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Das totale Chaos

In manchen physikalisch durchaus denkbaren Systemen bleibt nicht der geringste Rest von Vorhersagbarkeit.

Unerläßliche Voraussetzung für Chaos – im heute üblichen Sinne des Wortes – ist die empfindliche Abhängigkeit eines Systems von kleinen Änderungen in den Anfangsbedingungen. Früher oder später gerät ein solches System in eine Situation, die einer Gratwanderung gleicht, bei der man durch den kleinsten Fehltritt zur einen oder anderen Seite stürzt.

Diese Instabilität allein macht allerdings noch kein Chaos aus. Man stelle sich beispielsweise vor, das System bestehe aus einer Kugel (genauer: einem Massenpunkt), die zunächst einen Hang hinab- und dann auf einen Grat zurollt. Die Anfangsbedingung – das heißt die Stelle, wo man die Kugel losläßt – bestimmt ihr endgültiges Schicksal: Ein beliebig kleiner Unterschied in dieser Position entscheidet darüber, welcher Abgrund – im Fachjargon: Attraktor – sie zu sich hin zieht.

Ein geduldiger Experimentator könnte das Spiel für sehr viele Anfangspositionen wiederholen und jeden dieser Punkte je nach dem Endzustand der Kugel etwa rot oder grün einfärben. In aller Regel werden sich zwei einheitlich gefärbte Gebiete ergeben, und die empfindliche Abhängigkeit von den Anfangsdaten gilt nur entlang der Grenzlinie, die in diesem Beispiel noch nicht einmal besonders interessant geformt ist. An allen anderen Punkten des Hangs ändert eine kleine Abweichung nichts Wesentliches am Systemverhalten.

Für kompliziertere Systeme kann die Grenze zwischen den Einflußbereichen verschiedener Attraktoren allerdings ei-ne sehr unübersichtliche – insbesondere fraktale – Gestalt annehmen. Das ist charakteristisch für Systeme, deren Zustand nur zu diskreten Zeitpunkten überhaupt definiert ist und deren Zeitentwicklung durch eine sogenannte Iterationsfunkti-on beschrieben wird. Hingegen haben Systeme wie die Kugel im Gebirge zu jedem reellen Zeitpunkt einen Zustand, und ihr Verhalten wird durch Differentialgleichungen bestimmt.

Obgleich solche kontinuierlichen Systeme sich in der Tendenz disziplinierter verhalten als diskrete mit der gleichen Anzahl an Freiheitsgraden, können auch sie unendlichfach zerteilte Attraktionsgebiete und fraktale Grenzlinien zwischen ihnen hervorbringen. Es genügt, wenn das System nicht nur einmal, sondern beliebig oft an eine Art Scheideweg gerät.

Ein wohlerforschtes Beispiel dafür ist das eiserne Pendel über drei Magneten (vergleiche Bild 1 von "Experimente zum Chaos" von Hans-Christoph Schulz und Sascha Hilgenfeldt, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1994, Seite 73). Immer wieder gerät die pendelnde Kugel in die Nähe der Mittelsenkrechten zwischen zwei Magneten – dorthin, wo deren Anziehungskräfte sich gerade die Waage halten. Eine winzige Abweichung läßt den Einfluß des einen oder des anderen Magneten überwiegen, was gänzlich verschiedenen Bahnen und möglicherweise auch Endzuständen entspricht.

Bei diesem System hält sich das Chaos noch in Grenzen. Ausgedehnte Bereiche sind unangefochtene Domäne jeweils eines Magneten; und selbst da, wo kleine Unterschiede große Folgen haben, zeigt eine hinreichend starke Vergrößerung, daß sich stets eine Schranke fin-det mit der Eigenschaft, daß eine Abweichung unterhalb dieser Größe keine großen Folgen hat. Gleichwohl verdient das System den Namen chaotisch, weil man sich auf beliebig kleine Schranken einlassen müßte – weit kleiner, als jeder physikalisch erreichbaren Genauigkeit entspricht.

Die Neuigkeit ist, daß selbst dieser kümmerliche Rest an Vorhersagbarkeit nicht immer existieren muß. Die Physiker John C. Sommerer vom Laboratorium für Angewandte Physik der Johns-Hopkins-Universität in Laurel (Maryland) und Edward Ott vom Institut für Physik und Elektrotechnik der Universität von Maryland in College Park haben durch Computersimulation ein Gegenbeispiel gefunden ("Nature", Band 365, Seite 138).

Es handelt sich um das Modell eines Massenpunktes in einer Talmulde, die durch mäßig hohe Barrieren von zwei Abgründen getrennt ist (Bild 1). Auf die Bewegung des Massenpunktes wirken die Trägheit, die Schwerkraft, eine gewisse Reibung sowie eine periodische äußere Kraft: Man kann sich einen langen magnetischen Stab parallel zur y-Richtung vorstellen, der vor- und zurückschwingt und dadurch den Massenpunkt abwechselnd in Richtung positiver und negativer x-Werte zieht.

Anscheinend beruht der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Magnetpendel-Systemen darauf, daß dem letzteren durch die äußere Kraft fortwährend Energie zugeführt wird. Das gleicht die Reibungsverluste aus und verhindert so, daß das System auf die Dauer zur Ruhe kommt. Im Gegensatz zu dem Pendel über den drei Magneten ist die Anzahl der möglichen Scheidewegsituationen nicht nur beliebig groß (aber durch die verfügbare Energie begrenzt), sondern unendlich.

Dieser kleine Unterschied ändert die Situation radikal, was die Wirkung kleiner Abweichungen angeht. Eine Schranke, unterhalb derer ein Fehler harmlos wäre, müßte nicht nur beliebig klein sein – sie existiert gar nicht. Damit gibt es keine Attraktionsgebiete im herkömmlichen Sinne mehr. Punkte, die zum einen oder zum anderen Abgrund gehören, sind wild miteinander vermischt wie rationale und irrationale Zahlen auf der reellen Achse: So wie es aussieht – ein mathematischer Beweis steht noch aus –, findet sich in beliebiger Nähe eines Punktes der einen Sorte einer der anderen (Bild 2).

Die Chaos-Theoretiker suchen gerne nach Ordnung im allgemeinen Durcheinander. Wenn schon ein stabiler Endzustand nicht existiert, möchte man wenigstens qualitative Aussagen über das Systemverhalten treffen können. Zum Beispiel interessiert, ob es einen Attraktor gibt, der zwar vielleicht wild geformt ist, aber alle Punkte in seiner näheren Umgebung an sich zieht. Doch auch das ist bei dem System von Sommerer und Ott nicht mehr der Fall: Die Attraktoren sind rätselhaft durchlöchert oder, englisch ausgedrückt, riddled (riddle heißt sowohl Rätsel als auch Sieb; riddled with bullets ist stehende Redewendung für den Zustand der Leichen nach einer wilden Schießerei).

Für diskrete Systeme war ein derartiges Phänomen schon länger bekannt ("Science News", Band 142, Seite 329, 14. November 1992). Daß es auch bei kontinuierlichen auftritt, hat die Fachleute denn doch überrascht, vor allem, weil Sommerer und Ott nach ihrem System nicht allzu lange suchen mußten. Demnach wäre totales Chaos auch für kontinuierliche Systeme vielleicht nicht gerade die Regel, aber doch etwas völlig Normales.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1994, Seite 29
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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