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Das Rechnen mit unscharfen Mengen


„WENN der Krankopf dem Ziel nahe ist UND die Last geringfügig vorauseilt, DANN fahre den Kran langsam vorwärts.“ Wie setzt man ein Ensemble solcher Re-geln nach den Prinzipien der Fuzzy Logic in eine Steuerung für den Kranmotor um?

Meßfühler für die Position des Krankopfes und die Auslenkung der Last liefern gewisse numerische Werte. Nehmen wir an, für diese Werte treffe die Bedingung „Krankopf dem Ziel nahe“ nicht ganz, aber immerhin zu 80 Prozent zu. In der Theorie der unscharfen Mengen formuliert: „Die gegenwärtige Position gehört mit einem Grad von 0,8 zur Menge der nahen Positionen.“ Entsprechend sei die Bedingung „Last eilt geringfügig voraus“ vielleicht zu 40 Prozent erfüllt. In welchem Ausmaß ist dann die zusammengesetzte Bedingung „Krankopf dem Ziel nahe UND Last eilt geringfügig voraus“ erfüllt?

Von der Antwort auf diese Frage hängt es ab, welches Gewicht das regelnde System der Anweisung „langsam voraus“ beimißt, die im DANN-Teil obiger Regel steht. Das System berechnet immer wieder aus den aktuellen Meßwerten solche Gewichte für alle in der Regelbasis vorhandenen Anweisungen und bestimmt daraus in einer Art Mittelung das, was es am Ende tatsächlich tun wird.

Im Endeffekt berechnet das System also – wie jeder Regler – aus gewissen Eingangsgrößen (hier Position und Lastwinkel) eine oder mehrere Ausgangsgrößen (hier die Motorleistung). Der Unterschied zu einem konventionellen Regler besteht nicht so sehr in der zu erfüllenden Aufgabe, sondern wesentlich im Entwurfsverfahren: Es genügt, das Verhalten des Geräts für ein Sortiment markanter Beispielsituationen vorzuschreiben.

Was ist in Fällen zu tun, die zwischen diesen Beispielen liegen? Diese Interpolationsaufgabe löst die Fuzzy Logic nahezu automatisch, indem sie auf bewährte menschliche Denkmuster zurückgreift. Da-zu gehört die Erfahrung, daß abrupte Ver-haltensänderungen bei geringfügiger Änderung der Lage in aller Regel nicht sinn-voll sind. Entsprechend ist der Regler so programmiert, als ändere er seine Auffas-sung über die Situation nicht ruckartig (etwa indem er eine Entfernung von höch-stens 30 Zentimeter zum Ziel „nah“ nennt und keine andere), sondern allmählich.

Wie diese Interpolation im einzelnen ausgeführt wird, hängt nicht nur von der Definition der unscharfen Mengen selbst ab, sondern auch von den Regeln zu ihrer Verknüpfung. In der klassischen Mengenlehre heißt die Menge aller Elemente, die sowohl zu einer Menge A (etwa derjenigen der nahen Positionen) als auch zu einer Menge B (der geringfügig positiven Lastwinkel) gehören, der Durchschnitt von A und B. Wie ist diese Definition zu erweitern? Da jede unscharfe Menge durch ihre Zugehörigkeitsfunktion bestimmt ist, nimmt die Frage „In welchem Ausmaß ist der WENN-Teil der obigen Bedingung erfüllt?“ folgende Form an: Ein Gegenstand (oder auch eine Situation) gehöre mit einem Grad von a zur Menge A, mit einem Grad b zur Menge B; mit welchem Grad t(a,b) gehört er zum Durchschnitt A«B? Analoge Fragen stellen sich für die mengentheoretische Vereinigung, der in der Logik das (nicht-ausschließende) ODER entspricht.

Lotfi A. Zadeh gab für den Durchschnitt unscharfer Mengen die Definition t(a,b)=min(a,b) an: Ein Gegenstand gehört zum Durchschnitt höchstens in dem Ausmaß, in dem er zu jeder der beiden Mengen gehört. Entsprechend erklärte Zadeh die Vereinigung unscharfer Mengen über das Maximum der Zugehörigkeitsgrade: s(a,b)=max(a,b).

Diese Definitionen sind plausibel, aber nicht die einzig denkbaren. Solange a kleiner ist als b, hängt das Verhalten eines Reglers, der mit der Minimumsdefinition arbeitet, überhaupt nicht vom genauen Wert von a ab. Der Regler verwirft also in manchen Fällen verfügbare Information, was unzweckmäßig sein kann. Man wird andererseits erwarten, daß die unscharfe Logik die klassische in einer sinnvollen Weise erweitert; insbesondere sollen ihre Ergebnisse gleich den klassischen sein, wenn eine Zugehörigkeitsfunktion die Extremwerte 0 (keine Zugehörigkeit) oder 1 (volle Zugehörigkeit) annimmt. Daher wird man an eine Funktion t, die zur Definition des Durchschnitts dient, folgende Forderungen stellen:

– t(0,b)=t(a,0)=0: Gehört ein Element zu einer der Mengen überhaupt nicht, dann auch nicht zum Durchschnitt.

– t(a,1)=a, t(1,b)=b: Gehört ein Ele-ment uneingeschränkt zu einer der Mengen, so bestimmt die Zugehörigkeit zur anderen Menge, inwieweit es dem Durchschnitt angehört.

– t(a,b)*t(c,d), wenn a*b und c*d: Wenn ein Gegenstand einer Menge in höherem Ausmaß angehört als zuvor und sich sonst nichts ändert, dann soll er auch dem Durchschnitt in höherem oder zumindest nicht in geringerem Ausmaß angehören (Monotonie).

– t(a,b)=t(b,a): Es kommt nicht auf die Reihenfolge an, in der man die Mengen nennt (Kommutativität).

– t(a,t(b,c))=t(t(a,b),c) oder (äquivalent) A«(B«C)=(A«B)«C: Es ist einerlei, in welcher Reihenfolge man jeweils zwei Mengen zusammenfaßt, um über mehrere unscharfe Mengen den Durchschnitt zu bilden (Assoziativität).

Eine Funktion t, die diese Bedingungen erfüllt, heißt t-Norm. Beispiele sind das obengenannte Minimum, das Produkt t(a,b)=ab und kompliziertere Funktionen für besondere Zwecke wie das Hamacher-Produkt t(a,b)=ab/(a+b–ab).

Zur Definition der unscharfen Vereinigung gibt es ein ähnliches Sortiment von Bedingungen. Funktionen s, die diese erfüllen, heißen s-Normen oder t-Conormen. So wie nach den deMorganschen Regeln der klassischen Logik UND und ODER über die Verneinung verknüpft sind („nicht (A ODER B)“ ist gleichbedeutend mit „nicht A UND nicht B“), kann man durch Bildung des mengentheoretischen Komplements aus jeder t-Norm eine t-Conorm machen und umgekehrt.

Manchmal ist eine weitere Verknüpfung unscharfer Mengen von Interesse. Die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes „und“ ist nicht nur, wie üblich, unscharf, sondern auch deutlich verschieden von seiner Bedeutung in der klassischen Logik. Wenn der unscharfe Begriff „Dampfkessel explosionsgefährdet“ definiert wird durch „Temperatur hoch UND Druck hoch“, dann ist implizit gemeint, daß etwas mehr Druck den Effekt von etwas weniger Temperatur aufwiegen kann und umgekehrt. Das „und“ in dieser Verwendung ist ein Mittelding zwischen dem logischen UND und dem logischen ODER. In der Fuzzy Logic kann man diese Verknüpfung durch sogenannte mittelnde Operatoren repräsentieren. Ein Beispiel ist das von Hans-Jürgen Zimmermann eingeführte kompensierende UND:



t(a,b)=(ab)1–g (1–(1–a)(1–b))g



Für g=0 ist dieser Operator gleich einer Darstellung des Durchschnitts, nämlich der t-Norm ab, für g=1 gleich der kom-plementären s-Norm, also einer Darstellung der Vereinigung. Zwischenwerte von g interpolieren zwischen UND und ODER, so daß man den Operator darauf anpassen kann, wie das umgangssprachliche „und“ im jeweiligen Kontext gemeint ist.

Welche der vielen denkbaren Rechenregeln für unscharfe Mengen soll man nun einem Regler einprogrammieren? Dafür spielt nicht nur die Übereinstimmung mit mathematischen Prinzipien und der umgangssprachlichen Bedeutung eine Rolle, sondern auch die schnelle Berechenbarkeit. Der Regler muß jede Regel aus dem Sortiment auswerten, um zu einer Anweisung an die Stellglieder zu kommen, und das möglichst schnell, weil er sonst den Ereignissen hinterherzuhinken droht.

Die Ergebnisse aller Auswertungen fließen zusammen in einer unscharfen Anweisung etwa der Form „Fahre mit einer Geschwindigkeit von 2 Meter pro Sekunde in einem Ausmaß von 0,3 oder 3 Meter pro Sekunde in einem Ausmaß von 0,7“ und so weiter. Da der Kranmotor damit nichts anfangen kann, muß die Anweisung scharf gemacht (defuzzyfiziert) werden. Dazu kann man – in Gedanken – die Zugehörigkeitsfunktion der unscharfen Anweisung über der Geschwindigkeit auftragen und schließlich die Geschwindigkeit so wählen, daß beiderseits des gewählten Punktes gleiche Flächen unter dem Graphen der Funktion liegen (Methode des Flächenschwerpunkts). (C.P.)


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 95
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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