden anderen Stäbe leicht. Dadurch bewegt sich die Spitze entlang einer geraden Linie über Distanzen bis zu 10.000 Angström.

Die Bewegung reagiert sehr empfindlich auf die angelegte Spannung: Eine Spannung in der Größenordnung von 0,1 Volt erzeugt eine Bewegung von 1 Ängström. Die Genauigkeit dieser Apparatur ist so groß, daß vorläufig nur Erschütterungen die vertikale Auflösung begrenzen; sie liegt im Moment bei einigen hundertstel Angström.

Die Schärfe der Spitze begrenzt die laterale Auflösung. In dieser Beziehung ist die Natur entgegenkommend: Es ist relativ einfach, scharfe Spitzen mit Radien von 6 bis 12 Angström herzustellen, indem man das Ende einer Wolframnadel zurechtschleift.

Will man eine laterale Auflösung von 2 Angström erreichen, muß jedoch ein einziges Atom auf der Spitze der Nadel sitzen. Normalerweise kommt ein solches Atom von der Probenoberfläche selbst ; dieses Atom wird durch die hohen elektrischen Felder, die sich bei Spannungen von 2 bis 10 Volt zwischen Probe und Spitze ergeben, aus der Oberfläche herausgelöst. Glück spielt in dieser letzten Stufe der Spitzenformung eine große Rolle; wir versuchen, die Spitze durch Beschuß mit einem hochenergetischen IonenStrahl zu schärfen. Dadurch kann man die Atome der Spitzenoberfläche auf sehr kontrollierte Art und Weise wegschlagen.

Neben dem Abtasten der Oberflächentopographie kann das Raster-Tunnelmikroskop auch die atomare Zusammensetzung einer Oberfläche erkennen,. denn der Tunnelstrom hängt sowohl vom Tunnelabstand als auch von der Elektro nenstruktur der Oberfläche ab; jedes Element hat seine eigene Elektronenstruktur.

Das RasterTunnelmikroskop wird durch seine Fähigkeit, sowohl die elektronische als auch die topographische Struktur aufzulösen, zu einem nützlichen Werkzeug in Physik, Chemie und Biologie. Wir untersuchten zuerst den einfachsten Fall: die Oberflächentopograhie eines Einkristalls mit einer homogenen Struktur. Kristalle bestehen aus übereinanderliegenden identischen Atomebenen. Ergebnisse von Beugungsexperimenten zeigen lediglich, daß die oberste Ebene verschieden ist von den anderen Ebenen und komplizierter als diese; jedoch war es sehr schwierig, die Struktur der obersten Ebene zu bestimmen.

Die Silicium-Oberfläche

Die bekannteste Oberflächenstruktur ist die rhombusförmige Einheitszelle von Silicium. Da die Kanten dieser Einheitszelle sieben Atomabstände lang sind, bezeichnet man sie als 7 x 7-Zelle. Jede Zelle enthält zwölf Hügel, die man bisher noch nie sichtbar machen konnte.

Jeder dieser Hügel entspricht offenbar einem Atom. Obwohl die Anordnung der Oberflächenatome ästhetisch ansprechend erscheint, ist sie recht kompliziert — im Gegensatz zur relativ einfachen Struktur einer Ebene im Innern von Silicium: Dort hat eine Einheitszelle eine 49mal kleinere Fläche und enthält nur zwei Atome. Ein anderer großer Unterschied liegt darin, daß die Oberfläche viel rauher ist als eine Ebene im Innern des Siliciums. Obwohl man nun die Oberflächenstruktur kennt und auch eine Menge Wissen aus anderen Experimenten vorliegt, ist der Grund, warum sich diese und keine andere Struktur ausausbildet, noch immer nicht bekannt.

Ein anderer Kristall, dessen Oberflächenstruktur man jetzt besser versteht, ist der Goldkristall. Wenn wir den Kristall in Richtung der Kristallebenen schneiden, ist die Oberfläche flach ; bei einem Schnitt schräg zu den Ebenen zeigt sich dagegen eine rauhere Oberfläche. Ähnlich wie man aus der Untersuchung der Erdkruste lernt, wie sie sich vor Millionen von Jahren geformt hat, haben wir aus den Untersuchungen dieser Oberflächen ihren Bildungsprozeß kennengelernt. Neue Theorien bestätigen inzwischen, daß die schräg geschnittene Goldoberfläche eine zackige Struktur hat, weil eine derartige Struktur eine niedrigere Energie hat und damit stabiler ist als eine glatte Oberfläche.

Das Raster-Tunnelmikroskop hat ferner einem eher exotischen Zweig der Physik genützt: der Erforschung der Supraleitung. Kennzeichen eines supraleitenden Materials ist das Fehlen eines elektrischen Widerstandes. Würden Supraleiter als Kabel verwendet, die keinerlei Energieverluste zeigen, könnte man sehr viel Energie sparen.

Der ElementarteilchenBeschleuniger am Fermilab in den USA verwendet beispielsweise supraleitende Magnete, die zugleich hohe Magnetfelder erzeugen und Energie sparen. Es gibt jedoch eine Schwierigkeit: Supraleitfähigkeit kommt nach heutigem Kenntnisstand nur in einigen besonderen Leitern vor, die man unter eine kritische Temperatur von einigen Grad über dem absoluten Nullpunkt (-273 Grad Celsius) gekühlt hat.

Eine Wissenschaftler-Gruppe an der Stanford-Universität in den USA um Calvin F. Quate hat ein Raster-Tunnelmikroskop entwickelt, das bei tiefen Temperaturen arbeitet. Die Wissenschaftler gebrauchten zunächst ihr Mikroskop, um die Elektronenstruktur einiger Leiter bei Raumtemperatur aufzuzeichnen. Dann kühlten sie die Leiter unter ihre jeweilige kritische Temperatur ab und zeichneten die Änderungen in der Elektronenstruktur auf. Die Gruppe kann inzwischen das Wachstum von supraleitenden Gebieten auf der Oberfläche verfolgen. Das Raster-Tunnelmikroskop hat auch ein neues Verständnis bestimmter chemischer Wechselwirkungen ermöglicht. Unsere Gruppe beispielsweise hat die Adsorption von Sauerstoff auf Nickel auf atomarer Stufe beobachtet. Diese Untersuchungen bestätigen die Resultate früherer Beugungsexperimente.

Die Abstände der Sauerstoff-Atome, die an die Nickel-Oberflächenatome gebunden sind, ändern sich mit der Richtung. So entspricht der Abstand von Sauerstoff-Atomen, die in der als [001] bezeichneten Richtung liegen, dem einfachen Gitterabstand beziehungsweise dem Abstand zweier nebeneinanderliegenden Nickel-Atome. Sauerstoff-Atome, die in der als [110] bezeichneten Richtung liegen, sind demgegenüber um zwei oder fünf, aber nie um einen, drei oder vier Gitterabstände voneinander getrennt.

Wir haben den Verdacht, daß eine Art Abschirmeffekt zwischen den elektrischen Ladungen der Sauerstoff- und Nickel-Atome für diese Anomalie verantwortlich ist. Weitere Untersuchungen sind erforderlich, um die tatsächlichen Einzelheiten dieses physikalischen Effektes zu verstehen.

Alle Anwendungen, die wir bis jetzt diskutiert haben, hingen von der Fähigkeit des Mikroskops ab, Strukturen aufzulösen, die in Bruchteilen von Ängström gemessen werden. Eine derart hohe Auflösung ist nicht immer nötig. Wir erwarten, daß das Raster-Tunnelmikroskop auch in Fällen, wo die Auflösung nicht besser als einige zehntel Ängström ist, neuartige Informationen liefern und bedeutende Fortschritte anregen wird. Die Möglichkeit, mit dem Raster-Tunnelmikroskop in Luft bei gewöhnlichen Drucken zu arbeiten, wird den Anwender in vielen Fällen für den Verlust an Auflösung entschädigen.

Eine solche Anwendung ist beispielsweise die Untersuchung der Reibung. Um Reibungsverluste zu verkleinern, bemühen sich Forscher, mehr über die Struktur und die Ursachen der Oberflächen-Rauhigkeit von industriellen Materialien zu lernen. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, daß das Raster-Tunnelmikroskop für diese Aufgabe sehr geeignet ist.

Anwendungen in der Biologie

Unser Mikroskop hat sich auch in der Biologie als nützlich erwiesen, obwohl es hier derzeit erst 10 Ängström lateral auflösen kann. Seine Fähigkeiten, biologische Proben zu untersuchen, ohne sie zu zerstören, entschädigt den Wissenschaftler jedoch mehr als genug für die schlechte Auflösung.

Andere Mikroskope zerstören demgegenüber auf die eine oder andere Weise Teile der Probe, auf die man sie fokussiert hat: In der üblichen Elektronenmikroskopie beispielsweise muß man die Proben mit einem dünnen Metallfilm überziehen ; da man sie im Vakuum untersuchen muß, trocknen sie aus. Dies kann die Proben auf unkontrollierte und unerwünschte Weise verändern, weil Wasser-Moleküle ein wichtiger Bestandteil biologischer Substanzen sind.

Beim Raster-Tunnelmikroskop hingegen kann man Wasser als Isolator zwischen Spitze und Probe verwenden. (Wasser ist ein relativ schlechter Leiter — sofern es keine Ionen enthält, die zum Beispiel durch Lösen von Kochsalz entstehen.)

Wir haben ferner die hohe Empfindlichkeit des Raster-Tunnelmikroskops ausgenützt, um — zusammen mit E. Courtens vom IBM-Forschungslabor in Zürich sowie H. Gross und J. Sogo von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich — die Oberfläche der Nukleinsäure DNA abzurastern. Dabei haben wir eine Folge von Zick-Zacks in Übereinstimmung mit der Helixstruktur der DNA beobachtet.

In Zusammenarbeit mit Arturo Barö, Nicolas Garcia und Rodolfo Miranda von der Unabhängigen Universität in Madrid sowie Jos6 L. Carascosa von IBM Spanien haben wir herausgefunden, daß der Kopf des Virus Phi 29 400 x 300 x 200 Ängström mißt. Die Struktur zwischen Kopf und Schwanz des Virus, der sogenannte Kragen, der eine wichtige Rolle beim Ablauf einer Infektion spielt, wurde enträtselt. Unsere Resultate stimmen mit den Ergebnissen bildverarbeitender Elektronenmikroskopie überein.

Außer Bilder aufzunehmen wird man mit der Spitze der Sonde auch elektronische Schaltkreise überprüfen können. Da die Komponenten solcher Schaltkreise immer kleiner werden, muß man auch die Sonden ständig verkleinern. Die Spitze wird dann nicht nur als örtliche Spannungssonde, sondern auch als Stromquelle dienen.

Bei allen bisher diskutierten Anwendungen war es wichtig, daß durch den Vorgang des Abbildens die Oberfläche nicht verändert oder sogar zerstört wird. Vielversprechend scheint es aber auch, das Raster-Tunnelmikroskop als Werkzeug zur Auslösung chemischer Reaktionen einzusetzen: Eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften ist sein stark fokussierter niederenergetischer Elektronenstrahl, der Tunnelstrom. Die Energien dieses Strahls liegen im Bereich chemischer Reaktionen; die Wissenschaftler können daher ganz spezielle Reaktionen auslösen, indem sie den Strahl auf eine bestimmte Energie einstellen. Ein solcher Einsatz des Raster-Tunnelmikroskops und all seine anderen Anwendungen scheinen in großem Umfang neue Möglichkeiten der Forschung zu eröffnen.

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